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Mi., 18.03.2020, 23:21
Gestern in der SZ (SZ Espresso): in der SZ ... :
Um jeden Preis?
Die Gesellschaft wird in eine tiefe Depression gestürzt, warnt Historiker René Schlott.
Die Selbstverständlichkeit, mit der Einschränkungen unseres Alltags hingenommen werden, ist besorgniserregend. Wird die offene Gesellschaft erwürgt, um sie zu retten?
Aristoteles definierte den Menschen als "zoon politikon" als ein gemeinschaftsbildendes, gemeinschaftssuchendes Wesen, das ohne sein Gegenüber nicht existieren könne. Gut 2300 Jahre später versuchen Regierungen weltweit unter Berufung auf Virologen, diese Grundtatsache außer Kraft zu setzen. Nicht anders ist der Aufruf der Bundeskanzlerin zu verstehen, jeder solle seine sozialen Kontakte "weitestgehend einstellen". Diese Empfehlung ist ungefähr so sinnvoll, wie die Fische zu bitten, das Wasser zu verlassen, um ihr Überleben zu sichern.
Der Staat setzt die Menschen einem Experiment mit völlig ungewissem Ausgang aus. Mit atemberaubender Geschwindigkeit und mit einer erschütternden Bereitwilligkeit seitens der Bevölkerung werden Rechte außer Kraft gesetzt, die in Jahrhunderten mühsam erkämpft worden sind: das Recht auf Versammlungsfreiheit, die Religionsfreiheit, das Recht auf Bildung, das Recht auf Freizügigkeit, die Freiheit von Lehre und Forschung, die Freiheit der Berufsausübung, die Gewerbefreiheit, die Reisefreiheit. Die Reaktionen auf diesen Artikel werden zeigen, wie es um die Meinungsfreiheit bestellt ist und inwiefern vom Primat der epidemiologischen Kurve abweichende Einstellungen noch toleriert werden.
Studierende, die sich aus Norditalien im letzten Moment in ihre Heimat im Süden des Landes aufgemacht haben, wurden in den deutschen Medien als verantwortungslos gebrandmarkt. Bis vor wenigen Tagen galt die Familie hierzulande noch als Keimzelle der Gesellschaft. Wer jetzt nichts absagt, gilt als asozial. So wurde eine Dynamik in Gang gesetzt, in der man sich nur noch in der Frist überbieten kann, bis zu der man alle Veranstaltungen cancelt. Bis zum Schuljahresende haben viele Bundesländer alle Klassenfahrten gestrichen, bis zum 20. Juli, also für vier Monate, sind an der FU Berlin alle wissenschaftlichen Konferenzen abgesagt. Aber wer kann schon hundertprozentig sagen, wie sich die Situation bis dahin entwickeln wird?
Wenn man es nicht besser wüsste, ließe sich das Procedere der letzten Tage wie das Drehbuch einer rechtspopulistischen Machtübernahme lesen. Aber wo die Maßnahmen einmal in der Welt sind, das Exempel statuiert ist, wer will dann ausschließen, dass dieselben Einschränkungen der Grundrechte einmal im Namen einer anderen vermeintlichen Notsituation wieder aktiviert werden? Dann mit Verweis auf das Jahr 2020, als das alles schon einmal notwendig gewesen sei und von der Bevölkerung allenfalls mit Hamsterkäufen hingenommen wurde. Die Schließung der Grenze zu Österreich, unter anderem mit der Begründung, "Hamsterkäufe" aus dem Nachbarland zu verhindern, ist ein Schlag ins Gesicht all derjenigen, die bis vor wenigen Tagen die Politik der offenen Grenzen verteidigt haben. Das Grundrecht auf Asyl wird obsolet gemacht. Der humanitäre Dammbruch ist da.
Wissenschaft, Kunst, Kultur, Sport, sogar Bildung ist plötzlich verzichtbar.
Nicht das Virus ist für diese Entwicklungen verantwortlich. Sie sind menschengemacht. Das Virus schließt nichts und sagt nichts ab. Es sind Entscheidungen von Verantwortungsträgern im Umgang mit dem Virus, die zum Shutdown führen. "Alternativlos" - das Unwort des Jahres 2010, geistert wieder herum. Dabei ist nichts "alternativlos". Es ist alarmierend, wie rasch Wissenschaft, Kunst und Kultur, Sport, ja sogar die Bildung der Kinder für verzichtbar erklärt werden. Nichts offenbart das wahre Gesicht unseres Gemeinwesens besser als die Tatsache, dass einzig Wirtschaft, Konsum und Börsen aufrechterhalten werden sollen, als sei dies der einzige Daseinszweck unserer fortschrittlich geglaubten Gemeinschaft.
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Wurde bei den Beratungen im Kanzleramt auch einmal ein Soziologe oder eine Soziologin hinzugezogen, der oder die sich mit den Mechanismen des Zusammenhalts sozialer Beziehungen auskennt und vor dem Punkt warnen konnte, an dem eine Gesellschaft bricht? Hat man einen Psychologen konsultiert, der sich mit den Risiken von negativen Ankündigungen auf Massen beschäftigt hat? (...ff...)
ch-ch-ch-chaaaaaaange
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