Abhängigkeit und Ich-Bezogenheit: Veränderung durch Therapie

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.

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montagne
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Abhängigkeit und Ich-Bezogenheit: Veränderung durch Therapie

Beitrag Di., 17.05.2016, 08:59

Hallöchen…

Mich beschäftigt das Thema Ich-Bezogenheit und Abhängigkeit und wie es sich durch Therapie verändert und wie es „gesund“ wäre immer wieder.
Ich möchte hier mal allgemeine (dennoch subjektive) Überlegungen antellen und dann auch zu mir kommen. Ich freue mich über Austausch über Gedanken und Erfahrungen.

Ich schreibe mal etwas zugespitzt, so in Reinform wird es kaum auftreten. Aber dennoch sehe und lese ich häufig Aspekte davon. Und an beidem ist ja auch was Wahres dran. Die Frage ist, wie viel?

Was mir halt auffällt, dass es unter Therapieerfahrenen zwei scheinbar gegenläufige Bewegungen gibt. Ich finde sie auf den zweiten Blick garnicht so gegenläufig. Es gibt diejenigen, die sich schnell abgrenzen. „Ich grenze mich davon/von dir ab.“ „Das tut mir hier nicht mehr gut.“„Ich belasse das bei dir.“ „Das hat mit dir zu tun, nicht mit mir.“ Es fallen dann auch Begriffe wie Energieräuber oder Energievampir. Was in meinen Ohren da mitschwingt ist, auch wenn eine Abgrenzung geäußert wird: *Du bis verantwortlich/schuld, das ich mich gerade gekränkt, wütend, traurig führe und ich schütze mich davor, indem ich bewusst eine Grenze ziehe.* Aber dennoch wird die Schuld ja implizit beim anderen gesucht. Gleichzeitig wird nicht zugelassen, dass der andere einen Einfluss auf einen selbst hat.

Dann sind da die, die jedes Gefühl, jede Emotion, jeden Gedanken nur aus dem Individuum selbst heraus kommen sehen. Sie schreiben dem Individuum die alleine Verantwortung (Schuld?) für das zu, was sie/er fühlt, denkt. Und auch Verantwortung es zu ändern. Nicht selten wird dies mit Bezug auf andere getan. Aber dann auch konsequent, mit Bezug auf sich selbst. „Das hat nur mit dir zu tun, dass du jetzt verletzt bist.“ „Ich kann mich nur selbst ändern.“ „Ich muss bei mir selbst gucken.“ Noch eutlicher wird, woher das kommt, bei Aussagen wie: „Ich habe gelernt, dass nur ich verantwortlich für meine Gefühle bin.“ Also waren es Menschen, die früher andere verantwortlich gemacht haben und nun gelernt haben „bei sich zu bleiben“? Auch hier wird verneint, das andere einen Einfluss auf einen haben. Bezahlt wird um den Preis, sich alles selbst aufzuladen. Es wird aber auch verneint, dass man mit seinem Handeln (und Sprechhandeln) einen Einfluss auf andere hat.

In beidem sehe ich eine Art Abwehr von Abhängigkeit, Interdependenz und Beziehung und eine Art von Ich-Bezogenheit.

Mir fällt es immer wieder auf, dass es eben diese Sprechweisen und diese Handlungsweisen in Dialogen unter Therapieklienten gibt, hier im Forum, draußen im Leben. Menschen, die viel Ratgeberliteratur lesen und sich mit „Psychologie“ beschäftigen reden vielleicht auch so.

Das alles würde ich jetzt nur zur Kenntnis nehmen und nicht weiter drüber nachdenken und nicht weiter drüber schreiben, wenn ich es nur für eine Phase im Rahmen einer Therapie halten würde. Aber ich lese es zu oft und es sind auch Menschen, die lange in Therapie sind.


Also ich halte es schon für eine „Phase“. Aber irgendwie scheinen nicht wenige Klienten auf dieser Phase stehen zu bleiben. Also kurz gesagt. Vor der Therapie macht sich die/der KlientIn zu sehr abhängig von anderen, in dem was sie/er fühlt. Durch die Therapie wird das andere Extrem angestrebt. Eine zu starke Unabhängigkeit und damit zwangsläufig eine zu starke Ich-Bezogenheit.


Denn ja, ich finde diese Art des Umgangs mit sich und anderen zu Ich-Bezogen und zu beziehungsarm. Erfüllende, verbindliche Beziehung sieht für mich anders aus. Damit will ich aber NICHT werten oder gesagt haben, was nun gesünder und vor allem stressärmer, bzw. problemärmer ist. Ich will damit auch nicht werten, was nun besser ist: problemarm oder intensiv, verbindlich.
Wo ist das gesunde Maß, der sweet spot?

Dieses ist nun meine Frage an euch, an mich: Was ist nun problemärmer und/oder besser. Da mit eingerechnet, alle „Folgekosten“ der ein oder anderen Handlungsweise. Wenn sich jemand abgerenzt, auf welche Art auch immer, ist das situativ sicher erstmal stressärmer. Ich will nochmal betonen, ich finde Abgrenzen nicht per se falsch, im Gegenteil. Aber wenn Abgrenzung zu einem durchgängigen Muster wird, macht das nicht auch einsam? Bleibt nicht eine zu große Leere? Und das verursacht doch auch wieder stress, innendrin? Und spätestens dann, wenn man mal jemanden braucht, zum emotional anlehnen und dann ist da niemand. Das ist doch sehr stressig…

Denn ich weiß zwar nicht, wo die gesunde Balance liegt, was überhaupt gesund ist: Ist denke aber eins sicher: Der Mensch ist ein soziales Wesen. Niemand kann länger emotional ganz autark funktionieren. Ein Mensch kann so nicht sowas wie ruhig und zufrieden (Glück will ich garnicht erst bemühen) sein.
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lamedia
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Beitrag Di., 17.05.2016, 09:46

Hm, ein sehr interessantes Thema - und ich stimme dir zu, dass beide Tendenzen in eine Art posttherapeutischen Autismus führen können. Ich kenne die Abwehr aus beiden Richtungen. Es gibt aufgrund meiner Konstitution viele Menschen, die mich durch ihre bloße Präsenz (laute Stimme, einnehmendes Wesen) sehr schnell stressen können. Man könnte das in zwei Richtungen therapieren: Sich-Aussetzen und Einüben, die richtige Dosierung finden, wenn es die Beziehungen "wert" sind oder/und Sich-Abgrenzen, wenn gerade Ressourcen fehlen.

Die andere Seite: "Ich bin verantwortlich für alle meine Gefühle", das bejahe und verneine ich. Auslöser für meine Gefühle sind häufig die anderen. Gefühle aus sich selbst heraus - gibt es vielleicht gar nicht so viele?
WIe ich damit umgehe - das kann ja nur ich selbst entscheiden: Lebe ich sie aus, verstärke ich sie, indem ich immer wieder daran denke - oder schaden mir Gefühle nicht auch, und ich sollte versuchen, runterzukommen?

Jedoch, wenn man lernt, sich möglichst gefühlsarm zu machen, ist man natürlich für einige andere, vor allem Menschen mit einem emotionaleren Stil, weniger sichtbar, greifbar..

Und dass Einsamkeit ein großer Stress ist, da stimme ich zu. Im Idealfall sollten diese Strategien allerdings nur dazu dienen, sich destruktive Beziehungen und Gefühle vom Hals zu halten und mehr Gleichgewicht zu finden.
Wenn man allerdings aus Angst, dass "alles und jeder" einem schaden könntem zu viel abgrenzt und die Arbeit mit den Gefühlen vielleicht eher ein Unterdrücken als ein Durcharbeiten wird - dann kommt wahrscheinlich diese posttherapeutische Einsamkeit zustande, die tatsächlich neuer Stress ist. Dann passt plötzlich niemand und nichts mehr zu einem.


isabe
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Beitrag Di., 17.05.2016, 10:38

Vielleicht ist das der kleinste gemeinsame Nenner dessen, was man einen Therapieerfolg nennt? Dass man dem Patienten mit auf den Weg gibt: "Ich konnte dich zwar nicht heilen von deiner Beziehungsunfähigkeit, aber ich konnte dir wenigstens einen Weg aufzeigen, wie du dich besser vor dem schädlichen Verhalten Anderer schützen kannst".

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Mitzi
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Beitrag Di., 17.05.2016, 11:01

Nach einem Trauma zB bewertet man aber doch das Verhalten der Anderen/der Umwelt ja grundsätzlich oft mal als schädlich. Weil in der eigenen Wahrnehmung einfach sehr vieles feindlich ist. Die eigenen Grenzen wurden verletzt, also muss ich mir meine eigenen Grenzen wieder neu aufziehen um Sicherheit für mich zu schaffen. Grund- und Notversorgung um mein Selbst selbstständig schützen zu können. Erst aus dieser selbstsicheren Ich-Bezogenheit kann was Gesundes wachsen. So versehe ich es zumindest. Also für mich ist es eine Phase der man entwachsen kann/soll.
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montagne
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Beitrag Di., 17.05.2016, 11:34

@lamedia:
posttherapeutisch... nett...

Du bringst es wohl auf den Punkt, was ich versucht habe auszudrücken (ohne das es mir so klar war).
Vermeiden, sich abgrenzen ist der eine Pol, sich ausetzen, durcharbeiten der andere Pol.

Es ist klar, dass es abhängig von der Konstitution, der Situation und der konkreten Beziehung ist, welchen Weg man wählt, bzw. zu welchem Pol man tendiert (oder halt die Mitte, so es denn geht).
Denn ja, sich ausetzen und etwas in sich durcharbeiten kostet erstmal mehr Energie, als Abgrenzung und Vermeidung. Und manchmal hat man diese Energie einfach nicht oder es ist einem die Beziehung nicht wert. Allerdings: Längerfristig, wenn man sich immer wieder abgrenzen muss (ich mutmaße mal, je plakativer die Abgrenzung heäußert wird, umso mehr ist es ein innerlicher "Kampf" dies eben auch innerlich zu vollziehen) kostet es vieleicht mehr Energie, als wenn man für sich oder mit jemandem etwas durcharbeitet und sich was löst.
Und ich frage mich da eben wo ist das eine gute Balance für mich... das treibt mich immer wieder um.
Auslöser für meine Gefühle sind häufig die anderen. Gefühle aus sich selbst heraus - gibt es vielleicht gar nicht so viele?
Kommt drauf an, aus welcher Perspektive man es sieht. Jedes Gefühl hat mit anderes zu tun. Und seien es andere Menschen aus der Kindheit, die einen immer wieder scharf kritisiert und herabgesetzt haben und jetzt 10-20-30 Jahre später kommt es scheinbar aus einem selbst heraus, dass man sich aufs ärgste beschimpft, wütend auf sich selbst ist, wie dumm man ist, wenn man allein in der Küche steht und einem was runterfällt. Die auslösende Interaktion ist eben nur schon jahrzehnte alt und internalisiert. Gleichzeitig könnte man ja auch sagen: Irgendwann muss doch auch mal gut sein, im Sinne von.. sollte man loslassen können und freundlicher mit sich sein. und wnen ma es nicht kann.. hat es nicht doch was mit einem selbst zu tun? Ei und Hene....

@isabe:
Sehr interessanter Gednakengang, aber auch deprimierend... oder?
Das nicht jeder geheilt werden kann und bestimmte Bindungsstörungen vieleicht per se nicht heilbar sind, sondenr nur linderbar, ja mag sein. Aber so wenig? Denn auch hier wird ja gespalten, in ICH und die bösen anderen. Das zementiert die Beziehungsunfähigkeit ja! Sich sinnvoll schützen können, klar, ist wichtig und mus vieleicht zuerst gelernt werden, wenn es nicht gekonnt wird. Aber könnte man niht auch einen Teil der therapiebemühungen statt in Abgrenzung darin investieren, beziehungsfähiger zu werden? Dann braucht man sich j auch nicht mehr so arg abgrenzen.

@Mitzi:
Ja ist eine Phase, sehe ich auch so, wie du es beschreibst. Aber wenn man es eben nicht schafft, dem zu entwachsen....?
Bzw., wa sich anders sehe: Ich finde diese Ich-Bezogenheit überhaupt nicht selbstsicher. Beobachte ich es bei anderen, wirkt es eher selbstunsicher auf mich, bemüht selbstsicher, aber innen drin sehr unsicher.

Wenn ich von mir ausgehe: Je unsicherer ich innen drin bin, umso gröber werden meine Abgrenzungen nach außen. Von einem direkt geäußerten: "Ich belasse das bei dir/beim anderen." "Das ist dein, nicht meins." bis hin, zum Glück kenne ich mich so eher aus der Therapie: Aggressionen, um mich abzugrenzen.
Und da wird mir auch bewusst, klar, ist wohl besser, als sich vom anderen vereinnahmen und überschwemmen zu lassen und besser als sich völlig zu verstricken.
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Mitzi
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Beitrag Di., 17.05.2016, 12:01

Ich denke dann fehlt es an etwas Weiterführendem. Unsichere Ich-Bezogenheit kommt vielleicht daher, wenn man Therapie nach Schema-F abarbeitet und meint das funktioniert so. Es heißt ja aber auch die eigenen Schritte sichtbar zu machen. Was bewirken meine Grenzen beim anderen? Heißt, auch auf den anderen/die Umwelt schauen und sehen was die eigenen Handlungen ausmachen.
Man kann sich auf die Art natürlich alle Menschen vom Hals halten und steht dann alleine da. Wenn man das möchte. Vielleicht bleiben auch viele im Basis-Grundkurs stecken, und meinen das reicht dann schon um Therapie "gemacht" zu haben. Weil ja alle anderen die Bösen sind. Ist natürlich leicht gemacht.
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stern
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Beitrag Di., 17.05.2016, 13:18

Interessantes Thema.
montagne hat geschrieben:„Ich belasse das bei dir.“
Das kommt mir bekannt vor. Im Ernst. Sage ich manchmal, wenn ich keinen Nerv habe, mich mit Eindrücken oder OT-Analysen zu meiner Person bedacht zu werden... i.d.R. ist dann auch eine Abgrenzung vorangegangen, dass ich das nicht möchte. Einen Schuldaspekt beinhaltet das eigentlich nicht. Sondern dass ich diese Rückmeldungen gerade nicht annehmen und mich damit auseinandersetzen möchte und als Eindruck des Gegenübers anerkenne also als DESSEN Eindruck/Sicht (die meiner eigenen nicht entsprechen muss. Und man kann auch nicht immer auf einen Nenner kommen). Nicht mehr und nicht weniger. Verhindern kann ich es ja nicht, dass es jemand trotzdem tut... dann eben so. Das kann auch rein innerlich geschehen.

Beziehung ist für mich aber ein wechselseitiger Prozess. Meine Gegenüber ist ja nicht Luft. Zu verstehen, warum ich mich gerade so oder so fühle hat eher den Charakter von Erklärung als Schuld. Z.B. wenn ich weiß, dass xy ein Reizthema für mich ist.

Ich bringe das noch nicht einmal mit Abhängigkeit bzw. Ich-Bezogenheit so recht zusammen. Eher mit Trennung/Unterscheidung von deine Sicht-meine Sicht. Bezogenheit bedeutet ja nicht, alles identisch sehen zu müssen. Manchmal ist jedoch auch die starke Erwartung vorhanden, man müsse doch dies oder jenes einsehen...

Üblicherweise (wenn ich etwas mehr Nerv dazu habe) schaue nachzuvollziehen, wie es zu dieser Wirkung gekommen sein muss, was i.d.R. auch nachvollziehbar ist... oder würde im RL/Therapie evtl. auch nachfragen (und habe das auch schon mitunter getan). Das bedeutet aber nicht automatisch, dass ich das selbst teile (wird auch nicht erwartet)... sondern evtl. eher, dass ich nachvollziehen kann, wie der Eindruck zustande gekommen ist.
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isabe
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Beitrag Di., 17.05.2016, 13:51

montagne hat geschrieben:Denn auch hier wird ja gespalten
Das ist richtig. Manchmal denke ich, dass das Spalten die Vorstufe ist zur Heilung, und ich bin noch nicht dahinter gekommen, was es braucht, um den weiteren Schritt von der Spaltung und Projektion zu machen hin zur Hingabe. Die Spaltung, dieses "hier in der Therapie sind wir beide die Guten" ist wohl erst mal nötig, um die Schuldgefühle des Patienten zu lindern und ihn ins Boot zu holen. Und es scheint schwer, davon dann wieder wegzukommen. Dann ist es zwar nicht wirklich ein herausragendes Therapieergebnis, dass man sich selbst als O.K. wahrnimmt, dass man aber immer noch kein vollständiges Bild von sich selbst als Mensch in Beziehungen hat, was halt automatisch beinhalten würde, dass die Spaltung aufgegeben werden muss. Man müsste sich trennen von dem, was in der Therapie so viel Halt gegeben hat: "Weinen und sprechen Sie sich aus, ich bin für Sie da und verteidige Sie gegen den bösen Chef, die bösen Eltern und den rücksichtslosen Partner".

Meine Vermutung ist, dass die Zeit in der Therapie dafür nicht reicht. Die Patienten haben oft nur 100 Sitzungen, wenige haben 300 Sitzungen. Das hört sich viel an, aber wenn das Ziel ist, aus einem depressiven, selbstmordgefährdeten chronisch kranken arbeitslosen Single einen erfolgreichen und glücklichen Familienvater zu machen, dann ist das vielleicht einfach zu wenig Zeit. Und ich glaube auch, dass viele Patienten gar kein richtiges Vorbild im Kopf haben davon, wie Beziehung gehen kann. Und dass sie daher auch nicht gut wissen, woran sie sich orientieren sollen, sodass sie vielleicht ewig festhalten am neuen, in der Therapie gelernten Beziehungsmodell, das eben die Spaltung vorsieht und das so aussieht, dass der Patient sich vom Therapeuten pampern lässt. Und auch wenn der Therapeut das eigentlich nicht will, dann geschieht es trotzdem, mal mehr, mal weniger intensiv. Weil der Druck, den die Patienten ausüben (kümmere dich um mich, sonst bist du böse), so hoch ist, dass die Therapeuten manchmal zu spät merken, dass sie gar nicht so frei sind in ihren Interventionen.

Dann fühlt sich alles zwar irgendwie gut an am Ende der Therapie, aber am eigentlichen Problem, an der Beziehungsfähigkeit, wurde nicht genügend gearbeitet. Das erklärt vielleicht auch die Rückfälle. Man fühlt sich erst mal gut, aber irgendwas fehlt. Aber gesucht wird dann weiter beim Anderen: "Ich komme nur deshalb nicht klar, weil die Welt so ist".

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stern
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Beitrag Di., 17.05.2016, 13:59

Aus mir selbst heraus, habe ich ein Gefühl, wenn ich ein Blumentopf fallen lasse. In einer Beziehung funktioniert das nicht mehr (bei mir)... wechselseitige Beeinflussung. Hier habe eine ähnliche Sichtweise wie lamedia: Der Auslöser kann durchaus beim anderen zu verorten sein. Wäre das nicht so, was wäre dann die Alternative: Dass mich alles kalt lässt, also dass niemand etwas in mir auslösen kann? Aber das bedeutet nicht, dass derjenige verantwortlich gemacht wird (kommt aber natürlich darauf an). Weil man jemanden anderen (oder dessen Tun) aber sozusagen kausal mit den eigenen Gefühlen in Verbindung bringt, kann das aber so aufgefasst werden... obwohl es eigentlich zunächst nur eine kausale Verbindung ist, warum ich so und so reagierte (Auslöser-Wirkung). Hinzu kommt, dass im Forum das Thema Schuld/Verantwortung wohl auch ein Thema von einigen ist.

Allerdings ehe ich auch keine Veranlassung, meine Gefühle dauernd zu kommunizieren... also das kann sich auch alles "still" abspielen. Kommt halt darauf an.
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stern
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Beitrag Di., 17.05.2016, 14:26

Ich bin es nochmals durchgegangen... und ich würde sagen, dass das eher Patientenphrasen sind (die ein oder andere habe ich selbst schon benutzt). In der Therapie habe ich (glaube ich) davon noch keine einzige gehört bzw. es wurde mir auch nicht vermittelt. Ich denke, Beziehungsfähigkeit lernt bzw. verbessert man in der Therapie in der Beziehung zum Therapeuten, in RL-Beziehungen bzw. was der Therapeut sozusagen vorlebt. Ich denke daher nicht, dass solche Phrasen Ergebnis einer Therapie sind. Sondern eher, dass (zumindest was manche Phrasen angeht) diese aufzeigen, dass noch ein Lernbedarf vorhanden ist (was entweder nicht therapiert wurde oder nicht erfolgreich). Also z.B. wer wirklich gut abgegrenzt ist (diese Fähigkeit halte ich durchaus für wichtig für die Beziehungsfähigkeit), muss sich evtl. nicht so scharf nach außen abgrenzen, womit man in Gefahr laufen kann, andere vor den Kopf zu stoßen. Kommt natürlich darauf an. Also manchmal machte eine schärfere Abgrenzung durchaus Sinn. Bzw. für meinen Teil möchte ich auch nicht alles auf mir sitzen lassen.
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candle.
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Beitrag Di., 17.05.2016, 14:47

Auch Hallöchen!

Ich finde das Thema auch ganz interessant, möchte das aber weniger auf das Forum beziehen, weil ich hier ja kaum jemanden privat kenne und somit auch nicht die einzelnen persönlichen Entwicklungen.
Umgekehrt habe ich aber Abgrenzungen von mir erlebt (familiär) natürlich ohne eine Begründung was da falsch sein könnte (mit mir), was es natürlich schwierig macht dementsprechend eine Veränderung vorzunehmen.
Schließen tue ich persönlich daraus, dass diese Personen Therapie nicht richtig verstanden haben, denn ich habe nie den Rat bekommen mich komplett von Personen abzugrenzen, sondern eher zu agieren und das "abzuwehren" was mir nicht gut tut um in den jeweiligen Beziehungen eine angenehmere Veränderung zu erzielen, im besten Fall natürlich für beide Parteien.

Wer nun verstehen will, dass er/ sie sich von allem und jeden abgrenzen muß, wird ja letztlich meiner Meinung nach sozial weniger kompatibel sein, aber das ist in der Tat dann deren Problem. Würde der Leidensdruck dann steigen und die Ich- Bezogenheit wieder zurückgehen mit neuem bestenfalls anderen Beziehungsverhalten, kann man dann doch wieder etwas lernen.

Nun hängt das aber auch wieder mit dem Krankheitsbild zusammen wie jemand in der Lage ist das zu erkennen. Emotionale Intelligenz gehört vielleicht auch dazu wie auch sich selber nicht zu ernst zu nehmen. Es ist also schon ein sehr komplexes Thema.
montagne hat geschrieben: „Das tut mir hier nicht mehr gut.“„Ich belasse das bei dir.“ „Das hat mit dir zu tun, nicht mit mir.“
Es kommt natürlich immer darauf an wer das wann und wo sagt. Tatsächlich glaube ich, dass dann immer alle teilnehmenden Parts was damit zu tun haben. So weit kann man sich gar nicht abgrenzen, sonst wäre man ja nur noch ein gefühlloser Zombie. Man kann es aber verstecken, damit strafen oder sich selber damit völlig verkennen.

Ich weiß nun nicht, ob mein Beitrag in diese Richtung geht, die hier erzielt werden will und verbleibe so.

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mio
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Beitrag Di., 17.05.2016, 14:53

isabe hat geschrieben:Aber gesucht wird dann weiter beim Anderen: "Ich komme nur deshalb nicht klar, weil die Welt so ist".
Das sehe ich auch so. Beziehungsfähigkeit bedeutet ja auch, dass ich die Verantwortung für mich selbst übernehme. Alles andere ist im Grunde Beziehungsabhängigkeit.

Tendiert jemand nun dazu, die Qualität der Beziehung davon abhängig zu machen, dass der Beziehungspartner (egal in welchen Kontext) "wunschgerecht" funktioniert/ist, dann findet eigentlich gar keine ehrliche Beziehung statt, sondern es wird benutzt. Der andere kommt in der Beziehung nicht als eigenständiges Wesen vor und soll es auch nicht, er wird "verwechselt".

Werden Menschen mit einer solchen Tendenz nun in der Therapie nicht sanft aber ausreichend "begrenzt" vom Therapeuten und lernen dies in der Beziehung auszuhalten ohne dass die Beziehung daran zerbricht - entweder, weil der Therapeut sich nicht "traut" oder weil er es vielleicht gar nicht erkennt - dann kann das fatale Folgen haben, da dann diese innere Haltung erst recht begünstigt und verstärkt wird durch die Therapie.

Im Grunde ist das ja ein "Entwicklungsprozess" der sich bei kleinen Kindern gut beobachten lässt. Das Kind wird naturgemäss erst mal wütend, wenn es von den Bezugspersonen begrenzt/einem unangenehmen Gefühl ausgesetzt wird. Die Mama kauft den Lolli nicht, denn das Kind aber doch so dringend "braucht". Und damit wird sie zum "bösen Feind". Die "liebenende, fürsorgliche" Mama verschwindet und an ihre Stelle tritt ein "böses Monster". Im Grunde sind das "Sinnbilder" für "ich fühle mich gut durch Dich" und "ich fühle mich schlecht durch Dich" für das Kind.

Läuft dieser Prozess nun gut, dann versteht das Kind irgendwann, dass es nicht schlimm ist, wenn es den Lolli mal nicht bekommt. Das tut dann zwar kurz weh, aber es ist aushaltbar. Und die Mami ist auch gar kein böses Monster, sondern sie sagt halt manchmal auch nein zu was, was man gerne möchte. Das Kind lernt sowohl "Frustrationstoleranz" als auch seine "Strategien zu verbessern/Einfühlungsvermögen" als auch "Selbstwirksamkeit" im Sinne von: Ich kann dieses unangenehme Gefühl aushalten, es passiert nichts schlimmes dadurch.

"Pampert" ein Therapeut nun zu sehr und begrenzt nicht gleichzeitig, dann wird dieses "Nachholen" (so der Patient es braucht) verunmöglicht und es wird eher gelernt: He, Du! Mein Therapeut hat das aber auch so gemacht! Mir steht das deshalb zu! was im "realen" Leben aber dann eben erst Recht wieder zu Frustrationen in Beziehungen führt da diese nun mal anders funktionieren und es unter Erwachsenen unüblich ist, sich derart dem anderen "hinzugeben".

Diese Form von Hingabe verlangt nämlich Selbstaufgabe und dazu sind die wenigsten "gesunden" Menschen dauerhaft und einseitig bereit. Glücksspendende Hingabe erfordert Gegenseitigkeit/Ausgeglichenheit/Freiwilligkeit.


ziegenkind
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Beitrag Di., 17.05.2016, 15:11

wenn hingabe selbstaufgabe erfordern würde, dann wär da ja gar nichts mehr zum hingeben ...

hingabefähigkeit ist für mich voraussetzung für beziehungsfähigkeit. ich gebe mich hin, so wie ich bin, ohne verstellung, ohne schutz, in der hoffnung vom anderen so geliebt und angenommen zu werden und in dem wissen, es zu überleben, wenn der andere meine hingabe nicht will. das habe ich, glaube ich, in der therapie gelerrt, von meiner sich mir hingebenden therapeutin (die ich am anfang dafür angreifen musste und die mir gezeigt hat, dass sie meine angriffe übersteht und ich sie gar nicht treffen und vernichten kann...) und in dem am ende gelingenden versuch mich ihr hinzugeben.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.


mio
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Beitrag Di., 17.05.2016, 15:19

Das, was Du an dieser Stelle Hingabe nennst würde ich Authentizität nennen, Ziegenkind. Hingabe hat für mich mehr damit zu tun, dass ich mich "fallen" lasse mit, in oder für den anderen. Also eher was mit Vertrauen und auch mal den anderen über mich selbst stellen indem ich seine Bedürfnisse wichtiger nehme als meine eigenen. Authentizität ist für mich die Voraussetzung dafür, dass überhaupt tun zu können, aber sie ist für sich genommen noch keine Hingabe für mich.


isabe
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Beitrag Di., 17.05.2016, 15:27

Ja, es muss auch erst mal gelernt werden, die "Hingabe" des Anderen überhaupt als solche zu erkennen und anzunehmen, ohne davon auszugehen, dass der Andere bestimmt nur berechnend ist oder irgendwas Böses mit einem im Schilde führt. Dass aber auch die "Hingabe" des Therapeuten nicht dessen Selbstaufgabe bedeutet, sondern dass es sich um ein Angebot handelt, das man annehmen darf, das man allerdings auch wertschätzen sollte und dabei nicht überbewerten sollte. Überhaupt scheint mir ein Problem in Therapieverläufen auf der Seite der Patienten zu sein, die Dinge entweder überzubewerten oder unterzubewerten: Entweder der Therapeut liebt oder er hasst. Entweder er will einen rauswerfen oder er ist selbst abhängig. Weil es vielleicht zu schwierig ist, anzunehmen, dass man selbst als Mensch / Patient weder besonders schlimm noch besonders liebenswürdig ist, sondern schlicht ganz "banal normal", jedenfalls für den Therapeuten. Dass nicht gut ausgehalten wird, dass man selbst etwas ganz doll wichtig findet, was Andere nicht so wichtig finden. Dass alles irgendwie bewertet werden muss und wenig stehengelassen werden kann.

Ich würde "Hingabe" beim Therapeuten so verstehen, dass er oder sie sich dem Prozess hingibt, also sich anbietet, dass er oder sie etwas gibt und entspannt abwartet, was passiert, ohne Druck auszuüben, etwas Bestimmtes zurückzubekommen.

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