Mama und das sechste Familienmitglied

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Simonetta
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Mama und das sechste Familienmitglied

Beitrag Sa., 03.03.2012, 11:09

Guten Tag,

Ich möchte mich an dieses Forum wenden, weil ich mir einerseits wünsche, meine Mutter besser verstehen zu können, andererseits, so glaube ich, täte mir ein Austausch mit Leuten gut, die mich vielleicht ein ganz klein Bisschen verstehen können.

Vorab wäre es wohl angebracht, einen kurzen Abriss aus meiner Geschichte wiederzugeben...
Ich bin in einer Familie grossgeworden, in der die psychische Erkrankung meiner Mama rücksichtslos Präsenz markiert. Es gibt keine Diagnose (und trotzdem erlaube ich mir, hier von einer Erkrankung zu sprechen), keine offizielle Therapie; die Krankheit ist einfach immer da und bestimmt das Leben weselntlich mit. Ich nenne sie deshalb "das sechste Familienmitglied".
Wenn ich meine Mama heute beschreiben müsste, würde ich von einer liebevollen (wobei es sich eher um ein Liebevoll im verbalen Sinne handelt, eine Umarmung oder ähnliches war seltenst drinn), fürsorglichen Mutter erzählen, die nicht gerade eben von Selbstwertgefühl strotzt. Auf der anderen Seite habe ich eine Mutter kennengelernt, die sich zeitweise kaum oder garnicht zu kontrollieren vermag. Sie wird oft von Gefühlstürmen heimgesucht, die von "einfach mal losweinen" bis hin zu den viel öfter beobachteten Wutausbrüchen reichen. In diesen Wutanfällen schreit sie, kreischt sie, beschimpft uns, wirft mit Gegenständen um sich (ob das nun eine Vase oder ein Messer ist, ist abhängig von ihrem aktuellen Standort). Wärend diesen Ausbrüchen fährt sie richtiggehend aus ihrer Haut. Sie geht in diesen Phasen dem Bedürfnis nach, sich selbst und Anderen Schmerzen zuzufügen und wenn man dann in ihre Augen sieht, ist da nichts mehr von der Mama, die ich so gern habe zu erkennen. Der Wut folgt der Zusammenbruch. Sie kauert am Boden und weint. Sobald sie sich erholt hat, geht die lange Zeit der Entschuldigung bei allen Beteiligten los. Immer wieder habe ich auch depressive Phasen beobachtet und gehört, wie meine Mama Selbstmordabsichten geäussert hat.
Wir haben gelernt mit unserem sechsten Familienmitglied umzugehen. Wir entwickelten Strategien, den Fokus nicht auf den Schatten der Krankheit zu legen, sondern "die Abschnitte dazwischen" schön zu gestalten.

Heute bin ich 27 Jahre alt. Ich wohne längst nicht mehr zu Hause, besuche meine Eltern aber oft. Mama hat Menschen gefunden (nicht direkt auf therapeutischer Ebene) mit denen sie über ihr Problem sprechen kann und die Wutausbrüche sind weniger geworden.

Eine "erfahrene Frau", der meine Mutter sich anvertraut, hat ihr nun geraten, bei ihren Kindern um Verzeihung zu bitten. Und das hat meine Mutter getan, als ich das letzte Mal zum Kaffetrinken da war. Sie hat mich um Verzeihung gebeten für alles was sie mir in meiner Kindheit "angetan hat". Unverblümt, mit allen Einzelheiten und Deteils, an die ich mich nicht erinnern konnte...
Nach diesem Seelenstrip der besonderen Art muss ich erst mal schlucken. Bis dahin hätte ich steif und fest behauptet, mich mit Mama und allem Erlebten versöhnt zu haben.

Nun wäre es mir ein Anliegen, meine Mama besser verstehen zu können. Hat jemand eine Idee, wie dieses Phänomen heissen könnte, das uns hier begleitet? (ich erwarte natürlich keine Ferndiagnose, aber eine kliene Spur wäre doch schon ganz interessant).

Vielleicht hat jemand ähnliches erlebt... Wie geht ihr mit dem betroffenen Elternteil um? Und, was ich doch auch wichtig finde, was tut Ihr, damit es Euch gut geht?

So, jetzt ist mein Text doch länger geworden als geplant. Bei allen die ihn zuende gelesen haben, bedanke ich mich herzlich! Ich würde mich sehr über Antworten freuen.

Liebe Grüsse
Simonetta

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*Dannie
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Beitrag Sa., 03.03.2012, 12:11

Hallo Simonetta.

Ich bin auch mit einer psychisch kranken Mutter groß geworden. Wie nennt man dieses Phänomen? Nun, ich nenne es Verantwortungslosigkeit und Egozentrik seine Familie und vor allem seine Kinder solchen Ausbrüchen auszusetzen und seine Kinder zu schädigen ohne sich um Hilfe zu bemühen. Das ist meine ganz persönliche Diagnose.

Ich muss dir auch sagen, dass ich da auch deinen Vater gewissermaßen in die Mitschuld sehe, deine Mutter nicht dazu gedrängt zu haben psychiatrische Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Meiner Erfahrung nach nehmen solche Eltern ihre Verantwortung als Elternteil nicht wahr.

Wie gehe ich heute damit um?

Nun, mir hat eine sehr gute Therapie geholfen, meine persönlichen Traumatisierungen durch meine Mutter verheilen zu lassen und mit den Folgeschäden umzugehen, bzw. aus den Folgeschäden herauszuwachsen. Meine Therapeutin hat in den letzten 2 Jahren da sehr viel repariert und wieder ins Lot gerückt was schief gelaufen ist. Sie hat mich immer wieder mal stellvertretend in ihrer Rolle als Therapeutin als kompetente, stärkende "Mutter-Figur" begleitet.

Verzeihen muss ich meiner Mutter gar nichts und ich tue es auch nicht.
Ich sehe es so, ich war ein ganz tolles Kind, ich hätte es verdient, dass meine Mutter sich wie eine Mutter verhalten hätte und nicht ihrem Kind gegenüber wie eine Irre und mir dadurch mein Leben kaputt zu machen.

Ich habe gelernt mich von meiner Mutter abzugrenzen und ihr wiederum Grenzen zu setzen.
Das wiederum kann sie heute ganz gut akzeptieren.

Ich habe gelernt mich nicht mehr von meiner Mutter verletzen zu lassen und ich habe auch gelernt meine Mutter sich selbst zu überlassen und nicht mehr für sie Verantwortung zu übernehmen.

Ich habe auch gelernt mich vor meiner Mutter zu schützen.

Das alles habe ich mit meiner Therapeutin gemeinsam für mich persönlich herausgearbeitet und gelernt.

In diesem Sinne haben wir heute ein ganz gutes Verhältnis. Das heißt, wir können Kontakt halten und plaudern, ich habe meine Mutter heute ganz gern. Ich weiß heute, dass sie ein schwer traumatisierter Mensch ist und für ihre Persönlichkeitsstruktur nichts kann.

Mehr ist leider aus unserem Verhältnis jedoch nicht zu holen. Meine Mutter kennt mich bis heute nicht, sie weiß nicht wer ich bin und sie möchte mich auch nicht kennen lernen. Sie hat bis heute an mir, an meinen Gefühlen, an meiner Persönlichkeit, an meinem Beruf (indem ich mittlerweile nach harter Arbeit recht erfolgreich bin) kein wirkliches Interesse. Sie hat nur ein verzerrtes Bild von mir in ihrem Kopf wie sie wollte, dass ich bin. Und sie kommt mit der Realität, mich von ihr und ihrem Bild emanzipiert zu haben und stattdessen ich selbst zu sein und sogar auch noch in vollem Glanz als eigene Persönlichkeit aufrecht zu stehen nicht zurecht. Damit kann sie so gar nicht umgehen.

Ich kann das heute so akzeptieren. Denn ich führe heute das Leben sowohl privat als auch beruflich, dass ich immer führen wollte. Dafür habe ich auch hart gearbeitet, vor allem sehr hart an mir gearbeitet! Ich brauche heute keine Mutter und ich bin auch nicht auf ihre Bestätigung angewiesen. Ich bin mir selbst eine gute Mutter und kann mich heute sehr gut um mich selbst kümmern.

Ich hoffe ich konnte dir mit meiner Geschichte ein paar Impulse geben.

Viele Grüße,

Dannie

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Simonetta
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Beitrag Sa., 03.03.2012, 23:18

Liebe Dannie,

Mit grossem Interesse habe ich Deine Antwort gelesen. Ich danke dir sehr dafür!
Da schreibt eine grosse Persönlichkeit.

Ich bin davon überzeugt, dass Du ein ganz, ganz tolles Kind warst. Genauso, wie ich ein tolles Kind war. Im Grunde genommen waren wir sogar ganz aussergewöhnliche Kinder, denn wir sind in einem Umfeld gross geworden, an dem so manch einer zerbrochen wäre.
Was war hat uns zu dem gemacht, was wir heute sind und vielleicht sind wir dem Einen oder Anderen ein kleines Stückchen voraus..?

Aus dem von Dir beschriebenen Blickwinkel habe ich unsere Familiensituation bislang nie betrachtet. Natürlich habe ich das Verhalten meiner Mutter situativ als unverantwortlich, um nicht zu sagen fahrlässig und so oft als in hohem Masse unfair empfunden. Für mich war allerdings immer klar, dass es ihre Krankheit war, die meiner Seele und meinem Körper weh getan haben und nicht meine Mama selbst. Es war so viel leichter, das alles nicht persönlich zu nehmen.
Vielleicht hast Du recht, und dann wäre das nur das Hauptargument für eine kleine, heile Welt, die ich mir zusammengeschustert habe (aber, es gilt zu sagen, es lebt sich ganz gut darin).

Meinem Papa möchte ich keine Schuld zukommen lassen. Er leistet aussergewöhnliches. Er war der Puffer für so vieles. Er war es, der uns Kindern gezeigt hat, dass es möglich ist, andere Menschen und sich selbst gern zu haben und er hat grossen Wert darauf gelegt, dass wir nie vergessen, dass wir wunderbare Persönlichkeiten sind. Ich weiss nicht, wo ich heute stünde, wenn er nicht gewesen wäre.
Es ist ja nicht so, dass er nicht probiert hätte etwas zu bewegen. Was passiert wäre, wäre er mit mehr „Druck“ vorgegangen, weiss niemand. Es stellt sich die Frage, ob es einen Sinn ergibt, sich jetzt Gedanken darüber zu machen. Es ändert nichts mehr. Die Geschichte ist ein Teil von mir und meinem Leben heute.

Mit meinem Leben heute bin ich sehr zufrieden. Während meiner Ausbildung habe ich die Chance gekriegt, mich mit mir auseinanderzusetzen und diese habe ich genutzt. Ich glaube in dieser Zeit vieles verarbeitet zu haben. Das letzte Gespräch mit meiner Mutter allerdings, die Einzelheiten, die sie mir erzählt hat... Es hat Erinnerungen geweckt, die ich weit weggepackt hatte. Ich habe nichts mehr davon gewusst und plötzlich kann ich mich sogar fühlen, wie es mir als kleines Mädchen in jenen Situationen gegangen ist.
Ich glaube, ich kann damit umgehen. Ich glaube, ich habe schaffe das.
Allerdings fürchte ich mich davor, dass mich meine Vergangenheit irgendwann ein- oder sogar überholt. Vielleicht dann, wenn mir mein Leben am meisten Spass macht. So wie jetzt zum Beispiel.
Was mir auch zu denken gibt, ist die Sorge, dass ich irgendwann so werde wie meine Mama. Könnte das passieren? Ich wünsche mir nichts mehr, als irgendwann für meine eigenen Kinder die Mutter zu sein, die sie verdienen.

Ich möchte mich bei dir noch einmal herzlich für deine Worte und deine Offenheit bedanken! Wenn deine Mutter nur könnte, wäre sie heute vielleicht so stolz auf dich, wie du selber stolz auf dich sein darfst (ich hoffe, das bist du).

Simonetta

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Simonetta
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Beitrag So., 11.03.2012, 20:21

Ich möchte mich doch noch einmal melden...

In den letzten Tagen habe ich mir viele Gedanken über meinen Beitrag hier im Forum gemacht. Ich glaube, es war das erste Mal überhaupt, dass ich über "meine Geschichte" gesprochen habe.
Mir ist bewusst geworden, dass ich auch in Zukunft immer wieder mit meinem Leben von gestern konfrontiert sein werde. Ich denke, es macht Sinn, das alles aufzuarbeiten. Am besten nicht alleine. Aber mit einem Therapeuten??
Wann wäre es sinnvoll, eine Therapie zu starten. Wenn es mir gut geht, oder wenn eine Kriese da ist? Bei welcher Art von Therapeuten wäre ich denn am besten aufgehoben?
Weiss nicht so recht, war richtig ist...

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