Psychologie in der Krise
Das Prekariat auf der Couch
Von Micha Hilgers
Psychotherapie lebt von und in Rahmenbedingungen - häufig mehr als sich ihre Betreiber bewusst machen. Denn längst regieren die Gesetze des kapitalistischen Marktes auch die Psychotherapieausbildungen. Dem elitären Bewusstsein psychoanalytischer Institute und ihrer Vertreter wird weniger durch tiefe Einsichten als durch Konkurrenz zahlreicher alternativer Ausbildungsangebote Einhalt geboten.
Zudem erweist sich, dass die Prognose vieler Patienten mit Untersozialisation, Defiziten bei Disziplin, elementärer Bildung und Ausbildung für klassische Psychotherapie gleich welcher Couleur wenig vielversprechend ist: Gesellschaftspolitische Rahmenbedingungen beeinflussen Verläufe, Ergebnisse und selbst Diagnosen innerhalb stationärer wie ambulanter Psychotherapie.
Nachdem Psychotherapie in den letzten Jahrzehnten seit ihrer Einführung 1967 als Kassenleistung bei den Primärkassen und 1971 auch bei den Ersatzkassen anerkannt ist, wurde sie immer mehr zu einem selbstverständlichen Leistungsangebot und fand immer größere Akzeptanz besonders in der Mittelschicht. Doch genau dies wird bei rasant schwindender Mittelschicht, wachsender Verarmung großer Bevölkerungsschichten und immensem Reichtum der Wenigen zum Problem: Der alte Vorwurf, Psychotherapie sei mittelschichtsorientiert, trifft mehr denn je zu, ohne dass die Behandlungsverfahren oder ihre Betreiber dies zu verantworten hätten.
Denn tatsächlich benötigt ein ambulanter Psychotherapiepatient mehr noch als ein stationärer so genannte Sekundärtugenden wie Disziplin, Zuverlässigkeit, Frustrationstoleranz und ein gewisses Regelbewusstsein. Daneben bedarf es einer basalen Bildung, die auch die Fähigkeit beinhaltet, sich selbst wenigstens ansatzweise zu reflektieren und in Frage zu stellen.
Die genannten Fähigkeiten werden jedoch , glaubt man den Klagen von Lehrern, und Arbeitgeberverbänden, im Elternhaus immer weniger vermittelt. Die durch zahlreiche Untersuchungen wie die Pisa-Studie belegte deutsche Bildungsmisere kompensiert diese Mängel nicht. Im Gegenteil produziert das deutsche Bildungssystem immer mehr Jugendliche ohne Schulabschluss, Schulabbrecher oder -verweigerer. Häufig wird monatelanges Fehlen von Schülern überhaupt nicht bemerkt oder hat keine Konsequenzen.
Schlechte Ausbildung, nachfolgende Arbeitslosigkeit und ein schlechter Gesundheitszustand im Vergleich zu anderen Bevölkerungsschichten sind Zwillinge: Defizitäre Sozialisationsbedingungen produzieren kränkere Menschen, die sich aus ihrem Elend mangels Fähigkeiten immer weniger selbst befreien können: Kein noch so gutes oder teures Gesundheitssystem kann die gravierenden Mängel bei Bildung und Ausbildung, Sozialisation und Sekundärtugenden heilen.
Dennoch findet eine Verlagerung von Kosten und Belastungen aus den Sozial- und Bildungsbudgets in jene der Gesundheitskassen statt. Sparwut oder mangelnde Motivation, benachteiligten Kindern und Jugendlichen bessere Chancen, Kitas und Förderung zu bieten, führen auf direktem Wege zu steigenden Kosten im Gesundheitswesen.
Es mangelt an Jugendhilfe, höheren und differenzierteren Hartz-IV-Sätzen für die Erziehungsberechtigten mit entsprechender Beratung und Begleitung. Schlechterer Allgemeinzustand, schlechte Ernährung, ungesunde Lebenswelten und mangelnde Anerkennung durch Berufstätigkeit fördern beides, somatische wie psychische Erkrankungen.
Für psychotherapeutische Behandlungsverfahren bedeuten die globale Finanzkrise und die wachsenden Verteilungsungerechtigkeiten, dass weder Ober- noch Unterschichtsangehörige angemessen versorgt werden können.
Tatsächlich dürfte eine Behandlung eines Topmanagers oder seiner Angehörigen, die über Jahreseinkommen von über einer Million Euro oder deutlich mehr verfügen, von vorneherein zum Scheitern verurteilt sein. Denn erstens sind Personen dieser Oberschichteinkommensgruppe gewohnt, nicht sich selbst, sondern die sie umgebenden Umstände zu verändern oder zu manipulieren und begeben sich daher allenfalls in psychiatrische Behandlung.
Zweitens sind die Einkommensunterschiede zwischen Behandler und Patient so gravierend, dass der Patient zu Recht Neid und Missgunst seines Therapeuten fürchtet, ebenso wie Verurteilungen, ob allgemeiner wie individueller Bereicherungen und Ungerechtigkeiten. Umgekehrt kann der Behandler diese Gefühle kaum abwehren und ist mit Moralismen beschäftigt, die die Aufnahme einer sachbezogenen Behandlung behindern.
Drittens vermischen sich persönliche Konflikte des Patienten unweigerlich mit jenen gesellschaftlichen Verwerfungen, die die öffentliche Debatte bestimmen: Das verletzte öffentliche Gerechtigkeitsempfinden lässt sich in der therapeutischen Beziehung nicht suspendieren.
Umgekehrt sind weite Bevölkerungsteile der Bildungs- und sozialen Unterschicht mit Psychotherapie überfordert: Dies gilt nicht nur für aufdeckende Psychotherapie sondern auch für verhaltenstherapeutische Verfahren, die gleichermaßen auf Motivation und Mitarbeit, Zuverlässigkeit und Frustrationstoleranz angewiesen sind.
Mitglieder untersozialisierter gesellschaftlicher Gruppen tendieren dazu, Konflikte als grundsätzlich von außen kommend zu erleben, sie denken meist nicht symbolhaft, womit rein aufdeckende Psychotherapie nahezu aussichtslos ist. Je geringer die Schulsozialisation ausgeprägt ist (und damit auch Frustrationstoleranz, selbstkritisches Denken und Wille zur Veränderung eigenen Verhaltens), desto geringer sind die Chancen für aufdeckende, selbstreflexive Verfahren.
Das so genannte Prekariat erhält immer weniger eine Grundausbildung, die zu einem verlässlichen, dauerhaften und disziplinierten Einhalten eines Psychotherapiekontrakts befähigt. Viel mehr als beim relativ einfachen und niedrig schwelligen Besuch beim Hausarzt sind für Aufnahme und Unterhaltung einer Psychotherapie Kompetenzen gefragt, wegen deren mangelnder Ausprägung diese Patienten ja gerade in Notlagen geraten sind.
In vielen Fällen sind Psychoedukation, psychopädagogische Programme und Trainings für Alltagskompetenzen oder verhaltenstherapeutische Angebote ratsam. Auch Suchtbehandlung oder Gewaltprävention ist sinnvoll. Doch solche Ansätze blockiert das deutsche Gesundheitssystem aus kurzfristig gedachten Kostengründen in der ambulanten Versorgung, während sie im stationären Bereich selbstverständlich sind. Zudem fehlen diese Module in herkömmlichen Psychotherapieausbildungen fast ganz.
Dennoch wird man viele Patienten aus der Unterschicht kaum psychotherapeutisch oder pädagogisch erreichen können und das Feld bleibt Streetworkern, Sozialarbeitern und Bewährungshelfern überlassen. Wer sich - ob zu Recht oder nicht - als Opfer jener Verhältnisse fühlt, die er intellektuell und alltagspraktisch kaum durchschaut, wird wenig Motivation zur Veränderung aufbringen.
Unterschichtsangehörige können weder die sie bestimmenden sozio-ökonomischen Rahmenbedingungen von Arbeit, Wohnen, Freizeitgestaltung, Bildung, Kultur und Kontakten verändern, noch erleben sie ihre Misere als Motivationsquelle zur Selbstveränderung.
Nirgends werden die Folgen sozialer Verelendung und Untersozialisation, von Sucht und Gewalt, psychischer und körperlicher Verwahrlosung, Schröderscher Agendapolitik, Globalisierung oder gescheiterter Migration deutlicher als in psycho-sozialen Einrichtungen, besonders der Psychiatrie. Doch die Hürde zu einer ambulanten, aufdeckenden oder verhaltenssteuernden Psychotherapie nehmen nur jene, die den Psychotherapeuten und ihrer Schicht potentiell ähnlich sind: Für die Konsequenzen verfehlter Sozial- und Bildungspolitik gibt es keine Psychotherapie.
Micha Hilgers ist Psychoanalytiker und Publizist in Aachen. Von ihm erscheinen: "Scham. Gesichter eines Affekts". "Mensch Ödipus. Konflikte in Familie und Gesellschaft". "Leidenschaft, Lust und Liebe", alle Vandenhoeck & Ruprecht.
Link: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/ ... cnt_page=1
FR-online: Das Prekariat auf der Couch
FR-online: Das Prekariat auf der Couch
Es ist krass, was man erreichen kann, wenn man sich traut. (Aya Jaff)
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Hi Caro:
interessanter Artikel, danke!
Hatte etwas Probleme, die Message herauszufiltern. Möchte er sich gegen Vorwürfe ineffektiver Psychotherapien wehren, und schiebt den Schwarzen Peter den Unterschichten zu, die seiner Meinung nach keinerlei "basale Fähigkeiten" besitzen, um eine PT erfolgreich zu gestalten?
Oder ist es ein Plädoyer für mehr Gelder, die für die Behandlung der kranken Unterschichten locker gemacht werden sollen?
fragend,
Sandy
interessanter Artikel, danke!
Hatte etwas Probleme, die Message herauszufiltern. Möchte er sich gegen Vorwürfe ineffektiver Psychotherapien wehren, und schiebt den Schwarzen Peter den Unterschichten zu, die seiner Meinung nach keinerlei "basale Fähigkeiten" besitzen, um eine PT erfolgreich zu gestalten?
Oder ist es ein Plädoyer für mehr Gelder, die für die Behandlung der kranken Unterschichten locker gemacht werden sollen?
fragend,
Sandy
ich denke eher letzteres. bzw. ein plädoyer für eine gesamtheitlichere sicht auf die gesellschaftlichen probleme.
die auslagerung der menschen, die angesichts schwieriger sozialer und "arbeitstechnischer" bedingungen krank werden und nicht mehr "funktionieren" in den "reparaturbetrieb medizin/psychotherapie" auszulagern ist definitiv zu kurz gegriffen, passiert aber. und die überlegung, wie sich gesellschaftl. veränderungen auch auf die individuelle PT auswirken können.
ob die einschätzung des autors nur die beobachtung eines einzelnen ist, kann ich nicht einschätzen. aber denke er beschreibt, dass sich PT den gesellschaftl. veränderungen durch armut, verwahrlosung etc etc nicht entziehen kann... er beschreibt eine form von gesellschaftl spaltung durch armut, bildungslosigkeit, sozialer ausgrenzung, etc, die eben nicht mehr durch den "reparaturbetrieb PT" aufgefangen werden kann. insofern sicherlich auch der appell, sich damit auseinanderzusetzen, wohin wir unsere steuermittel fliessen lassen wollen bzw. dass "man" schon viel früher ansetzen muss und die gesellschaft eben nicht in eine spaltung schlittern lassen darf, weil es PT für immer mehr leute eben nicht mehr wird "richten" können (was für den einzelnen ja immer eine herausforderung und frage ist, wie weit man sich selbst verändern kann und sich an den "eigenen ohren" wieder herausziehen kann, auch unter guten bedingungen)
die auslagerung der menschen, die angesichts schwieriger sozialer und "arbeitstechnischer" bedingungen krank werden und nicht mehr "funktionieren" in den "reparaturbetrieb medizin/psychotherapie" auszulagern ist definitiv zu kurz gegriffen, passiert aber. und die überlegung, wie sich gesellschaftl. veränderungen auch auf die individuelle PT auswirken können.
ob die einschätzung des autors nur die beobachtung eines einzelnen ist, kann ich nicht einschätzen. aber denke er beschreibt, dass sich PT den gesellschaftl. veränderungen durch armut, verwahrlosung etc etc nicht entziehen kann... er beschreibt eine form von gesellschaftl spaltung durch armut, bildungslosigkeit, sozialer ausgrenzung, etc, die eben nicht mehr durch den "reparaturbetrieb PT" aufgefangen werden kann. insofern sicherlich auch der appell, sich damit auseinanderzusetzen, wohin wir unsere steuermittel fliessen lassen wollen bzw. dass "man" schon viel früher ansetzen muss und die gesellschaft eben nicht in eine spaltung schlittern lassen darf, weil es PT für immer mehr leute eben nicht mehr wird "richten" können (was für den einzelnen ja immer eine herausforderung und frage ist, wie weit man sich selbst verändern kann und sich an den "eigenen ohren" wieder herausziehen kann, auch unter guten bedingungen)
Es ist krass, was man erreichen kann, wenn man sich traut. (Aya Jaff)
Das klingt plausibel. Ich hatte die Ausgangsbehauptung, "die PT soll es als Reparaturbetrieb der Nation mal richten", beim ersten Lesen nicht als solche erkannt.
Ich wusste nicht, dass die PT mit solchen gesellschaftlichen Forderungen konfrontiert wird.
Aus den Schulen kennt man die gleichen Probleme ja schon seit Jahrzehnten. Alle gesellschaftlichen PRobleme dringen auch in diesen Mikrokosmos ungefiltert ein und schaffen neue Herausforderungen, die mit den gegebenen Mitteln nicht gemanagt werden können. Eigentlich bräuchte jede Schule mind. 2 Schulpsychologen, damit könnten schon einige Probleme, die Hilgers schildert, angegangen werden. Aber auch hier gibt's keine Gelder und Ressourcen. Letztendlich schlittern wir mit einer solchen Politik wieder in die Zwei-Klassen-Gesellschaft des 19. Jhds. hinein.
Ich wusste nicht, dass die PT mit solchen gesellschaftlichen Forderungen konfrontiert wird.
Aus den Schulen kennt man die gleichen Probleme ja schon seit Jahrzehnten. Alle gesellschaftlichen PRobleme dringen auch in diesen Mikrokosmos ungefiltert ein und schaffen neue Herausforderungen, die mit den gegebenen Mitteln nicht gemanagt werden können. Eigentlich bräuchte jede Schule mind. 2 Schulpsychologen, damit könnten schon einige Probleme, die Hilgers schildert, angegangen werden. Aber auch hier gibt's keine Gelder und Ressourcen. Letztendlich schlittern wir mit einer solchen Politik wieder in die Zwei-Klassen-Gesellschaft des 19. Jhds. hinein.
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