Autonomie fördern (bei Langzeittherapien)?

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.

mio
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:15

isabe hat geschrieben: Nur wenn ich weiß, wie es ist, mich jemandem hinzugeben, kann ich frei sein.
Da stimme ich Dir zu, vor allem dass es um die Fähigkeit geht die man dabei selbst hat und die man auch nicht verliert (die Autonomie IN der Beziehung). Das wäre dann sozusagen die "Führung in die Autonomie" über die "erfolgreiche Erfahrung" dass das geht.

Wenn ich das als Patient aber bereits als "Wissen" und "Fähigkeit" mitbringe, dann werde ich das, was hier als "Abhängigkeit" bezeichnet wird (ich tue mich auch schwer mit diesem Wort und auch mit der "Strategie" wie diese erzeugt wird) als vertrauensvolle, sichere Beziehung erleben, nicht als "Abhängigkeit" von der Person des Therapeuten.

Da - wenn die Abhängigkeit der Weg zur Autonomie ist - geht es dann wohl eher darum, dass die "Symbiose" überwunden werden muss in der der Patient "feststeckt", weil er Beziehungen als "Entweder/Oder" Konzept begreift und (noch) nicht als "Sowohl-als-auch" Konzept.

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Speechless
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:21

"Gleichzeitig ist das die große Chance, die wir haben: Wir müssen deutlich machen, dass wir wirklich präsent sind und erkennen wie einsam und unverstanden unser Gegenüber sich eigentlich fühlt. Meistens haben die Klienten ständig Angst vor Bindungen und davor, jemanden zu brauchen, also in Abhängigkeit zu geraten. Ich sprach bereits in einem früheren Beitrag an, dass oft eine Entscheidung für die starke Autonomie, dass man niemanden mehr braucht, stattfindet. Das liegt in der Angst vor der Verletzlichkeit begründet, die dadurch entsteht, wenn man jemanden braucht. Es hängt oft auch mit der Überzeugung zusammen, dass einem etwas Schlimmes passiert, dass man ausgenutzt wird, oder die Person einen sowieso verlässt.
Echte Autonomie braucht davor eine Phase der Abhängigkeit. Und das fehlt Kindern, die keine Abhängigkeit erleben durften, weil da niemand war, der sie bemuttert hat. Wird das übersprungen, so entsteht eine Angst vor Abhängigkeit, die sich fest im Erwachsenenalter hält. Das äußert sich z.B. darin, dass sie nicht um Hilfe bitten können. Das wiederum ist aber ein entscheidender Faktor bei echter Autonomie. Leider wird in unserer Gesellschaft oft etwas Gegenteiliges vorgelebt."

Sehe ich auch so, Isabe


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isabe
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:25

Ich habe dabei an das berühmte Spiel gedacht, bei dem ein Mitspieler sich die Augen verbindet und sich vom anderen durch einen Raum führen lässt. Jemand, der das ablehnt und sich sagt: "Ich gehe lieber alleine", der ist ja nicht frei. Und der, der sich führen lässt, kann auf diese Weise erleben, dass nichts Schlimmes geschieht, wenn er sich in diese (natürlich nur momentane) Abhängigkeit begibt. Und das zu spüren, das macht frei. Ich denke, dass wirklich "tiefe" (= vertraute) Beziehungen nur so funktionieren. Und ich denke auch, dass jeder Mensch solche Beziehungen braucht. Bei denen er natürlich nicht nur nimmt, sondern auch gibt.

Das setzt natürlich voraus, dass man sich nicht von jedem x-Beliebigen führen lässt oder sich distanzlos allen Mitmenschen ungefragt auf den Schoß wirft. Aber das sollte Therapie ja auch nicht sein.


mio
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:30

Speechless hat geschrieben:Echte Autonomie braucht davor eine Phase der Abhängigkeit. Und das fehlt Kindern, die keine Abhängigkeit erleben durften, weil da niemand war, der sie bemuttert hat.
Es fehlt nicht die "Abhängigkeitserfahrung" (die macht jedes Kind zwangsläufig) sondern die Erfahrung, dass Beziehungen sicher sind und die "Abhängigkeit des Kindes" - die es naturgemäss HAT im Gegensatz zum Erwachsenen - nicht ausgenutzt wird oder enttäuscht/in einem Maße frustriert wird, die den Entwicklungstand des Kindes überfordert.

Und die auch nicht "verloren" gehen, wenn das Kind zunehmend autonom wird oder aus der heraus das Kind nicht gezwungen wird früher autonom zu werden, als es seiner Entwicklung nach kann.

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Ophelia12
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:31

Ich habe Angst vor Abhängigkeit und ich habe das Gefühl aus diesem Grund mich irgendwie zurückzuhalten bzw nicht viel zuzulassen ( sofern ich das steuern kann ).
Ich frage mich auf welche "Signale" man achten sollte wenn man merkt der Therapeut will einen abhängigmachen bzw der Therapeut macht etwas von dem ich abhängig werde.


Speechless
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:38

Natürlich werden Kinder teilweise zur Autonomie gezwungen in einem Alter, das zu früh für sie ist. Wie schon gesagt wurde: sie tun es dann, aber eben nicht frei und gewollt selbstständig, sondern ängstlich und weil sie müssen. Das ist dann keine wünschenswerte Autonomie.


mio
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:46

Speechless hat geschrieben:aber eben nicht frei und gewollt selbstständig, sondern ängstlich und weil sie müssen. Das ist dann keine wünschenswerte Autonomie.
Natürlich nicht, aber Erwachsene sind keine Kinder. Kein erwachsener Mensch ist vollumfänglich von einem anderen - speziellen - erwachsenen Menschen abhängig. Das ist, wenn es so vorliegt, einfach eine "Fehlüberzeugung", die in der eigenen Geschichte begründet liegt. Diese "Fehlüberzeugung" gilt es zu korrigieren. Und zwar nicht, indem "immer nur bedient" wird, sondern auf darüber, dass frustriert und gefordert wird. In Dosen die für den Patienten verträglich sind.

Ähnlich wie auch gute Eltern das Kind immer so weit frustrieren, wie das Kind es seinem Entwicklungsstand gemäss ertragen und aushalten kann. "Übervorsorgliche" Eltern erziehen ihre Kinder ja auch nicht zu autonomen Erwachsenen sondern "halten das Kind über die Überversorgung klein". Reifung/Wachstum braucht auch (emotionale) Frustration/Grenzen, eben damit das Kind sieht: Ist zwar doof, aber nicht das Ende von mir.... Und auch, damit es "erwachsenere Bewältigungstrategien" lernt, also zB. anstatt einen Wutanfall zu bekommen, weil das eigene Bedürfnis frustirert wurde, mit den Eltern über die Bedürfnisse verhandelt.


Speechless
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:48

Häh, was hat denn Abhängigkeit damit zu tun, dass immer nur bedient wird? Das ist doch totaler Quatsch. Außerdem habe ich gerade spezifisch von Kindern gesprochen.


Abhängigkeit heißt für mich wie Isabe auch schon gesagt hat, etwas zu riskieren und sich für eine bestimmte Zeit einzugestehen, jemanden zu brauchen.
Zuletzt geändert von Speechless am So., 08.01.2017, 15:51, insgesamt 2-mal geändert.


MariJane
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:50

Ophelia12 hat geschrieben:Ich habe Angst vor Abhängigkeit und ich habe das Gefühl aus diesem Grund mich irgendwie zurückzuhalten bzw nicht viel zuzulassen ( sofern ich das steuern kann ).
Ich frage mich auf welche "Signale" man achten sollte wenn man merkt der Therapeut will einen abhängigmachen bzw der Therapeut macht etwas von dem ich abhängig werde.
Ist es in deinem Fall nicht kontraproduktiv, wenn du anfängst dich mit Signalen zu beschäftigen, die darauf hindeuten, dass der Therapeut dich abhängig machen will? ist das nicht schon Abhängigkeit? Wenn auch eine, die eben genau das verhindern möchte? Weil du dabei beim Therapeuten bist und nicht mehr bei dir?

Ich frage, weil ich mir nicht sicher bin. Ich hab das in meiner ersten Therapie so erlebt, dass ich abhängig wurde in Form von "mich um den Therapeuten drehen, statt um mich"- wer er ist, ob ich ihm vertrauen kann, war wichtiger als meine Problemlage. Und diese Form der Abhängigkeit fand ich nicht gesund. In meiner jetzigen Therapie frag ich mich schon, was mach ich denn ohne den und finde das nicht ungesund. Es spricht einfach für eine gute therapeutische Beziehung. Für mich.


mio
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:51

Speechless hat geschrieben:was hat denn Abhängigkeit damit zu tun, dass immer nur bedient wird
Für sich genommen erst mal nichts, aber hier ging es ja darum, wann und warum "Abhängigkeit" problemtisch werden kann und das ist eben der Fall wenn immer nur bedient wird ohne auch mal zu frustrieren und zu fordern. Also dem "Abhängigkeitsgesuch" des Patienten zu sehr und zu vollumfänglich nachgegeben wird.


Speechless
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Beitrag So., 08.01.2017, 15:53

Ok, ich bin thematisch nicht bei der ungesunden Abhängigkeit, davon hab ich eh schon soviele Negativbsp gelesen. Darüber könnte man wahrscheinlich Bücher füllen.


mio
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Beitrag So., 08.01.2017, 16:00

Speechless hat geschrieben:Ok, ich bin thematisch nicht bei der ungesunden Abhängigkeit.
Auch die "positive Abhängigkeit" kann ein Schuss ins Knie werden, so nicht acht gegeben wird. Stell Dir vor Deine Therapeutin oder Dein Therapeut stirbt überraschend oder ihr geratet in einen "nicht lösbaren" Konflikt miteinander so dass die Therapie beendet werden muss. Dann hast Du als "zu abhängiger" Patient die Arschkarte, so nicht auch Deine Autonomie gestärkt wurde in der Therapie.

Das ist ja die Gefahr die besteht, wenn zu sehr "in der Abhängigkeit" gearbeitet wird. Also die Regression zu sehr gefördert wird. Dann hast Du am Ende einen noch hilfloseren Patienten als vorher. Weil Du ihm alles "bisherige" "weggenommen" hast, ohne ihm gleichzeitig was "neues" mit an die Hand zu geben. Ich halte sowas für einen Behandlungsfehler.

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Ophelia12
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Beitrag So., 08.01.2017, 16:04

MariJane hat geschrieben:
Ophelia12 hat geschrieben:Ich habe Angst vor Abhängigkeit und ich habe das Gefühl aus diesem Grund mich irgendwie zurückzuhalten bzw nicht viel zuzulassen ( sofern ich das steuern kann ).
Ich frage mich auf welche "Signale" man achten sollte wenn man merkt der Therapeut will einen abhängigmachen bzw der Therapeut macht etwas von dem ich abhängig werde.
Ist es in deinem Fall nicht kontraproduktiv, wenn du anfängst dich mit Signalen zu beschäftigen, die darauf hindeuten, dass der Therapeut dich abhängig machen will? ist das nicht schon Abhängigkeit? Wenn auch eine, die eben genau das verhindern möchte? Weil du dabei beim Therapeuten bist und nicht mehr bei dir?
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Das kann sein. Es kann aber auch sein das ich mega misstrauisch bin und sehr vorsichtig. Naja und unsicher.
Ich dachte halt, es gibt das und das und das kann Patienten abhängig machen. , aber das hat wahrscheinlich eher etwas mit mir als mit ihr zu tun.


Sunna
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Beitrag So., 08.01.2017, 16:04

Das Problem der doppelten Bedeutung des Begriffs Abhängigkeit sollten wir alle beachten. Den Begriff benutze ich hier auch rein für die gesunde Abhängigkeit und die Beiträge davor habe ich ebenso verstanden. Aus der Thematik der negativen Abhängigkeit würde ich mich derzeit gerne heraushalten.

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sandrin
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Beitrag So., 08.01.2017, 16:05

Ich würde auch sagen, dass eine gute und stabile Beziehung bzw. ein Arbeitsbündnis (so wird es ja auch genannt) nichts mit Abhängigkeit zu tun hat. Meines Erachtens muss man das gut auseinanderhalten.

Und zum Punkt, dass auch Therapeuten Risiken eingehen. Was das Burnout-Risiko angeht, ja. Aber das haben Erzieher, Lehrer, Ärzte usw. auch. Hier kommt es tatsächlich darauf an, sich gut abgrenzen zu können. Und ehrlich gesagt hoffe ich auch, das ein Therapeut das kann, sonst könnte ich mich nie dort wirklich fallen lassen, weil ich immer Angst hätte, ihn mit in den Dreck zu ziehen. Außerdem habe mehrere Male deutlich die Erfahrung gemacht, dass es durchaus Therapeuten gibt, die sich abschütteln, wenn ihnen das Ganze um die Ohren fliegt, um dem Patienten die Last dann mit auf den Weg geben.

Mein Fazit: Ein gewisses Einlassen ist sicherlich nötig, eine Abhängigkeit für mich aber niemals erstrebenswert.

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