Marlena hat geschrieben: ↑So., 25.10.2020, 09:42
Das nennt man Ambivalenz. Ich kann positive und negative Gefühle gleichzeitig wahrnehmen.
Nicht ganz:
Wenn jemand Nähe nicht aushalten kann, dann ist damit nicht gemeint, dass er die Nähe so herstellen und fühlen kann, aber "nur" Angst vor dem Verlust hat; sondern damit ist gemeint, dass jemand diese Nähe gar nicht erst zulassen kann, z. B. weil er die Angst vor dem Verlust hat. Dem Gefühl, jemandem nahe zu sein, wird also eine "Schranke vorangestellt", die sich in destruktiven Verhaltensmustern äußert.
Die Frage wäre höchstens, ob du wirkliche Nähe überhaupt so fühlen kannst. Ich würde das - aber vielleicht sag ich da zu viel von mir - nach deinen Schilderungen eher bezweifeln. Ich könnte mir vorstellen, dass du nicht weißt, was "Nähe" eigentlich als Gefühl ist und dass du es verwechselst und dich daher in Begrifflichkeiten stürzt, die dein Therapeut dir vor die Füße wirft.
Wenn du Nähe fühltest, dann wäre auch die Verlustangst "milder", weil du weißt, dass "Nähe" nichts Bedrohliches ist, was der Andere einem wegnehmen kann oder die der Andere für seine Zwecke ausnutzen kann. "Nähe" zwischen zwei Menschen ist ein sehr "stilles" Gefühl, das den Moment meint und genießt, und in diesem Moment ist es egal, dass beide wissen: Es ist "nur" ein Moment. Es ist der Moment, der zählt. Und wenn jemand in der Therapie viele solcher Momente hatte, dann kann er daraus eine "Haltung" ableiten, die bedeutet, dass man keine (große) Angst mehr vor Beziehungen haben muss, eben weil man weiß: "Ich kann Nähe herstellen; ich kann sie genießen und jemandes Näheangebote annehmen; ich kann auch loslassen" - ohne Loslassenkönnen ist Nähe überhaupt gar nicht möglich!
In Bezug auf die Ambivalenz gilt es genau hinzusehen:
Eigentlich ist das nicht als "Ressource" gemeint, sondern als Problem: Der Betroffene weiß nicht sicher, wie sich die Beziehung zum Anderen gestaltet: "Ist er gut oder böse?". Dann ist das aber kein "gleichzeitiges Wahrnehmen von positiven und negativen Gefühlen", sondern ein abrupter Wechsel von heftigen Gefühlen (der das Gegenüber mindestens herausfordert, wenn nicht überfordert). Das Gleichzeitige ist eher "Ambiguitätstoleranz", also die Fähigkeit, anzuerkennen, dass es positive und negative Gefühle gibt - (und die gibt es immer, man muss sie nur sehen können und wollen) ohne dass das Bild deshalb instabil wird.
Was ich sagen will: Es ist vollkommen normal, Gutes und Schlechtes im Anderen und in sich zu sehen; das ist nicht die Störung. Die Störung ist, diese Wahrnehmungen nicht so verstehen zu können, dass das Bild über die Beziehung, den Anderen und sich selbst stabil bleibt. Es wäre also wünschenswert, wenn es so wäre, wie du das im Zitat benennst, aber das ist eher nicht mit "Ambivalenz" gemeint, die eher problematisch ist.