Das Böse in mir

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.
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flatter
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Das Böse in mir

Beitrag Sa., 24.12.2022, 06:28

Hallo, ich bin neu hier. Ich mache seit 4 Jahren eine Psychotherapie (eher analytisch aber im Sitzen ). Ich habe nie eine Diagnose gestellt bekommen, würde mich aber als depressiv bezeichnen.
Letzte Woche hat meine eigene Zensur versagt. Normalerweise überlege ich mir sehr genau, was ich sage und welche Konsequenz es hat. Dieses Mal haben wir darüber gesprochen, dass ich am liebsten die Menschen um mich niedermetzeln möchte (das Böse in mir). Mein Therapeut hat mich dann gefragt, was denn wäre, nachdem ich alle zerstört hätte und ich habe geantwortet, dass ich mich dann sicher fühlen würde, weil mich keiner mehr angreifen kann. Wir waren schon beinahe am Stundenende und ich hatte nicht mehr viel Zeit zum Überlegen und es ist mir einfach so raus gerutscht: es wäre kein Triumph und auch keine Sicherheit sondern die absolute Einsamkeit. Ich könnte mich dann auch gleich hinrichten und Sie könnten zusehen und dann darunter leiden!
Es war draussen, stand im Raum und ich habe mich so geschämt. Ich bin sonst eine sehr kontrollierte Person. Wieso passiert mir so etwas?

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lisbeth
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Beitrag Sa., 24.12.2022, 09:11

flatter hat geschrieben: Sa., 24.12.2022, 06:28 Wieso passiert mir so etwas?
Weil das total menschlich ist.
Und eigentlich hat es etwas Gutes, dass das so aus dir heraus gebrochen ist. In der Analyse soll es ja nicht um deine schön angemalte Außenfassade gehen, sondern um das Gerümpel, das sich im Innern angesammelt hat, oder?
Meine Empfehlung: Mach genau da weiter beim nächsten Mal, auch wenn es unglaublich schwer fällt. Sprich über die Gefühle, die dieser Ausbruch bei dir auslöst, die Scham, das Im-Boden-Versinken-Wollen. Genau da geht es lang.
Ich bin mir sicher, dass dein Analytiker damit umgehen kann, er ist sowas gewohnt, auch dass er zur Projektionsfläche für alle möglichen negativen Gefühle wird.
Und dein letzter Satz hat ja auch eine total wichtige Erkenntnis: Selbst wenn wir unsere Mitmenschen am liebsten niedermetzeln wollen - wir brauchen sie ja auch gleichzeitig, denn wir Menschen sind ja soziale Wesen und ein Leben ohne Verbindung zu anderen Menschen ist nicht das, was erstrebenswert ist...
Alles Gute für dich!
When hope is not pinned wriggling onto a shiny image or expectation, it sometimes floats forth and opens.
― Anne Lamott

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stern
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Beitrag Sa., 24.12.2022, 09:30

Ich würde sagen, der wesentlichere Unterschied ist nicht, ob man Aggressionen hat oder nicht, sondern ob bzw. wie man diese umsetzt bzw. ob man diese an anderen abreagieren muss (mangels anderer Handlungsalternativen). Gedanken sind frei und je mehr man sich dessen bewusst ist, umso besser. Bedenklicher wäre mMn eher die Freiheit davon. Gibt ja selbst Redewendungen, deren Umsetzung alles andere als "friedlich" wäre. Wie: Jemanden auf den Mond schießen wollen, whatever. Wenn man das gleich weg-zensieren würde, kann man evtl. auch nicht so reagieren, wie man reagieren würde. Kannst du ja das nächste Mal nochmals aufgreifen.
Liebe Grüße
stern 🌈💫
»Je größer der Haufen,
umso mehr Fliegen sitzen drauf
«

(alte Weisheit)

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_Leo_
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Beitrag Sa., 24.12.2022, 09:48

Ich glaube das fast jeder Mensch solche Gedanken kennt. Solang Du jetzt nicht Amok laufen oder wirklich jemandem was tun willst, würde ich das gar nicht überbewerten.
Und grade wenn Du sonst die passiv Depressive bist, dann zeigt es ja Bewegung, wenn Du plötzlich in die Wut fällst, denn die ist ja etwas Aktives. Du bist also nicht mehr so sehr in der hilflosen Position.
Damit kann man wunderbar in der Therapie arbeiten.

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Candykills
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Beitrag Sa., 24.12.2022, 10:04

Leo bringt das gut auf den Punkt mit dem Aktiv/Passiv.

In meinen Augen auch ein Zeichen dafür, dass sich in dir etwas bewegt, also ein positives Zeichen.

Bei mir kommt auch manchmal enorme Wut auf durch die Therapie und das fühlt sich für mich dann an, als sei ich ein Vulkan, der einen gewaltigen Flächenbrand verursachen könnte. Und dass man in seiner Wut nicht immer fair gegenüber allen ist, ist auch normal.

Deswegen vielleicht solche Gefühle nicht gleich als „böse“ bewerten, sie gehören einfach zu einem. Sind bis zu einem gewissen Grad normal. Und wenn sie einen erschrecken, dann auf jeden Fall hingucken, woher sie kommen, was dahinter steckt.
Ich bin wie einer, der blindlings sucht, nicht wissend wonach noch wo er es finden könnte. (Pessoa)

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alatan
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Beitrag Sa., 24.12.2022, 11:34

Wieso gehst du in eine analytische Psychotherapie mit einer Selbstzensur? Damit machst du die PT völlig sinnlos, es ist quasi ein schweres selbstsabotierendes Verhalten, wofür auch immer du dich dadurch bestrafst....
Nun ist etwas deines Unbewussten durchgebrochen, aber nur zum Teil. Scham ist unangebracht, denn das bedeutet weiteres Verstecken. Stattdessen solltest du schauen, welche Gefühle in der Metzelei stehen, wenn du in der Vorstellung vor vollbrachtem Werk stehst und dich unendlich einsam fühlst. Wenn du ehrlich zu dir bist und diese Gefühle zulassen kannst, kann Heilung beginnen.

Btw: Dieses "Böse" ist überhaupt nichts Besonderes, hat quasi jeder Mensch in sich. Etwas Mutiges und Besonderes wäre es, sich damit auseinanderzusetzen, um Freiheit zu erlangen.

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Gespensterkind
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Beitrag Sa., 24.12.2022, 13:17

Ich sehe es ähnlich wie das, was dazu schon geschrieben wurde: und ein bisschen "beneide" ich Dich sogar darum, dass Du das so aussprechen konntest und es getan hast. Ich finde solche emotionalen Gedanken soooo wichtig - und das Allerwichtigste in der Therapie, damit diese für Dich hilfreich ist. Nur so kannst Du darüber dann auch weiter sprechen.
Ich habe fast nie den Mut dazu, so sehr innere Gedanken auszusprechen, geschweige denn es mir zu erlauben, diese überhaupt zu denken.
Weil dann sofort die moralische Zensur kommt "so etwas ist Böse", " so etwas darf man nicht denken/sagen" etc. Auch das sich darüber schämen hinterher sehe ich als Teil dieser moralischen Zensur.
Du hast alles richtig gemacht.
Du solltest weiter damit arbeiten.

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reddie
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Beitrag Sa., 24.12.2022, 13:30

Wenn Keiner mehr da ist, fallen einige bedeutsame Dynamiken weg:

1. Das Streben nach (gelungenen) sozialen Kontakten und die Enttäuschung bei Nicht-Gelingen, diese Beziehungen aufzubauen oder zu halten.

2. Die mögliche Beurteilung (Abwertung) durch andere, kränkende Zurückweisungen.

3. Das Sich-Vergleichen. Das Sich-Optimieren-Wollen, das um Anerkennung kämpfen..

Und ich vergaß einen wichtigen Punkt:

4. Der Neid, wenn man andere glücklich gebunden erlebt. Man selbst hat es nicht.

Davor wäre man dann sicher..., aber ja, auch sehr einsam.


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flatter
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Beitrag Di., 27.12.2022, 00:37

Herzlichen Dank für eure schnellen und hilfreichen Antworten!! Bitte entschuldigt die verzögerte Antwort, mit den Festtagen hatte ich grad etwas viel um die Ohren.

Das aktiv werden in der Therapie und das Aufgeben der Selbstzensur sind ganz wichtige Themen für mich.

Sogar hier im Forum (es ist ja etwas ganz Neues für mich) habe ich nur einen Teil geschrieben, immer ängstlich, ob es überhaupt eine Antwort gibt und ja nicht zu lange und zu ausführlich schreiben, dass könnte falsch rüberkommen.

Ich habe meinen Therapeuten nach dieser Sitzung 2x gesehen. Bei der Folgesitzung habe ich gefragt, wie man ein solches Verhalten entschuldigen kann. Ich habe nicht direkt um Entschuldigung gebeten.
Eine weitere Sitzung später habe ich das Thema wieder aufgegriffen und mich zu erklären versucht, dass die Aggression vielleicht mit dem Wissen meiner Vorgeschichte (welche mein Therapeut ja kennt) zu entschuldigen. Die Antwort meines Therapeuten hat mich dann fast aus den Socken gehauen. Er hat mich zurück gefragt, ob er denn je etwas gesagt hätte, dass er es entschuldige. Wir haben dann eine sehr ehrliche Diskussion über eine echte Entschuldigung geführt mit der Frage, ob ich nur eine Entschuldigung brauche, um zu wissen, dass ich von ihm dies bezüglich nicht angegriffen werde wie ein winselnder Hund, dar sich unterwirft und die Kehle zeigt.

Das war ein harter Brocken zu schlucken und ich hocke immer noch da und brüte darüber, was ich davon halten soll. Ich war nicht nur aggressiv und böse sondern das böse Verhalten wird nicht entschuldigt und ich klage mich selber an, dass ich mich nicht ehrlich entschuldigen kann sondern dies nur tue um keinen Gegenangriff zu erhalten. Wahrscheinlich ist dies die wirkliche ehrliche und harte Arbeit.

Ich denke auch, dass ich die Aussage meines Therapeuten nur akzeptieren konnte und es mich zum Nachdenken angeregt hat, weil ich ihn schon so lange kenne und weiss, er will nur das Beste für mich.

Jetzt kommt die Sache mit dem Winseln, sprich in Tränen auszubrechen um zu manipulieren und gut davon zu kommen. In dieser ganzen Zeit habe ich in der Therapie nie offen geweint. Lieber tauche ich ab. Das wäre sie wohl wieder, die wirkliche Arbeit, den Schmerz zuzulassen und dadurch zu gesunden.

Kennt ihr das auch? Ich investierte viel Energie nicht zu weinen und möchte es doch eigentlich so gerne. Die Hoffnung nicht alleine zu weinen, Linderung durch die Tränen zu erhalten…

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alatan
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Beitrag Di., 27.12.2022, 14:42

Kann es sein, dass du bisher gar nicht verstanden hast, was psychodynamische Psychotherapie eigentlich ist? Nämlich ein Arbeiten im inneren seelischen Raum, ein Sich-einlassen-auf-sich-selbst und die Beziehung zum Gegenüber?

Welches Verhalten willst du entschuldigt haben? Und von wem?
Wie auch immer: "winselndes" Weinen ist wirklich (unbewusste) Manipulation von sich und anderen, mithin Selbstbemitleidung und keinesfalls hilfreich.

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Zephyr
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Beitrag Di., 27.12.2022, 17:55

alatan hat geschrieben: Di., 27.12.2022, 14:42 Welches Verhalten willst du entschuldigt haben? Und von wem?
Wie auch immer: "winselndes" Weinen ist wirklich (unbewusste) Manipulation von sich und anderen, mithin Selbstbemitleidung und keinesfalls hilfreich.
Alatan
so wie ich flatter verstanden habe, geht es eben nicht darum einfach etwas entschuldigt zu bekommen oder zu Manipulieren (und beide Impulse kennt doch wohl jede*r von uns, wenn wir mal ehrlich sind, selbst dann wenn wir „durchanalysiert sind“).
Für mich klingt das sehr selbstreflektiert und nach echter Therapiearbeit.
Ich empfinde deinen Tonfall auch als etwas herablassend.



Flatter,
wow, das klingt nach einem richtig großen Schritt. Und ja, wir alle nutzen solche Verhaltensweisen (wie das winselnde Weinen) aus den unterschiedlichsten Gründen. Aber ich finde es toll, dass du das dir und deinem Thera eingestehen konntest, das ist doch meist mit das Schmerzhafteste.


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flatter
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Beitrag Mi., 28.12.2022, 12:06

@alatan
Wenn ich mit Verstand die psychotherapeutische Arbeit bewerkstelligen könnte, hätte ich das schon lange getan. Es fehlt nicht an meinem Verstand.
Es soll mir eine Lehre sein für die Zukunft mich nicht all zu offen über meine Probleme zu äussern sondern diese mit dem Therapeuten zu besprechen, welcher hoffentlich wohlwollend, wertschätzen ist und unter Schweigepflicht steht.
@Zephyr
Danke für deine aufmunternden Worte!

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