PT-Blog: Auf dem Weg in die soziale Kontrollgesellschaft?

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mio
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Beitrag So., 19.07.2020, 10:26

hawi hat geschrieben: So., 19.07.2020, 10:12 Über das System bestimmt nie ein einzelner, immer nur eine oder mehrere Gruppen.
Gruppen setzen sich aber aus Einzelnen zusammen, also bestimmt am Ende auch der Einzelne bzw. viele Einzelne.

Ich finde es fängt bereits damit an dass innerhalb von Gruppen Homogenität erwartet wird, seit wann ist das so? Und vor allem warum ist das so?

Wenn ich zB. mal auf meine linksalternative Vergangenheit zurückblicke so ist mir dieses Phänomen erstmals Anfang der 90er hier in der Großstadt begegnet. Damals hatte ich einige Freunde und Bekannte die enge Kontakte zur hiesigen linken Szene rund um die rote Flora hatten. Diese Szene funktioniert mindestens so spießig und dogmatisch wie jene dörfliche Gemeinschaft der ich glücklich entkommen war, das hat mich schon damals schwer erstaunt und ich habe beschlossen dass ich sicher kein Teil dieser Gruppe werden möchte weil mein Verständnis von "links" und "alternativ" ein anderes war als deren Verständnis. Auf dem Dorf bzw. in kleineren Städten war mir das vorher so nie begegnet, dort regulierte diese Szene sich schon aufgrund der geringeren Anzahl an "gleichdenkenden" dahingehend selbst. Es wäre gar nicht möglich gewesen eine Gruppe zu bilden hätte man nicht auch abweichende Meinungen oder abweichendes Verhalten akzeptiert.

Das war übrigens auch das was ich in Bezug auf den "Stammtisch" meinte: Dort haben/hatten die Menschen oftmals gar nicht die Möglichkeit einander langfristig auszuweichen wenn sie "Teil einer Gruppe" sein wollten, zumindest bei uns im 800 Seelen Dorf war das so. Dh. man musste sich auseinandersetzen oder zumindest tolerieren dass es da jemanden gibt der nicht der eigenen Meinung ist ohne gleich Pickel im Gesicht zu bekommen. Es war schlicht nicht anders möglich wenn man nicht komplett auf die Gemeinschaft verzichten wollte. Leben und leben lassen lautete die Devise.

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hawi
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Beitrag So., 19.07.2020, 10:47

mio, viel von dem, was du beschreibst, passt zu dem, was ich selbst erlebt habe.

Mal zum Dorfstammtisch, den ich kaum kenne: glaubst du, dass sich da alle zu allem „outen“ (konnten/können)? Die pazifistische, feministische Veganerin? Konnte, kann die dort meinungsfrei sein?
In passender Großstadtgruppe kann sie es, dafür hat dort mein gedachter Dorfstammtischler keine Chance.
Vorurteil? ::?
LG hawi
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mio
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Beitrag So., 19.07.2020, 11:10

hawi hat geschrieben: So., 19.07.2020, 10:47 Mal zum Dorfstammtisch, den ich kaum kenne: glaubst du, dass sich da alle zu allem „outen“ (konnten/können)?
Das kommt auf die jeweilige Person an, also ob sie es "wagt" oder ob sie es nicht wagt.

"Bekannt" ist auf dem Dorf eh mehr oder weniger alles, und sei es auch nur "unter der Hand". Es ist einfach zu "eng" als dass man dort wirklich gut ein "geheimes Leben" führen könnte und im Grunde ist es besser selbst in die Offensive zu gehen als sich von anderen was "unterschieben" zu lassen das am Ende vielleicht gar nicht stimmt.

Der Phantasie von "Dörflern" sind kaum Grenzen gesetzt wenn es darum geht den "Sonderling" zu kategorisieren, man tut also gut daran sich selbst zu kategorisieren wenn man irgendwie mit den Leuten auskommen möchte. Tut man es nämlich nicht dann nehmen sie es einem ab und das ist dann die deutlich schlechtere Alternative meiner Meinung nach.

Was da dann als "akzeptiert" gilt bzw. "öffentlich besprechbar" ist liegt ja immer auch an beiden Parteien. Dh. selbst ein Outing nutzt einem nichts wenn der andere damit nicht umgehen will. Umgekehrt kann ich aber auch nur schlecht etwas verbergen wenn ich Teil dieser Gruppe sein möchte/bin.

Inwieweit der Einzelne also die Energie aufbringt/aufbringen möchte etwas Abweichendes zu vertreten lässt sich pauschal so nicht sagen, aber das Wesen einer "Zwangsgemeinschaft" (so diese halbwegs funktioniert) ist eben dass man es sich nicht aussuchen kann sondern nehmen muss was da ist.

Frei nach Adenauer:

„Nehmen Sie die Menschen wie sie sind, andere gibt’s nicht.“

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hawi
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Beitrag So., 19.07.2020, 18:09

noch ein wenig zu „cancel culture“ (das ich für mich erst mal eher in Richtung Boykottkultur, nicht so sehr in Richtung Löschkultur, übersetze).

Mag ja noch kommen, aber das was es in D mal als „cancel culture“ gab, sehe ich zur Zeit hier nicht. Mir fallen aus den 1970er und 1980er Jahren diverse Beispiele ein, die ich dazu rechnen würde.

Z.B. Mehrfach betroffen der Kabarettist Dieter Hildebrandt. Seine „Notizen aus der Provinz“ beim ZDF wurden damals – aus meiner Sicht – nach zuviel Druck von rechts, abgesetzt, zuvor wurde die Sendung zweier Folgen verhindert. Hausrecht?
Danach, der „Scheibenwischer“ bei der ARD? Eine Folge in Bayern nicht zu sehen!
Dazu: https://de.wikipedia.org/wiki/Dieter_Hi ... #Fernsehen
War oft spannend, ob seine Sendungen überhaupt zu sehen waren.

Leider vieles heute nicht so gut im Netz zu finden, wie ichs mir wünschen würde. Manches gar nicht.
Aber damals schon manches, das gar nicht erst gesendet wurde (damals gabs nur die öffentlich-rechtlichen Sender) und auch politische Sendungen, die mittendrin ausgeblendet wurden.

Heute kurioses Beispiel: Die Zeichentrickserie Schweinchen Dick wurde in den 1970ern nach Elternprotesten wegen der vermeintlichen gewaltverherrlichenden Darstellung vom ZDF abgesetzt
https://de.wikipedia.org/wiki/Schweinchen_Dick

Die LP „über kurz oder lang“ des Liedermachers „Robert Long“ wurde 1979 kurz nach ihrem Erscheinen aus dem Verkauf genommen. Im Netz dazu nichts zu finden.
Ich weiß nicht mehr, ob dem eine Gerichtsentscheidung zu Grunde lag, oder ob EMI dem Druck mindestens der katholischen Kirche nicht standhielt. Grund war jedenfalls der Song „Jesus führt“. Bis heute auf deutsch z.B. auf youtube nicht vertreten, und auch sonst eine Seltenheit. Eine Zeitlang gab es für Robert Long damals auch im Radio deutschlandweit ein Sendeverbot. Songtext, Anlass des Boykotts, hier:https://lyrics.fandom.com/wiki/Robert_L ... F%C3%BChrt

Vergleichbares heute? Ich glaub, ich schrieb es bereits, mir so massiv heute nicht (mehr) bekannt.

LG hawi
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mio
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Beitrag So., 19.07.2020, 20:30

Als Beispiel für "cancel culture" in D würde mir spontan die Diskussion um Bernd Lucke einfallen, allerdings kann hier nur von dem Versuch gesprochen werden einen "politisch missliebigen Professor" zu entfernen, da ohne entsprechenden Erfolg.

In den USA scheint die Lage diesbezüglich etwas anders zu sein als bei uns soweit ich das beurteilen kann, aber ich denke wir sollten aufpassen dass es sich nicht in eine ähnliche Richtung entwickelt.

Schon heute gibt es einen starken ich nenne es mal "Konsumentenlobbyismus" bei uns der sich durch viele Bereiche zieht, bis hin ins Bildungssystem. Grund dafür: Die Konkurrenz unter Schulen um Schüler. Eine Freundin von mir die in Bayern an einem Gymnasium unterrichtet muss zB. ihren Notenspiegel nach unten korrigieren wenn eine Klausur zu schlecht ausfällt damit es keine Beschwerden aus der Schüler- bzw. Elternschaft gibt und das obwohl sie sich an den Lehrplan hält und das Wissen im Unterricht wie vorgeschrieben vermittelt hat (bzw. es halt versucht hat). Dass die Kinder vielleicht einfach schlicht falsch auf dem Gymnasium sind? Oder mehr tun müssten? Diese Frage darf oft gar nicht erst diskutiert werden...am Ende nehmen die Eltern ihre Kinder noch von der Schule und melden sie bei der Konkurrenz an.

Auch in Redaktionen und Verlagen kannst Du solche "Vorgänge" teils beobachten, dort ist es die Wirtschaft bzw. die Anzeigenkundschaft die den redaktionellen Inhalt teils massgeblich mit beeinflusst, da wird dann der kritische Artikel über den Kunden entweder gar nicht gebracht oder aber in abgemilderter Form aus Angst den Anzeigenkunden sonst zu verlieren.

Dh. es geht hierbei weniger um eine "staatliche Macht" als um die Macht des "Konsumenten" im weitesten Sinne vor der wiederum dann der durch den Staat geschützt werden muss der unrechtmässig boykottiert wird.

Nun kann man die Frage stellen: Ja aber wo fängt das denn an? Habe ich als "Kunde" denn nicht das Recht das zu tun? Die Antwort darauf ist gar nicht so einfach, denn ja, einerseits hat man das Recht das zu tun, andererseits kann es aber auch schnell unfair werden wenn auf diese Art und Weise Druck aufgebaut wird der letztlich nur den eigenen politischen oder sonstigen Interessen dient. Das hat dann mit "demokratischer Freiheit" nicht mehr viel zu tun sondern birgt die Gefahr in sich in ein "diktatorisches System" abzudriften.

Wobei die Problematik in meinen Augen weniger der Boykott als solcher ist als der Aufruf zum Boykott.

Würde heute jemand sagen: "Kauft nicht beim Türken!" dann wäre die Analogie ziemlich schnell klar. Sagt hingegen jemand: "Geht nicht zu dem (vermeintlichen) Rassisten in die Vorlesung!" oder kauft nicht die Bücher von dem und dem weil der angeblich zu "rechts" ist dann handelt er im Auftrag der "guten Sache". Dabei ist der Kern der Sache - der Versuch das "Andersartige" zu diskriminieren bis hin zu beruflich vernichten - gar nicht so unterschiedlich, nur die Vorzeichen sind andere.

Und die Gefahr die das mit sich bringt ist eben eine "Meinungsdiktatur" der anderen Art, eben jene "soziale Kontrollgesellschaft" die sich aus der eigenen politischen Agenda speist der nicht widersprochen werden darf bzw. die nicht kritisch hinterfragt werden soll weil bereits das als "unzulässiger Angriff" gewertet wird.

Die USA sind uns da glücklicherweise noch um Meilen voraus würde ich mal sagen, aber wenn wir nicht aufpassen, dann laufen auch wir Gefahr in einem solchen Klima zu landen, andeuten tut es sich bereits.

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hawi
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Beitrag Mo., 20.07.2020, 07:26

mio hat geschrieben: So., 19.07.2020, 20:30 Die USA sind uns da glücklicherweise noch um Meilen voraus würde ich mal sagen, aber wenn wir nicht aufpassen, dann laufen auch wir Gefahr in einem solchen Klima zu landen, andeuten tut es sich bereits.
Hallo mio,
danke dass du vor allem zu den Boykotten, Boykottversuchen der „Allgemeinheit“ was geschrieben hast. Mir fallen immer zuerst die staatlichen „Sperr – Aktionen“ ein.

Vielleicht auch, weil das, was mir umgekehrt einfällt, so erfolgreich meist nicht war.
Zunächst wieder weit zurück: Habe mich ja durchaus an dem ein oder anderen „Boykott“ selbst beteiligt. „Boykott“ der Springer Presse, der Bild-Zeitung?! Boykott von Aldi (weil die keine Mehrweg Verpackungen hatten)?! Wirklich geschadet hat das diesen Konzernen wohl nicht.
Gilt – soweit ich sehe – bis in die heutigen Tage. Dies, das und jenes aus welch Grund auch immer nicht zu konsumieren, oder umgekehrt nur ganz bestimmte Produkte von erwählten Betrieben zu nutzen? Es wimmelt an Begründungen, politisch-ethischen, warum der eine Konsum nicht sein darf, der andere sein „muss“. Nicht dass das gar nicht wirken würde, aber im Sinne von „cancel culture“ wirkt es meist nicht, bislang nicht. Die Vielfalt wächst. Das „boykottierte“ verschwindet nicht, es bekommt „nur“ Konkurrenz.

Druck der Konsumenten? Jepp, Macht haben, hätten die. Doch auch grad diese Seite? Vielfältiger geworden, damit noch schwerer als früher unter einen Hut zu bekommen.

Wenn (nun) also eine Seite, eine Gruppe sagt, boykottiert dies oder jenes? Nicht unwahrscheinlich, dass das andere dazu bringt, zu widersprechen, zu sagen, Leute unterstützt das, was da grad boykottiert werden soll.

Klima des Miteinanders? Sicherlich nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen, wenn auch so der „Diskurs“ geführt wird. Nichts für die, die meinen, bereits, Ärger, Schimpfen, u.ä. wären gefährlich. Seh ich meist, oft nicht. Sicher schwierig, die Grenze zum Unzulässigen zu ziehen, zu finden. Vielleicht pauschal gar nicht möglich.
Bei mir wirken da wohl auch die Lebensjahre, es nicht so aufgeregt wie mancheiner heute zu sehen. Die „Polarität“ der 1970er und 1980er Jahre? Gegen die damaligen Beschimpfungen, Schmähungen, Lügen, üblen Nachreden, wirkt so manches heute auf mich eher weichgespült.

LG hawi
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stern
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Beitrag Mo., 20.07.2020, 20:53

Na ja, Werbung gibt es ja auch... also quasi das Gegenstück zum Boykott mit der Botschaft: Kauft Nutella, denn Nutella ist eine gute Sache. Wenn/da das ja auch o.k. ist, sollte auch sagbar sein: Kauft xy lieber nicht, denn es ist keine gute Sache. Die Wertung (gut/schlecht) unterliegt in D der Meinungsfreiheit wie ebenso meist Boykottaufrufe (was nicht zulässig ist, ist wie gesagt reglementiert, sowohl was Werbung als auch Boykottaufrufe angeht). Und es ist ja auch keinesfalls gesagt, dass Leute folgen. Es sind oft sogar die Verkäufer selbst, die manches aus dem Sortiment nehmen (oder Werbefiguren bei Engleisungen absetzen).Schutz des Image. Und ja, ein Boykottaufruf kann auch dazu führen, dass Leute auf den Boykott aufmerksam machen und zum Kauf aufrufen... oder sich ein anderer Verlag whatever anbietet. Es muss ja niemand folgen.
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mio
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Beitrag Mo., 20.07.2020, 22:12

Ich meinte keine Konzerne sondern Personen die boykottiert werden aufgrund ihrer politischen Gesinnung, einer kritischen Meinungsäußerung oder aus religiösen Gründen oder oder oder.

Diese Personen haben ja wie alle anderen Menschen auch ein Recht auf die freie Äußerung ihrer Meinung und auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit etc. und deshalb finde ich es undemokratisch solche Menschen dann zB. bei der Ausübung ihres Berufs zu boykottieren nur weil einem die Parteizugehörigkeit oder die Meinung oder die Religion nicht gefällt und damit letztlich auf unlautere Art und Weise Druck auf diese Personen auszuüben.

Nur weil es sich dabei um meinen "politischen Gegner" handelt der in meinen Augen für die falsche Sache eintritt habe ich ja nicht das demokratische Recht dem zu schaden oder Druck auf ihn auszuüben sonder es ist ein Verstoß gegen die demokratischen Rechte meines Gegenübers.

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stern
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Beitrag Mo., 20.07.2020, 23:11

mio hat geschrieben: Mo., 20.07.2020, 22:12 Ich meinte keine Konzerne sondern Personen die boykottiert werden aufgrund ihrer politischen Gesinnung, einer kritischen Meinungsäußerung oder aus religiösen Gründen oder oder oder.
Das ist jedem selbst überlassen, einen Aufruf gegen einen Konzern oder gegen eine Einzelperson aufzurufen... ist in D meist von der Meinungsfreiheit abgedeckt mit folgender Begründung:
Die Prämisse des BGH besteht darin, dass der Boykottaufruf regelmäßig dann von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, wenn er nicht im eigenen wirtschaftlichen Interesse erfolgt, sondern in der Sorge um politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Belange der Allgemeinheit und damit also der Einwirkung auf die öffentliche Meinung dient.
https://www.internet-law.de/2016/02/bgh ... rufen.html


Kann man natürlich anders sehen... aber hierzulande gibt es offiziell Tendenzen, wie Gerichte das werten. Das impliziert: Egal welche Seite sich zu Unrecht behandelt sieht: Man kann das juristisch prüfen lassen. Ist in den USA mglw. auch anders.

Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit wird ggf. mit dem Recht auf (diese) Meinungsäußerung abgewogen. Das beinhaltet aber keine Absatzgarantie für eigene Produkte oder Dienstleistungen.


Auch ein interessantes Beispiel (das man aber im Kontext lesen sollte... ich zitiere verkürzt). Stichwort: Parteizugehörigkeit.

„Ab sofort empfehle ich, nicht mehr zum Friseur …in #… zugehen. Inhaber ist ein #AFD ler. Man weiß nie, wo die Schere ansetzt.“

...

Nach Auffassung des Oberlandesgerichts begründet der Aufruf, die Dienstleistung des Klägers nicht mehr in Anspruch zu nehmen, keinen rechtswidrigen Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb. Die Äußerung, der Kläger sei Mitglied der AfD, sei eine wahre Tatsachenbehauptung, deren Verbreitung nicht untersagt werden könne. Der Satz: „Man weiß nie, wo die Schere ansetzt.“ stelle keinen rechtswidrigen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht des Klägers dar, sondern eine sarkastische und in zulässiger Form zugespitzte Äußerung im Wahlkampf.

Der Entscheidung des OLG ist zuzustimmen. Das Bundesverfassungsgericht betont regelmäßig die hohe Relevanz der Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1 GG für die Demokratie.
https://www.jasperprigge.de/boykott-auf ... t-gedeckt/

Wenn man einerseits eine hohe Bedeutung der Meinungsfreiheit (für sich) fordert, ist halt andererseits auch anzuerkennen, dass auch nicht jede misssliebige Äußerung anderer Mensche untersagt werden kann. Denn die geht in D tatsächlich sehr weit. Bei unwahren Behauptungen, jur. Beleidigungen, usw. kann die Wertung uU anders ausfallen.
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mio
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Beitrag Mo., 20.07.2020, 23:29

stern hat geschrieben: Mo., 20.07.2020, 23:11 Wenn man einerseits eine hohe Bedeutung der Meinungsfreiheit (für sich) fordert, ist halt andererseits auch anzuerkennen, dass auch nicht jede misssliebige Äußerung anderer Mensche untersagt werden kann.
Das ist soweit klar. Mir geht es aber um einen anderen Punkt, nämlich den einem anderen Menschen gezielt schaden zu wollen indem man eben nicht mit ihm debattiert sondern ihn diskreditiert.

Das "Drama" bei der ganzen Geschichte ist ja dass die kontroverse Debatte zunehmend dadurch ersetzt wird dass man das Gegenüber schlicht (gesellschaftlich) zu diskreditieren versucht.

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stern
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Beitrag Mo., 20.07.2020, 23:36

Ich hatte mich darauf bezogen:
Ich meinte keine Konzerne sondern Personen die boykottiert werden aufgrund ihrer politischen Gesinnung, einer kritischen Meinungsäußerung oder aus religiösen Gründen oder oder oder.

Diese Personen haben ja wie alle anderen Menschen auch ein Recht auf die freie Äußerung ihrer Meinung und auf die freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit etc. und deshalb finde ich es undemokratisch solche Menschen dann zB. bei der Ausübung ihres Berufs zu boykottieren nur weil einem die Parteizugehörigkeit oder die Meinung oder die Religion nicht gefällt und damit letztlich auf unlautere Art und Weise Druck auf diese Personen auszuüben.
Kurz:
Daher müssen Gerichte durch Abwägung im Einzelfall herausfinden, welches Schutzinteresse höher zu gewichten ist. Die Rechtsprechung gewährt regelmäßig der Meinungsfreiheit Vorrang, sofern ein Boykottaufruf aus Sorge um Belange der Allgemeinheit und nicht aus eigenem Gewinnstreben erfolgt.
https://www.ratgeberrecht.eu/internetre ... essig.html

Wegen der hohen Bedeutung der Meinungsfreiheit für die Demokratie.
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Beitrag Mo., 20.07.2020, 23:48

Sehe ich persönlich ehrlich gesagt kritisch, wenn auch nicht in dem konkreten Fall, weil ich die Aussage auch eher für harmlos halte soweit. Nicht, weil es sich um ein AfD Mitglied handelt sondern weil man das tatsächlich "ironisch" lesen kann.

Würde aber zB. jemand die ganze Stadt mit Plakaten zupflastern auf denen steht: "Geht nicht zu XYZ! Der ist in der AfD und will uns alle vernichten!" würde ich es anders sehen.

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hawi
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Beitrag Di., 21.07.2020, 07:32

mio hat geschrieben: Mo., 20.07.2020, 23:29 . Mir geht es aber um einen anderen Punkt, nämlich den einem anderen Menschen gezielt schaden zu wollen indem man eben nicht mit ihm debattiert sondern ihn diskreditiert.

Das "Drama" bei der ganzen Geschichte ist ja dass die kontroverse Debatte zunehmend dadurch ersetzt wird dass man das Gegenüber schlicht (gesellschaftlich) zu diskreditieren versucht.
Hallo mio,

auch wenn ich für ein eigenes Urteil dazu den konkreten Fall gebrauche, wenn Ziel eines Boykotts wirklich jemand ganz persönlich wäre, dann würde ich das sicherlich für falsch halten, würde dann wohl auch versuchen, das z.B. hier oder auf Twitter o.ä. zu äußern, als Gegenmeinung, als Boykottgegner.
Vieles andere, das sich sehr gegen einzelne richtet? Fand und finde ich selbst meist nicht gut, wüsste auch nicht, dass ich bei so was schon mal aktiv mitgemacht hätte, aber …..
Kein Grund, um dafür zu sein, aber – ich wiederhole mich – es ist überhaupt nicht neu, dass im Meinungsstreit einzelne „diskreditiert“, „verunglimpft“ werden, dass sich Leute jedenfalls so verhalten, als ob sie jemanden ganz persönlich niedermachen wollen.
Leider ist dem wohl nicht selten auch so, aber der Hintergrund ist ein anderer. So wie es stern bereits schreibt. Es geht nicht um die einzelne Person, sondern um das, wofür sie z.B. politisch eintritt.
Herrn Lucke hast du erwähnt. Dem schlug – wie ich finde – in Hamburg das entgegen, was er selbst politisch gesät hatte. Ich fand/finde nicht gut, dass versucht wird, wurde, ihn als Hochschullehrer zum Schweigen zu bringen, aber (leider) reagiert Mensch nun mal so, auch so, wenn jemand sich in Wort/Schrift/Verhalten so weit konträr zur eigenen Position ist, scheint, wie ein Herr Lucke zur „Weltsicht“ von vielen Hamburger Studenten.
Habe ich an einer anderen Uni in den 1980ern bei eine „Gastvorlesung“ von Heiner Geißler erlebt.
Situation damals grob: Tumult.
Vorlesung halten ging nicht. Viel zu laut, viel zu viel Geschrei. Mindestens das. An alles kann ich mich nicht nicht mehr erinnern. War er damals CDU-Wahlkampfmanager? Keine Ahnung.
Jedenfalls stand er nicht nur für etwas, dass viele, auch ich damals völlig ablehnten, er äußerte sich darüber hinaus so, dass z.B. ich annehmen durfte, ich sei aus seiner Sicht ein Terrorist, Anarchist, sein zumindest Sympathisant, Unterstützer von Gewalttätern, Massenmördern. Dies damals seine Sicht (oder zumindest seine Propaganda) gegen die die Friedensbewegung. - alles Verbrecher.

Natürlich kann mich meine Erinnerung täuschen, aber grad so was? Herr Lucke gestern und heute, verglichen mit z.B. Herrn Geißler damals? Für mich wirkt dabei Herr Lucke schon fast friedlich.

Würde ich statt Boykott doch Diskurs versuchen? Ja, ich hoffe mal. Bin mir da selbst nicht sicher.
Und klar auch: Ich würde immer auch fordern bei solchen „Demagogen“. Diskurs hart einfordern.
Und dazu würde als erstes gehören, dass sich der „Diskursrahmen“ zu ändern hat.
In Vorlesungen von Hochschullehrern, Gastrednern, geht Diskurs ja meist kaum. Es bräuchte also zumindest neben den Vorlesungen sowas wie „Podiumsdiskussionen“, bei der wenigstens physisch auf Augenhöhe disputiert werden kann.

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Beitrag Mi., 22.07.2020, 09:35

mio hat geschrieben: Mo., 20.07.2020, 23:29 Mir geht es aber um einen anderen Punkt, nämlich den einem anderen Menschen gezielt schaden zu wollen indem man eben nicht mit ihm debattiert sondern ihn diskreditiert.
Was Diskreditierung angeht, gibt es hierzulande ja diverse Grenzen. Und das finde ich auch o.k., eine so weite Meinungsfreiheit, wie im Amiland sehe ich hingegen kritisch, zumal es dort nicht weniger Gewakt gibt, eher mehr.

Bei grenzwertige Aussagen innerhalb dieser Grenzen geht es dann eher um politcal correctness bzw. Kultur. Hier wäre dann die Frage: Sollten an Diskurse zusätzlich die Anforderungen, gestellt werden, dass sie auch möglichst immer politisch correct sind? Lasse ich mal offen. Aber falls ja: Was wäre eine entsprechend korrekte Haltung, was nicht mehr?

Was nicht als Diskreditierung angesehen wird: Wahre Aussagen... z.B. xy (egal ob Konzern oder Einzelperson) lässt Kinder für sich arbeiten. Und ich fände wirklich paradox, wenn Werbung durch die Meinungsfreiheit grds. geschützt ist (das ist sie) und man billige Klamotten bewirbt und in dem Zuge zum Kauf aufforderen kann. Die gegenteilige Haltung wie "Kauft dort besser nicht, denn dafür müssen in yz Kinder zu widrigen Bedingungen arbeiten" hingegen untersagt wäre. Sollte halt notfalls überprüfbar und nachweisbar sein, wenn man so etwas behauptet. Ähnlich wie bei Arztbewertungen. Tatsachen und Meinungen sind o.k. Darauf aufbauend kann sich dann jeder seine Meinung bilden. Bei der Verbreitung von herabwürdigend Lügen, sollte man sich einen Anwalt leisten können. Letztlich muss sich auch bei einem Boykottaufruf der Konsument eine Meinung bilden, ob er dort kauft oder nicht - wenn es nicht eh am A. vorbeigeht.
Das "Drama" bei der ganzen Geschichte ist ja dass die kontroverse Debatte zunehmend dadurch ersetzt wird dass man das Gegenüber schlicht (gesellschaftlich) zu diskreditieren versucht.
Oder anderes Beispiel: Ist die Bezeichnung von Höcke als Faschist ein schlichte Diskreditierung anstelle einer Auseinandersetzung. Manche würden vielleicht sagen, ja. Ich glaube so leicht ist das gar nicht immer zu sagen... das Gericht sah es jedenfalls nicht so. Unter anderen (man sollte es im Zusammenhang ansehen):
Jedoch hätten die Antragsteller "in ausreichendem Umfang glaubhaft gemacht, dass ihr Werturteil nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern auf einer überprüfbaren Tatsachengrundlage beruht".
https://www.spiegel.de/politik/deutschl ... 89131.html

Man kann sich hier wirklich fragen, wohin das für würde, wenn das alles nicht mehr sagbar wäre. Bei "Verschwörungstheoretiker" sehe ich das ähnlich... das ist nicht immer einfach daher gesagt, weil gerade eine anderen Diskreditierungen einfielen. Genauso wenig wie man jede Kritik über einen Kamm scheren (und als Verschwörungstheorien abtun kann).

Aber die Frage ist halt auch, inwieweit sind Inhalte disktutabel. Fängt ja schon damit an: Inwieweit sind entsprechende Youtube-Videos als "Diskurs angelegt, mit denen andere gefüttert werden sollen. Und wenn das Video immerhin dialogisch aufgebaut: Wenn auf der anderen Seite kein kritischer Journalist sitzt, sondern jemand, der dazu verhilft, bestimmt messages an die Anhänger zu bringen. Oft heißt es ja auch: teilen, teilen, teilen. Klarstellend: Fällt auch unter Meinungsfreiheit (sofern keine Rechte verletzt werden). Aber es ist doch auch gar nicht von jemand intentiert, sich kritischen Fragen zu stellen oder zu dsikutieren. Es gibt Meinungsfreiheit, aber keine Meinungs- oder Debattierpflicht. Außer vielleicht in politischen Gremien. Oder sollte man besser jeden zum Diskurs "nötigen" können, der sich entzieht? Lasse ich auch mal offen.
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Beitrag Mi., 22.07.2020, 21:28

hawi hat geschrieben: Di., 21.07.2020, 07:32 Es geht nicht um die einzelne Person, sondern um das, wofür sie z.B. politisch eintritt.
Das ist aber die PRIVATSACHE der Person und ihr gutes Recht. Wenn ich die Person also beruflich "rauszumobben" oder sonst wie zu diskreditieren versuche OBWOHL sie im Beruf was ganz anderes macht und das was sie da machen soll auch gut macht dann ist das eben nicht in Ordnung weil gegen jedes freiheitlich demokratische Prinzip.

Ebenso ist es nicht in Ordnung zB. Journalisten oder Autoren dafür anzugreifen dass sie Themen kritisch hinterfragen von denen jemand der Meinung ist dass die nicht hinterfragt werden dürfen weil bereits das sozusagen ein "No Go" ist in seinen Augen (passiert zB. beim Thema Rassismus in der Tat häufig, aber auch beim Thema Klimaschutz etc. dass Leute die da auch mit einem kritischen Auge draufschauen gleich als "rechts" oder "rassistisch" oder "Klimawandelleugner" eingestuft werden und zwar NUR weil sie den Sachverhalt, die Argumente bzw. die Lösungswege kritisch hinterfragen ohne deshalb das Problem oder den Fakt als solchen zu negieren, aber bereits das Hinterfragen wird so gedeutet).

Da wird teils wirklich derart extrem polarisiert und verunglimpft dass ich mir auch regelmässig an den Kopf greife und da die "tonangebende Gesellschaft" heutzutage eben seit geraumer Zeit eher links ist bzw. diesen Themen eher "links" gegenübersteht geht diese "soziale Kontrollgesellschaft" zu großen Teilen von "links" aus. Es könnte aber auch genau andersrum sein, nur dann würden die "Linken" laut rumheulen und einen von "Diktatur" erzählen.

Das Problem ist doch dass sich im Grunde der "traditionellen" Mittel der Gegenseite mit der gleichen Selbstverständlichkeit bedient wird wie die das ehedem getan hat ohne zu bemerken dass das so ist. Messen mit zweierlei Mass eben und ohne einen Blick dafür zu haben dass sich das politische Klima auch sehr schnell wieder ändern kann und man dann selbst das ausbaden darf das man sich vorher eingebrockt hat.

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