Reizblase - Enurophobie

Unkontrollierbarer Harndrang:
Die "Reizblase"

Eine Übersicht über das Syndrom und Behandlungsansätze

Inhalt:  Einführung • Symptome • Diagnose • Ursachen • Behandlungsmöglichkeiten • Prognose • Literatur

Begriffs-Cloud (ähnliche Begriffe und Störungsbilder): überaktive Blase, „nervöse Blase“, Urinierzwang, unwillkürlicher Harnverlust, Urethralsyndrom, Inkontinenz, Inkontinenz-Angst, Dranginkontinenz, Enurophobie (Angst vor unfreiwilligem Urinieren), Urophobie (Angst vor Urin), Enuresis nocturna (nächtliches Einnässen), Pollakisurie (häufiger Harndrang), Nykturie (nächtlicher Harndrang)

Ein Fallbericht: Peter (54) plagt sich schon seit Jahren damit, hat aber erst jetzt Kontakt mit mir aufgenommen, da die Beschwerden unerträglich wurden und seine Freiheit bereits stark einschränken: Peter leidet daran, in ungünstigen Situationen plötzlich starken Harndrang zu entwickeln, wobei es ihm dann kaum gelingt, den Gang zur nächsten Toilette aufzuschieben. Mitunter führt dies zu schwierigen Situationen: etwa in Supermärkten, während längerer Besprechungen in der Arbeit oder während Fahrten mit dem Auto oder Zug. Peter beginnt sich bereits Sorgen angesichts einer bevorstehenden Flugreise zu machen: würde sein starker Harndrang während der Phasen, in denen man den Sitzplatz nicht verlassen darf, zu unerträglichen Situationen führen? Er erzählt, dass es ihm vereinzelt bereits tatsächlich passiert sei, dass zumindest ein Teil der „Ladung“ sich entlud, bevor er kontrolliert den Harn lösen konnte.

Erzählungen wie jene Peter's sind mir während meiner langjährigen Tätigkeit alles andere als fremd, vermutlich auch deshalb, da mich bereits viele Männer (mitunter auch Frauen) aufgesucht haben, die an ähnlichen Problemen leiden. Nicht selten haben sie bereits 2-3 Facharzt-Besuche wie beim Urologen sowie ggf. auch weitere Untersuchungen, Selbstbehandlungs- und Therapieanläufe hinter sich, wenn sie sich bei mir meldeten: doch nichts konnte so richtig, und vor allem dauerhaft, helfen. Das illustrieren auch Suchen über „Dr. Google“: die überwiegend meisten fachlichen Websites geben an, dass die Ursachen des Problems nicht wirklich geklärt sind, und rein körperliche Behandlungsansätze sich häufig schwierig gestalten. Dies hat damit zu tun, dass diese Behandlungsansätze die psychischen Aspekte der Problematik nicht ausreichend einbeziehen.

Dazu an späterer Stelle mehr.

Fakt ist, dass ungewöhnlich häufiger Harndrang (Pollakisurie), auch „nervöse Blase“ oder akuter Urinier-Druck genannt, in Verbindung mit der Angst, sich nicht rechtzeitig entleeren zu können (Enurophobie), für die Betroffenen sehr belastend ist. Nicht selten beschäftigt sie das Thema intensivst und schränkt ihr Leben ein, etwa wenn sie sich nicht mehr zutrauen, Ausflügen, Reisen oder sozialen Aktivitäten nachzugehen, sofern sie sich nicht sicher sein können, dann genügend Möglichkeiten zu haben, sich bei Bedarf zu entleeren. Im Laufe meiner Tätigkeit habe ich schon mehrere KlientInnen kennengelernt, die schon seit Jahren aus diesem Grund keine Flugreisen mehr unternehmen konnten, oder für die jede längere Autofahrt zu einer „Hölle“ wurde, sodass sich ihr Aktivitätsradius dramatisch verkleinert hatte. Es kann ein sogenannter Angstkreislauf entstehen: man verspürt Angst vor großem Harndrang in ungünstigen Situationen, ist dort dann zusätzlich angespannt, was wiederum die Aufmerksamkeit stark auf die Blase und den Urinierreiz lenkt, welcher sodann noch früher spürbar wird als in entspannten Situationen. Dies erhöht das Stressgefühl enorm, und bei einer nächsten, vergleichbaren Situation wird man noch angespannter sein, ja die Situation vielleicht sogar nach Möglichkeit vermeiden.

Wie gehen Menschen mit dieser Belastung um? Nun, leider ist das Problem stark schambesetzt, vor allem dann, wenn es bereits zu unwillkürlichem Ablassen kleinerer oder größerer Mengen von Harn (sog. Dranginkontinenz, also „in die Hose pinkeln“) kam oder es aufgrund des Kontrollverlustes sogar dazu kam, dass sich auch etwas Stuhl in die Unterwäsche entleerte. Derartiges ist vielen Menschen naturgemäß äußerst peinlich, und man schiebt es lange vor sich her, sich professionelle Unterstützung zu suchen. Häufig glauben Männer und Frauen mittleren Alters auch, dass ihre Beschwerden wohl normale Alterserscheinungen seien, und haben geringe Erwartungen, dass sich etwas daran ändern ließe - was ihre Hemmung, einen Arzt (oder Psychotherapeuten bei psychosomatischer Hypothese) aufzusuchen, zusätzlich verstärkt. So können wertvolle Jahre vergehen, in denen die Betroffenen belastet, gestresst und eingeschränkt leben, obwohl tatsächlich Hilfe möglich wäre.

Symptome

Normalerweise kann die Harnblase bis zu ½ Liter Urin fassen, der Harnreiz meldet sich aber i.d.R. schon bei ca. 300ml, also etwa einem Drittel davon – dies ist bei durchschnittlichem Flüssigkeitskonsum meist 2-3 Stunden nach dem letzten Toilettenbesuch der Fall. Zunächst ist der Reiz zu diesem Zeitpunkt noch leicht und wird im Alltag häufig wieder „vergessen“, bis er dann nach weiteren 1-2 Stunden intensiver wird und einen Toilettengang erfordert.

Reizblase Urinierdrang PinkelzwangSignifikant für das Reizblasen-Syndrom sind im Unterschied zum oben beschriebenen vor allem die häufig sehr spontanen und plötzlichen Impulse, „unbedingt, möglichst rasch“ eine Toilette aufzusuchen. Diese können sogar dann auftreten, wenn man erst vor 1 Stunde oder weniger zuletzt eine Toilette aufgesucht hat. Mitunter besteht auch während der Nacht verstärkter Harndrang (während die meisten Menschen problemlos die durchschnittliche Schlafdauer von 6-8 Stunden durchschlafen können), was als Nykturie bezeichnet wird. Meist wird dadurch der natürliche Schlafrhythmus gestört und die Betroffenen fühlen sich energetisch unterversorgt, ständig leicht müde oder nach einer solchen Nacht mit 3+ WC-Gängen „gerädert“. Manchmal verspüren Reizblase-Betroffene Schmerzen gegen Ende des Wasserlassens.

Wie bereits erwähnt, dehnt sich bei einigen Betroffenen das Problem vom gefühlt unkontrollierbaren Harndrang auch auf den Stuhlgang aus: zusätzlich zum Harndrang entsteht dann auch ein starkes Bedürfnis nach einem „großen Geschäft“ (Stuhlentleerung) und auch hier starke Angst, es könnte „etwas in die Hose gehen“, wenn man es nicht rechtzeitig auf die Toilette schafft. Diese Symptomatik kann jedoch auch isoliert (also ohne damit verbundenen Harndrang) auftreten.

Diagnose

Die meisten Betroffenen suchen zunächst Mediziner auf – bis heute ist es den meisten Menschen vergleichsweise „angenehmer“, an einem körperlichen als einem psychischen Problem zu leiden (obwohl ersteres weitaus folgenschwerer und aufwändiger zu behandeln sein kann, als es psychische Beschwerden gemeinhin sind). Einem ersten Arztgespräch folgt meist eine direkt oder bei einem Facharzt vorgenommene körperliche Untersuchung des Urogenitaltrakts, wie eine Ultraschalluntersuchung, bei Frauen häufig auch eine Feststellung des Östrogengehalts im Blut. Hierbei soll zum einen die Funktion der betreffenden Organe überprüft und zum anderen spezifische Erkrankungen wie z.B. Blasensteine oder Prostataveränderungen ausgeschlossen werden.

Diagnostische Abgrenzung

Nicht zu verwechseln ist das hier beschriebene Syndrom Enurophobie (im internationalen Diagnoseschema ICD-10 als F40.2 kodiert) mit folgenden:

  • Blasenentzündung (bei dieser entsteht während des Wasserlassens üblicherweise ein starkes Gefühl des Brennens in der Harnröhre u/o der Blase)
  • Reizung durch Tumore oder Blasensteine (meist ebenfalls sehr schmerzhaft, mitunter auffällige Irritation des Harnstrahls)
  • Prostata-bedingte Beschwerden
  • Pollakisurie: als diese wird häufiges Wasserlassen in kleinen Mengen bezeichnet, wobei die ausgeschiedene Gesamtmenge des Urins nicht erhöht ist. Die Pollakisurie ist ein häufiges Symptom von Erkrankungen des Harntraktes, ist aber meist nicht ein Begleitsymptom der hier beschriebenen Reizblase
  • Beckenschmerzsyndrom / Anhaltender Beckenschmerz (CPPS bzw. Chronic Painful Pelvis Syndrome) – dieses Syndrom ist ein eigenständiges, das aber mitunter in Kombination mit dem Reizblasen-Syndrom auftritt. Das Syndrom wird meist von massiven Verspannungen im Beckenboden ausgelöst, die psychisch verursacht sind. Der erfolgreichste Therapieansatz ist heute eine Kombination individuell abgestimmter Dehnungs- und Entspannungsübungen sowie Psychotherapie.
  • Inkontinenz: Inkontinenz ist ein eigenständiges, i.d.R. durch andere Faktoren wie Senkung der Blase, der Scheidenregion, der Gebärmutter, einer Vergrößerung der Prostata oder einer Schwächung des Beckenbodens verursachtes Problem.
  • Sonderform terminale Dysurie: Die Betroffenen haben auch Schmerzen gegen Ende des Wasserlassens, weil sich die Blase beim Entleeren schmerzhaft verkrampft
  • Nachträufeln: Urin tropft noch kurz nach dem Wasserlassen nach. Hier wäre eine medizinische Abklärung in jedem Fall anzuraten, da dies auch andere Ursachen als eine Reizblase haben kann.

Die Reizblase gilt für die meisten Ärzte als Ausschlussdiagnose. Wenn sie keine körperlichen Ursachen für die Beschwerden finden, attestieren sie eine Reizblase und damit eine psychosomatische Erkrankung.

Ursachen

Wie eingangs beschrieben, sind die möglichen Ursachen aus rein medizinischer Sicht häufig unklar. In einzelnen Fällen kann die Ursache bei weiblichen Betroffenen klar als Folge von Schwangerschaft oder Geburt von Kindern oder Östrogen-Mangel identifiziert werden. Bei Männern werden mitunter Prostata-bezogene Ursachen vermutet, doch diese führen i.d.R. zu generellen Problemen mit der Harnregulierung, nicht zu so punktuellen wie die intensiven und regelrecht zwanghaften Impulse, um die es hier im Artikel geht. Werden in keinen dieser Bereiche Auslöser gefunden, vermuten Ärzte häufig eine „fehlerhafte Weiterleitung von Impulsen der Nerven, die an Kontrolle der Blasenfüllung beteiligt sind“.
Psychische Ursachen benennen als Möglichkeit meiner Beobachtung nach meist nur solche Ärzte, die interdisziplinär denken und über einschlägige Fortbildungen oder Spezialisierungen verfügen, oder die bei ihren PatientInnen bereits alle medizinischen Möglichkeiten ausgereizt haben.

Behandlungsmöglichkeiten

Mitunter sprechen Behandlungsansätze der Reizblase durch einfache Hausmittel, bewusstere Getränkezufuhr usw. sehr rasch und gut an. Sehr häufig aber gestalten sich rein medizinische Behandlungsansätze – wie zahlreiche Betroffene sicher bestätigen können – schwierig und langwierig. Meist ist jedoch eine gewisse Reduktion der Symptome möglich.
Klassische Behandlungsansätze sind Blasen- und/oder Beckenboden-Training, Biofeedback, Nervenstimulation, Medikamente und chirurgische Eingriffe, alternativmedizinisch kommen vor allem Homöopathie oder Hausmittel zum Einsatz.

Ich empfehle KlientInnen, bereits vor einer psychotherapeutischen Konsultation eine grundlegende ärztliche Untersuchung auf mögliche organische Ursachen zu absolvieren. Wurden dort keine körperlichen Ursachen gefunden, ist die Wahrscheinlichkeit, dass Psychotherapie Erfolg bringen kann, sehr hoch. Dann kann und sollte ein Psychotherapeut zur Entwicklung nachhaltiger, mentaler Lösungsansätze konsultiert werden.

Grundsätzliche Tipps und Empfehlungen:

  • auf gute Intimpflege achten – damit werden Harnwegs- und andere Infekte und in Folge eine zusätzliche Reizung der Beckenregion vermieden
  • vor dem Schlafengehen auf harntreibende Getränke (dazu gehört z.B. auch Alkohol), das Essen wasserhaltiger Früchte etc. verzichten.
  • achten Sie tagsüber aber dennoch auf ausreichende Wasserzufuhr – hält man aus Sorge vor dem Harndrang die Flüssigkeitsaufnahme zu gering, können weitaus erheblichere Gesundheitsbeschwerden die Folge sein. Das gilt insbesondere bei einem Alter von 50+ Jahren.
  • Blasentraining: Ausdehnen der Zeit zwischen den Toilettengängen bis zu 3-4 Stunden. Dabei kann Psychotherapie unterstützen.
  • Aufzeichnungen führen: wie viel wurde getrunken, wann und wie viel uriniert? Diese helfen sowohl dem Arzt als auch dem Therapeuten weiter. Empfehlenswerte Apps sind z.B. „Uroli“ oder „Mic Chart“ (beide am Iphone und Android verfügbar). Auf der Basis dieser regelmäßigen Aufzeichnungen lässt sich in Folge gut ein auf die individuelle Situation abgestimmtes Therapieprogramm entwickeln.
  • ebenfalls bewährt sind - einzeln oder kombiniert - Beckenbodentraining, Hypnose, Biofeedback und Elektrostimulation.
  • medikamentös: häufig werden sog. Anticholinergika oder Östrogene eingesetzt.
  • Naturheilmedizin: Homöopathische Präparate mit Nux vomica sollen mitunter helfen, wie auch gelber Jasmin (Gelsemium) mit seinen krampflösenden und entzündungshemmenden Eigenschaften, oder die Samen des Gartenkürbis (Cucurbita pepo) mit ganzen oder grob zerkleinerten Samen oder das betreffende Öl (siehe Link).
  • Chirurgische Eingriffe, Nervenstimulation etc.: sollten weder „praktische Tipps“, noch regelmäßige psychotherapeutische Behandlung helfen

Ach ja – wie geht es Peter heute?

Die Psychotherapie gestaltete sich am Beginn schwierig. Peter war sehr frustriert, dass sich nicht gleich Erfolge einstellten. Er hatte einen bereits langen, aufwändigen Weg hinter sich und bereits viele Konzepte ausprobiert – und dachte sich, wieder nicht das Richtige gefunden zu haben. Es gelang mir jedoch, ihn zu überzeugen, sich mehr Zeit zu geben und Geduld zu haben.
Der Durchbruch gelang dann sozusagen „über Nacht“: die aufreibenden, nahezu stündlichen WC-Gänge waren mit einem Male nur mehr deutlich seltener notwendig, und er begann, auch wieder längere Autofahrten zu unternehmen – etwas, das er früher nach Möglichkeit vermieden hatte. Peter’s eigenständig geführtes, therapiebegleitendes Protokoll zeigte nach ca. 3 Monaten, dass er die Abstände zwischen den „Pinkelgängen“ fast verdreifachen konnte, und was für ihn am schönsten war: er musste kaum mehr an das leidige "Pinkel"-Thema denken und fühlte sich auch in seiner Partnerschaft wieder unbelasteter und freier.
Einige Monate nach dem Therapie-Abschluss sendete er mir ein Foto von einem Urlaub in Australien: er konnte sich wieder auf Langstrecken-Flüge einlassen, eine Freiheit, von der er nicht mehr erwartet hätte, sie je wieder genießen zu können. Wir sehen einander nach wie vor alle 8-12 Monate zur „Nachkontrolle“, aber die Tendenz ist stabil und meist geht es nur mehr am Rande um das ihn früher so belastende Thema. Er kann stolz auf sich sein, den Weg durchgezogen zu haben!

Die "Reizblase" bzw. Enurophobie ist mit über einige Zeit hindurch diszipliniert durchgezogene psychotherapeutische Arbeit (ich setze ergänzend wie oben ausgeführt häufig einzelne hypnotische Techniken ein, sofern meine KlientInnen dies möchten) üblicherweise gut in den Griff zu bekommen. Tatsächlich sind meiner Erfahrung nach nur sehr selten begleitende medizinische Behandlungen erforderlich, es ist jedoch in jedem Fall sinnvoll, vorab zur Abklärung etwaiger physiologischer (Mit-)Ursachen einen Facharzt zu konsultieren.

Anhang: Literatur zum Thema, mit Leserrezensionen:


L. Kellner, "Zweitwohnsitz WC"
1.Auflage 2023, 170 Seiten, Broschiert, € 14,-; ISBN: 3000757511
Von einer Frau v.a. für Frauen geschrieben, bringt dieses Buch einige brauchbare Tipps, die Reizblase selbst in den Griff zu bekommen.

Richard L. Fellner, MSc., 1010 Wien

Richard L. Fellner, MSc., DSP

R.L.Fellner ist Psychotherapeut, Hypnotherapeut, Sexualtherapeut und Paartherapeut in Wien.

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