Stacheldraht hat geschrieben:Ich weiß jedenfalls, dass ich meinem Vater nie verziehen habe, wie sein Suff meine Kindheit zerstört hat und ich werde es ihm auch nie verzeihen. Zumal er später, als er dann trocken war im Grunde auch nicht mehr wesentlich anders war. Irgendwann scheint die Aggression ins Blut über zu gehen. Mein Vater hatte es natürlich leicht, in dem er meinte, dass war ja nur eine Krankheit und er konnte da ja nichts für.
Mag ja sein, dass Alkoholismus, wenn er dann besteht eine Krankheit ist. Aber eine Krankheit, die man sich selbst gesucht hat. Ich würde einem HIV-Infizierten ja auch vorwerfen, warum er ungeschützten Sex hatte. Warum also dem Trinker nicht vorwerfen, dass er es zur Gewohnheit hat werden lassen?
Liebe Stacheldraht,
auch mein Vater trinkt schon immer, seit ich ihn kenne. Er ist noch nie "trocken" geworden. Ein intelligenter, wacher, in seiner Umgebung auch geschätzer, beliebter Mann....
Dies und die Beziehung meiner Eltern zueinander, meine extreme Unsicherheit in u.a. Beziehungsfragen usw. waren Gründe, in eine ziemlich lange Therapie zu gehen. Und ich hab' mich auch manchmal bei Schuldzuweisungen ("Er ist schuld, dass ich so bin....", Kindheit schwierig etc.) ertappt, wohl wissend, dass diese überhaupt keinen Sinn machen. Meinem Vater vorzuwerfen, dass er nicht will, ist der falsche Weg. Ja, objektiv: er will nicht, keine Motivation, er wird sogar aggressiv, wenn man ihm den Alkohol entzieht. Die letzten Jahre und aktuell sind sehr schwierig, für uns und vor allem für meine Mutter, die sich ja direkt um ihn kümmert (und sich bewusst dafür entschieden hat, sich nicht zu trennen, schwach war, sehr stark ist etc.). Wir sind im Notfall und auch sonst (mit dem Wissen um notwendige Abgrenzungen, Selbstschutz etc.) "da".
Ob er sich die Krankheit selbst gesucht hat? Die Frage stellt sich nicht, weil es für ihn keine "Krankheit" ist, obwohl er jetzt mehrere Entzüge hatte, er regelmäßig beim Arzt war.
Täter? Systemisch gedacht: unsinnig. Er hat viel getan, ich aber auch. Diese Kindheit hat mir ungeahnte, wertvolle Fähigkeiten gegeben, die ich (unageachtet aller Schwierigkeiten und Probleme) nicht missen möchte.
Mir war und ist wichtig (dies ist "grottenschwer" und verlangt harte Arbeit), mich mit meiner Geschichte zu versöhnen bzw. es zu lernen, dahin zu kommen (d.h. nicht den "Ist-Zustand" nicht zu sehen, sondern ihn ganz klar zu sehen in seinem Umfeld, ihn auch zu kommunizieren).
Mein Vater ist mein Vater ist mein Vater usw.. Ich habe viel von ihm gelernt. Und manches würde ich nie so tun wie er, ich mache andere Fehler, wodurch sich manche verletzt fühlen, leiden usw. - So, wie ich ihn jetzt oder schon länger erlebe, ist es schwer, tragisch, sehr traurig - es beschäftigt mich täglich (und ist dennoch leichter geworden), ich musste lernen mich abzugrenzen, meine Familie nicht zu besuchen etc.
In diesem Zustand ist er ncht mehr wie ein Vater. Er ist krank, schwer krank. Habe ich jetzt Jahre meiner Kindheit verloren? Ja, ich habe einiges verpasst, manches hat sich so bei mir bis heute noch nicht erreignet, mir fällt manches schwer
und: ich bin auf vielen Gebieten tätig "bis zum Umfallen", engagiert, mag Menschen (von meinem Vater "gelernt"). Ob daran jetzt mein Vater "schuld" ist, weiß ich nicht, weil es genauso Menschen in der gleichen Situation gibt, die manches von dem geschafft haben, dafür anderes nicht. Ja, manches ist traurig, doch ich bin im wahrsten Sinne "lebendig" (lebendiger und klarer als früher), dabei.
Mein Vater hat viel gearbeitet, war (ist) für viele Menschen wichtig, er hat mich auf die Welt gebracht, einiges (sich) geleistet und: er ist aggressiv, extrem launig, schwerer Alkoholiker, er lebt in seiner Welt, übernimmt dafür nicht die Verantwortung. Dafür, dieses "zusammen" sehen zu können, nebeneinsander stehen lassen zu können, habe ich Jahre gebraucht und ich war echt schon "alt" (das hat mich erschüttert, dass ich so lange brauchte, um realistischer zu "sehen" - hier waren Freunde wichtig, die mich fast "schüttelten", da waren).
Und ich sehe es wie Pitt, der das immer so kurz und treffender ausdrücken kann: natürlich spielen Wille und Verantwortung auch eine Rolle, aber sie reichen nicht aus. Sonst müsste ich auch aussortiert werden in enigen Dingen, wo ich schwach, angreifbar bin, weil ich's einfach nicht schaffe (da gibt's einiges), obwohl ich doch "nur" entscheiden,
wollen müsste. So auf meinen Vater zu sehen ist ein Blick von oben herab und das wäre verächtlich, "a-sozial" und nicht
sein, sondern ausschließlich
mein Problem. (Ich kenne diesen Blick gut!)
Damit möchte in keiner Weise Deine Gedanken bewerten oder abwerten, liebe Stacheldraht, sie sind ja so da "wie sie da sind".
[Weil es Dich natürlich wohl wütend macht, dass er sich mit der Krankheit entschuldigt.]
Und ich kenne sie
(die Gedanken, die Wut und bei mir v.a.: innere Aggressionen....) gut und sie haben ihre Berechtigung; es reichte mir nur nicht aus und so habe ich nach anderen Wegen, Möglichkeiten gesucht.
Lieben Gruß,
Anne