Keinen Zugang zur Vergangenheit

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Stöpsel
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Keinen Zugang zur Vergangenheit

Beitrag Di., 23.11.2010, 02:13

Hallo liebe Leute,

jetzt hab ich doch mal wieder was, was ich hier fragen möchte. Und zwar hab ich keinen so rechten Zugang zu meiner Vergangenheit (also Kindheit, Jugendzeit usw.), also wenn wir in der Therapie mal drüber gesprochen haben. Die Vergangenheit ist halt so gelaufen, aber irgendwie lebe ich halt jetzt. Also es ist nicht so, daß ich mir das kopfmäßig so denke, sondern das hab ich wirklich verinnerlicht. Geht mir auch mit vielen anderen Dingen so: "Aus den Augen, aus dem Sinn" (was leider auch bedeutet, daß ich viele Dinge vergesse). Die Therapeutin hatte zwar öfter mal gesagt, daß sie wegen bestimmten Themen mit mir meine Biographie anschauen wollte, aber als ich da mal nachfragte, sagte sie selbst auch, daß sie bzgl. Vergangenheit keinen so rechten emotionalen Zugang von mir dazu merkt (und hörte sich schon so an, als wäre das außergewöhnlich). Also letztes Jahr hatten wir 1 1/2 Stunden nur über die Vergangenheit geredet, aber wie gesagt, das hab ich alles recht unemotional beschrieben. Jetzt, wenn wir über aktuelle Sachen aus meinem Leben sprachen, fragte sie manchmal, ob ich xy aus meiner Vergangenheit kenne. Da fiel es mir immer schwer, was dazu zu sagen, so aus dem Kontext gerissen. Ich könnte es vielleicht anders rum, länger über ein Thema aus der Vergangenheit reden (und wenn wir länger über irgendwas reden, kann ich mich vielleicht auch besser dran erinnern) und wenn dann was davon auf heute zutrifft/eine Rolle spielt, kann ich es vielleicht eher sagen (weiß ich aber auch nicht).
Dagegen macht es mich betroffen, wenn Dinge von früher sich auf heute auswirken und ich das merke. Also konkrete Dinge. Aber sowie die Auswirkung schwindet, schwindet auch die emotionale Betroffenheit. Ich denke, es funktioniert auch nicht, jetzt meine Leben in Angriff zu nehmen und nicht zu hadern und gleichzeitig emotional großen Zugang zu haben. Wenn ich emotionaleren Zugang hätte, würde ich bestimmt auch hadern.
Jedenfalls meine Frage: Geht/ging das von Euch auch jemandem so, da nicht so recht Zugang dazu zu haben? Spielt das für Euch eine Rolle? Wie geht ihr damit um? Ich frag mich ja auch, wie notwendig das ist, über früher zu sprechen, wenn man da nichts dazu spürt. Also rational sind mir Zusammenhänge schon klar, z.B. autoritäre Mutter, deswegen bin ich unsicher. Aber das weiß ich doch auch so, daß ich es bin. Was ändert es also?

Viele Grüße

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Nikka
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Beitrag Di., 23.11.2010, 11:24

Hallo Stöpsel,

ja ich kenne das sehr, sehr gut. Mir geht und ging es in meiner Therapie (Analyse) fast immer ebenso. Meine Therapeutin sagte immer, ich würde die Dinge sehr sachlich erzählen, wie ein Betrachter von außen. Sehr distanziert, auch erklärend, selbst analysierend, aber ohne Emotion. Dadurch war es auch für sie selbst schwierig, rauszufinden, was mich wirklich berührt und anrührt.

Auch mir ist aufgefallen, dass ich viele Dinge wirklich vergessen (oder verdrängt?) habe. Meine Schwester erzählt mir oft von Vorkommnissen in der Familie, an die ich mich null erinnere. Sie ist 8 Jahre jünger als ich, hat vieles erlebt, als sie echt noch ein Kind war, ich hingegen schon jugendlich, bzw. erwachsen. Wenn sie erzählt, ruft das teilweise sehr heftige Emotionen in mir hervor, auch wenn ich mich nicht aktiv an diese Dinge erinnere. Also muss etwas davon da sein. Ich erinnere mich dann an die Gefühle von damals, nicht an das Ereignis als solches.

Gab oder gibt es denn Situationen in der Arbeit mit deiner Therapeutin, die bestimmte Emotionen, die von früher kennst, hervorrufen? Ich hab dies sehr oft erlebt. Ich habe in der Arbeit mit meiner Therapeutin oft heftig reagiert und irgendwann habe ich verstanden, dass es um alte Gefühle geht. Diese kommen immer wieder in sich ähnelnden Situationen. Und so kommt oftmals auch das Erinnerungsvermögen an längst vergessene Dinge zurück.

Ich denke, mit bestimmten Dingen zu hadern ist normal, das kenne ich auch. Andererseits sollte man dies auch zulassen, auf sich wirken lassen und nicht einfach wegwerfen und wieder verdrängen.

Meine Analyse endet leider diese Woche (die Kassenfinanzierung endet nun nach 300 Stunden). Ich kann mir eine Eigenfinanzierung derzeit nicht leisten, sodass das Ende erstmal unumgänglich ist. Aber ich hadere jetzt nicht damit, sondern bin froh über die vergangenen 3 1/2 Jahre und darüber, was ich über mich herausgefunden und gelernt habe. Das ist sehr viel. Und irgendwann mach ich weiter.

LG
Nikka
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"Wenn du fühlst, dass in deinem Herzen etwas fehlt - dann kannst du,
auch wenn du im Luxus lebst, nicht glücklich sein."

(Tenzin Gyatso, 14.Dalai Lama)

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Stöpsel
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Beitrag Di., 23.11.2010, 21:04

Hallo Nikka,

danke für Deine Antwort.
Meine Schwester hat mir auch mal DInge erzählt, die ich entweder nicht mehr weiß (weil ich da sehr klein war, meine Schwester ist einiges älter als ich) oder auch vergessen habe, aber auch dann trifft es mich nicht sonderlich. Oder auch wenn ich mich selbst an Dinge erinnere, wo ich noch weiß, wie sehr es mich damals aufgewühlt hat, da hab ich heute emotional keinen Zugang mehr dazu. Ist umgekehrt wie bei Dir: Ich erinnere mich an das Ereignis (halt nicht an alle Nuancen), erinnere mich auch daran (aber eher rational), DASS ich Emotionen hatte, in die Gefühle selbst kann ich mich nicht mehr reinversetzen. Wahrscheinlich fehlt mir das genaue Vorstellungsvermögen/die genaue Erinnerung. Aber wenn ich z.B. mal sowas wie Super-Nanny schaue, wo man ja mitkriegt, wie Kinder mißhandelt werden oder so, da bin ich emotional immer sehr dabei.
Wenn sie erzählt, ruft das teilweise sehr heftige Emotionen in mir hervor
Kannst Du mal ein Beispiel sagen? Wie gesagt, ich kann mir das nicht so recht vorstellen, daß man heute lebt, sich mit heutigen Problemen rumschlägt und die eigene Reaktion gefühlsmäßig falscher Prägung von früher zuordnen kann.
Keine Ahnung, vielleicht liegt es bei mir ja auch dran, daß die Situationen heute auch immer einigermaßen berechtigt waren, so zu reagieren, wie ich es tat und es andere Erklärungen gab, warum ich anders reagiere als andere.
Gab oder gibt es denn Situationen in der Arbeit mit deiner Therapeutin, die bestimmte Emotionen, die von früher kennst, hervorrufen?
Positive Sachen viele (die kenne ich aber eher von meinen 20ern, haben nix mit meinen Eltern zu tun), negative: Na ja, wir hatten neulich einige Mißverständnisse und dementsprechend ging es echt heftig zu. Mit manchen hatte sie recht, mit manchem nicht, da war meine Angst, daß sie mich in eine falsche Schublade steckt. Und seitdem lange die Angst, daß sie schlecht über mich denkt (das ändert sich grade wieder). Ihrer Meinung nach ist ein großes Problem von mir, daß ich annehme, daß andere schlecht über mich denken. Und in dem Zusammenhang hatte sie auch mal erwähnt, daß es gut wäre, in die Vergangenheit zu gucken (aber kurz drauf fragte ich sie diesbezüglich, worauf sie eben meinte, sie hätte da bisher keinen emotionalen Zugang zur Vergangenheit bei mir gespürt).

Schön, daß Du soviel in Deiner Therapie gelernt hast und es auch so sehen kannst.

Viele Grüße

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Nikka
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Beitrag Mi., 24.11.2010, 15:11

Hallo Stöpsel,

mir geht es schon auch so, dass ich mich an viele Dinge erinnere, die aber dann sehr sachlich sehe und drüber rede. Ich kann dann auch ganz genau schildern, was ich damals dabei fühlte, wie das Ereignis für mich war etc. Oder ich erzähle, dass ich als Teenager sehr oft sehr allein war und mir gewünscht hätte, dass mich einfach mal jemand fragt, wie es mir geht. Das kann ich alles erzählen, auch die Gefühle dazu, aber ich fühle es nicht und deshalb kam es auch bei meiner Therapeutin nicht so an. Ich hab das eben erzählt, sehr anschaulich auch, aber das Gefühl dazu hat gefehlt. Und das tut es bei diesen Dingen eigentlich auch heute noch.
Sie hat dann immer gefragt, ob ich denn Mitgefühl mit mir hätte, oder eben mit dem kleinen Mädchen von damals. Das war und ist schwierig, sich da reinzuversetzen.

Anders bei Dingen, die ich durch meine Schwester erfahre. Ein Beispiel: Sie erzählte mal, zwischen meinem Vater und mir hätte es Streit gegeben, ich muss wohl so 14-16 gewesen sein (meine Schwester dann entsprechend 8 J. jünger). Streit gab es oft, meine Eltern untereinander oder auch wir Geschwister mit den Eltern. Im Verlauf kippte wohl mein Vater mir seinen Weißwein ins Gesicht....
Zum einen wusste ich das nicht mehr, zum anderen war ich so entsetzt und geschockt, als meine Schwester mir das erzählte. Da kam plötzlich das Gefühl hochgekrochen, das hatte was von Demütigung und Wut und purem Entsetzen. Mir kamen die Tränen....

Das meinte ich, wenn ich sage, dass ich viel eher Gefühle finde und auch fühle, wenn mir jemand etwas komplett Vergessenes erzählt.

Ich habe sehr viele Dinge von früher vergessen. Ich weiß, dass ich keine glückliche Kindheit und Jugend hatte, auch meine Geschwister natürlich nicht. Aber ich habe einfach verdrängt und vergessen, was passiert ist. Natürlich ist es erklärbar, warum das so ist bei mir, aber heute ist mir das bewusst und es macht mich traurig, weil letztlich die Gefühle dazu auch vergraben sind. Ich habe einfach irgendwann angefangen, alles über den Verstand abzuwickeln, habe für alles Erklärungen gefunden. So wurde alles erträglicher.

Letztlich machst du das wohl ähnlich und dein Inneres sträubt sich vielleicht gegen die Gefühle. Es ist ja alles schön erklärbar und logisch und man findet tausend Entschuldigungen, schützt sich und andere und lullt sich mit Erklärungen ein. Meine Therapeutin nennt das "pampern".
Wahrscheinlich fehlt mir das genaue Vorstellungsvermögen/die genaue Erinnerung. Aber wenn ich z.B. mal sowas wie Super-Nanny schaue, wo man ja mitkriegt, wie Kinder mißhandelt werden oder so, da bin ich emotional immer sehr dabei.
Das glaube ich nicht. Ich kann auch weinen, wenn ich entsprechende Dinge lese oder im TV sehe. Schließlich bin ich ja emotional nicht abgestumpft und das wird bei dir auch nicht so sein.
Das Ding ist, dass du wohl alles, was mit bestimmten Ereignissen, die schlimme Gefühle hervorgerufen haben, zu tun hat, verdrängt hast. In deiner Erinnerung sind die Dinge zwar da, aber das was unangenehm war, ist weg. Wegerklärt, zugedeckt, gepampert einfach. Das erfordert jahrelange Übung und irgendwann ist man so gut darin, dass man jedes Ereignis so erzählen kann, als hätte man es irgendwo gelesen.
Mit manchen hatte sie recht, mit manchem nicht, da war meine Angst, daß sie mich in eine falsche Schublade steckt. Und seitdem lange die Angst, daß sie schlecht über mich denkt (das ändert sich grade wieder). Ihrer Meinung nach ist ein großes Problem von mir, daß ich annehme, daß andere schlecht über mich denken.
Oh, das kenne ich auch sehr gut. Damit war ich lange beschäftigt in der Therapie, mich zu fragen, was die Therapeutin wohl von mir denkt. Auch was andere von mir denken und dass sie schlecht über mich denken, kenne ich. Aber ich glaube, das löst sich so langsam. Der Schlüssel liegt in einem selbst und in der eigenen Wahrnehmung.
Wichtig für mich ist, dass ich authentisch bin, dass ich nicht nur darüber sprechen kann, wie es mir geht, sonders es auch zeigen kann. So, dass es der andere wirklich spürt. Man kann ja sagen "Ich bin traurig." Wenn dieses Gefühl aber nicht geerdet ist und der andere das nicht spürt, wirkt es nicht echt. Der andere wendet sich im Zweifel ab. Naja....das ist wieder ein anderes Kapitel.

LG
Nikka
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