Transgenerationale Traumatisierung

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.

Jenny Doe
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Beitrag Di., 01.10.2019, 16:38

Danke für den Hinweis auf Johanna Haarer, Mio. Diese Frau ist für mich so ein Beispiel dafür,
wie ein Krieg nicht nur auf dem direkten Weg zur Traumatisierung führen kann und diese Traumatisierung über Keimzellen an die nächste Generation weitergegeben wird,
sondern auch (zusätzlich) durch Erziehungsideologien die nächste Generation traumatisieren kann.
Wenn solche Erziehungswegweiser dann auch noch von einer Ärztin kommen, dann werden diesen eher gelaubt, als Laien.
(...)
Ihre Publikationen beeinflussten seinerzeit in hohem Maße die Familienerziehung, die auch teilweise Pflichtlektüre für alle die in Kindergärten tätigen sowie sich noch in Ausbildung befindenden Kindergärtnerinnen waren
(...)
Die in genannter Publikation skizzierten Erziehungsvorstellungen sind eng an Adolf Hitlers "Mein Kampf" angelehnt, wonach der Deutsche hart zu sich selbst und anderen zu sein hat. Demzufolge sollte schon die Erziehung des Säuglings eine harte sein. So forderte Johanna Haarer klar und bündig, wenn das Kind schreit und selbst der Schnuller das Schreien nicht sofort stoppt: "Dann, liebe Mutter, werde hart! Fange nur ja nicht an, das Kind aus dem Bett herauszunehmen, es zu tragen, zu wiegen, zu fahren oder es auf dem Schoß zu halten, es gar zu stillen" (Haarer 1934, S. 158). Zudem warnte die Medizinerin vor einem Zuviel an zärtlichen mütterlichen Gefühlen, da "solche Affenliebe" das Kind wohl "verziehen" aber nicht "erziehen" würde. Ebenso forderte sie "keine Nachgiebigkeit" dem Säugling gegenüber:
"Auch wenn das Kind auf die Maßnahmen der Mutter mit eigensinnigem Geschrei antwortet, ja gerade dann lässt sie sich nicht irre machen. Mit ruhiger Bestimmtheit setzt sie ihren Willen weiter durch, vermeidet aber alle Heftigkeit und erlaubt sich unter keinen Umständen einen Zornesausbruch. Auch das schreiende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen 'kaltgestellt', in einen Raum verbracht, wo es allein sein kann und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und wie rasch ein Kind solches Vorgehen begreift" (Haarer 1934, S. 249).
(...)
https://kindergartenpaedagogik.de/facha ... rtens/1268

Krass. Aber so manch einer von uns wird nach dieser Ideologie erzogen worden sein.
Lerne aus der Vergangenheit, aber mache sie nicht zu deinem Leben. Wut festhalten ist wie Gift trinken und darauf warten, dass der Andere stirbt. Das Gegenstück zum äußeren Lärm ist der innere Lärm des Denkens.

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Marie3punkt0
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Beitrag Di., 01.10.2019, 16:55

Und zur Studie von Mansuy heißt es hier, dass eine solche Veränderung rückgängig gemacht werden kann, wenn die Kinder in jungem Alter (hier waren es Mäuse) wiederum in einer besonders stressfreien und positiv anregenden Umgebung aufwachsen. Also für Erwachsene evtl zu spät..
https://www.deutschesgesundheitsportal. ... chweisbar/

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Marie3punkt0
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Beitrag Di., 01.10.2019, 17:30

Die Thesen von Haarer waren noch bis in die 80er Jahre hinein gut gemeinte Ratschläge von Oma, Mutter zu Tochter, wie, man darf ein Baby nicht verwöhnen durch zu langes Rumtragen oder es muss bald lernen alleine in einem Zimmer zu schlafen..

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Zauberlehrling
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Beitrag Di., 01.10.2019, 18:57

Die beiden Erziehungsratgeber von Frau Haarer haben es mir jedenfalls kalt den Rücken runterlaufen lassen. Allein der Gedanke, zumindest in einigen Bereichen so erzogen worden zu sein, und das wurde ich, ist ätzend.

Da schließe ich mich Saffiatou an: verstehen, dass es für meine Eltern so war, ist das Eine. Aber verzeihen kann ich es nicht. Sie hätten anders handeln können. Ich mache eine Therapie mit Ü50. Das hätten meine Eltern auch gekonnt. Zu dem Zeitpunkt gab es schon lange Therapie. Sie wollten und konnten nicht ihre Unzulänglichkeiten sehen.

Auch damals, während der NS-Zeit, haben sich lange nicht alle Eltern so verhalten, wie von Frau Haarer vorgeschlagen. Im Gegenteil: häufig kritisiert sie die viel zu weiche Art anderer Mütter, die nur einen Haustyrannen heranziehen.

Furchtbare, aber aufschlussreiche Lektüre.
Novembernacht

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Jenny Doe
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Beitrag Di., 01.10.2019, 19:38

Zauberlehrling: Das hätten meine Eltern auch gekonnt. Zu dem Zeitpunkt gab es schon lange Therapie.
Es gab Therapie, aber es gab noch keine Traumatherapie. Erst 1980 wurde die Posttraumatische Belastungsstörung als eigenständiges Störungsbild in das DSM aufgenommen. Was wir heute als PTBS kennen wurde bei Soldaten als "„Kriegsneurose“ abgetan. Bis in die 70er-Jahre wurde die Echtheit der berichteten PTBS Symptome in Frage gestellt. Es wurde bezweifelt, dass ein traumatisches Ereignis die Ursache der PTBS Symptomatik darstellt. Einige Autoren hielten organische Faktoren für entscheidend, andere attribuierten die Wirkung von Gewalt als Schwäche, die schon vor dem Ereignis bestand. Opfer wurden damals in ihrem Leid nicht erst genommen. Auch von Psychotherapeuten nicht.
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Zauberlehrling
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Beitrag Di., 01.10.2019, 20:06

Zum Einen schrieb ich nichts von einer PTBS oder Kriegsneurose bei meinen Eltern. Zum Anderen hätte jede andere Therapie, die zum Reflektieren ermuntert, gereicht. Die gab es in den 1980er.

Ich schrieb:
Sie wollten und konnten nicht ihre Unzulänglichkeiten sehen.
Rhetorische Frage: wie kommst du von Unzulänglichkeiten auf PTBS?
Novembernacht


Jenny Doe
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Beitrag Di., 01.10.2019, 20:11

Zauberlehrling: wie kommst du von Unzulänglichkeiten auf PTBS?
Aufgrund des Threadthemas "Transgenerationale Traumatisierung" ging ich davon aus, dass Du dem Thema entsprechend über traumatisierte Eltern schreibst.
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Zauberlehrling
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Beitrag Di., 01.10.2019, 20:54

Vielleicht eine dumme Frage: mündet eine Traumatisierung immer in einer PTBS?
Novembernacht

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nulla
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Beitrag Di., 01.10.2019, 21:06

Zauberlehrling hat geschrieben: Di., 01.10.2019, 20:54 mündet eine Traumatisierung immer in einer PTBS?
Nein
"Wege entstehen dadurch, dass man sie geht."
(Kafka)


mio
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Beitrag Mi., 02.10.2019, 01:50

Zauberlehrling hat geschrieben: Di., 01.10.2019, 20:06 Zum Anderen hätte jede andere Therapie, die zum Reflektieren ermuntert, gereicht.
Woher willst Du wissen, dass das gereicht hätte?

Mit der Frage ob es sich in solchen Fällen um Unwilligkeit oder Unfähigkeit handelt beschäftige ich mich schon seit Jahren, eine sichere Antwort habe ich bis heute nicht darauf.

Was ich allerdings recht sicher beobachten kann ist, dass es sich nicht nur um eine Unwilligkeit handeln kann, da die "Kommunikation" selbst an Stellen wo klar der Wille da ist alles "richtig" zu machen oft scheitert. Einfach weil da wirklich was "fehlt" wie es scheint. Und das was fehlt hat viel mit Reflektionsvermögen zu tun bzw. mit Einfühlungsvermögen in den Anderen.

Wie kann jemand reflektieren/antizipieren was er tut wenn er aus sich selbst heraus gar nicht versteht warum das was er tut verletzend ist? Das nicht von einer Situation auf eine andere übertragen kann? Wie?

Meine Mutter zB. WILL wirklich gerne ein besseres Verhältnis zu ihren Kindern, aber da es schwierig ist mit ihr in einen echten gegenseitigen Austausch zu kommen statt in ein "ich sage Dir wie es sein muss weil das meine Aufgabe ist und ich nichts anderes kann" scheitern diese Versuche letztlich. Sie kann sich einfach nicht gut in ihr Gegenüber rein versetzen und sie kann auch nicht gut "frei miteinander kommunizieren" im Sinne von miteinander reden, wirklich zuhören etc. pp..

Das hat aber wirklich nichts damit zu tun dass sie sich nicht bemüht sondern für sie ist das was wir "fordern" ein Buch mit sieben Siegeln. Traurig aber wahr.


Jenny Doe
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Beitrag Mi., 02.10.2019, 04:49

Zauberlehrling: mündet eine Traumatisierung immer in einer PTBS?
Natürlich nicht. Was ich sagen wollte war, dass erst mit Anerkennung des psychischen Traumas eine Traumatherapie entwickelt wurde. Erst 1980 wurden Traumata mit Aufnahme der PTBS in den DSM krankheitsrelevant. Erst 1980 wurden auch andere Traumafolgeschäden, wie z.B. die Multiple Persönlichkeitsstörung, in den DSM-III aufgenommen.
Man kann somit nicht sagen, "Es gab bereits Therapie, meine traumatisierten Eltern hätten Psychotherapie machen können". Ja, es gab Therapie, aber erst 1980 wurden Traumata als krankheitsrelavant angesehen. Unsere Eltern hatten vorher keine Chance gehabt Hilfe bei der Verarbeitung ihrer eigenen Traumata zu erhalten. Sie standen mit all dem Schrecken, den sie erlebt haben, alleine da und mussten alles selbst verarbeiten.

Meine Mutter, deren Geburt das Ergebnis einer Vergewaltigung im 2. Weltkrieg war und die in ihrer Kindheit sexuell missbraucht wurde, hatte Zeit ihres Lebens lernen müssen ihre eigenen traumatischen Erfahrungen zu verdrängen. Sie sagte oft, dass es ihr besser geht, wenn sie nicht an das Ereignis denkt. Sie wurde nicht so erzogen wie wir "Hast du was Schlimmes erlebt, dann geh in Psychotherapie". Sie ist mit der Anweisung aufgewachsen "Da redet man nicht drüber. Denk einfach nicht daran. Sowas überlebt man". Ich hatte Zeit ihres Lebens keine Chance gehabt meine Mutter wirklich kennenzulernen, weil sie ihre Kindheit totschwieg. Ich weiß nur sehr wenig über meine Mutter. Bei meinem Vater ist es genauso.

Mir persönlich hilft das Wissen über die Entwicklung der Traumatherapie um das, was meine Mutter mir angetan hat, verstehen zu können. Es hat mir sehr dabei geholfen dieses Gefühl ablegen zu können, dass sie mich misshandelt hat, weil ich ein schlechter Mensch bin, ich nichts wert bin. Ich konnte den Gedanken loslassen, dass ihr Verhalten etwas mit mir zu tun hat. Es half mir zu verstehen, dass sie den Teufelskreislauf der körperlichen Gewalt und des emotionalen Missbrauchs nicht durchbrechen konnte, weil es keinen gab, der ihr dabei hätte helfen können. Alles was sie selbst erleben musste hat sie zeitlebens gequält. Sie nahm alle ihre Traumata unverarbeitet mit ins Grab. Ihr Tod befreite sie endlich von ihren psychischen Qualen.
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Zauberlehrling
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Beitrag Mi., 02.10.2019, 10:44

Woher willst Du wissen, dass das gereicht hätte?
Wissen i.S.v. dann wäre Alles besser geworden, kann ich natürlich nicht. Aber Reflektion hilft, ich hoffe, da sind wir uns einig, i.a. schon weiter im Umgang mit sich selbst und mit anderen.

eine sichere Antwort habe ich bis heute nicht darauf.
Im Fall meiner Eltern habe ich eine Antwort darauf.

viel mit Reflektionsvermögen zu tun bzw. mit Einfühlungsvermögen in den Anderen
Und das kann man in einer Therapie lernen (s. meine Meinung zu dem Thema).

Wie kann jemand reflektieren/antizipieren was er tut wenn er aus sich selbst heraus gar nicht versteht warum das was er tut verletzend ist? Das nicht von einer Situation auf eine andere übertragen kann? Wie?
Indem er es lernt. Wenn er es nicht von seinen Eltern lernt, dann eben von anderen Personen (Umfeld, Therapeut).

Traurig aber wahr.
Ja, ist es. Trotzdem bist du doch ganz anders? Wie hast du denn gelernt, zu reflektieren und dich in andere einzufühlen?

Man kann somit nicht sagen, "Es gab bereits Therapie, meine traumatisierten Eltern hätten Psychotherapie machen können". Ja, es gab Therapie, aber erst 1980 wurden Traumata als krankheitsrelavant angesehen. Unsere Eltern hatten vorher keine Chance gehabt Hilfe bei der Verarbeitung ihrer eigenen Traumata zu erhalten. Sie standen mit all dem Schrecken, den sie erlebt haben, alleine da und mussten alles selbst verarbeiten.
Doch, sage ich. Nur weil es keine spezielle Traumatherapie gab direkt nach dem Krieg, heißt es nicht, dass eine andere Therapie nicht geholfen hätte.

Unsere Eltern standen eben nicht allein da. Millionen von Menschen hatten die Schrecken des Krieges erlebt. Auch miteinander darüber reden hätte geholfen. Dafür bedarf es nicht zwangsläufig einer Therapie.

Sie wurde nicht so erzogen wie wir "Hast du was Schlimmes erlebt, dann geh in Psychotherapie". Sie ist mit der Anweisung aufgewachsen "Da redet man nicht drüber. Denk einfach nicht daran. Sowas überlebt man".
Ähnlich bin ich aufgewachsen. Und habe es trotzdem geschafft, anders zu denken und zu handeln. Wenn ich es konnte, warum sollten es dann meine Eltern nicht auch gekonnt haben?

Alles was sie selbst erleben musste hat sie zeitlebens gequält. Sie nahm alle ihre Traumata unverarbeitet mit ins Grab. Ihr Tod befreite sie endlich von ihren psychischen Qualen.
Ob es meine Eltern gequält hat, ob tatsächlich Traumata vorlagen, kann ich nicht sicher sagen. Ich bin kein Arzt/Therapeut, sondern Laie.

Sollte es so sein, war es aber die freie Entscheidung meiner Eltern, es so zu handhaben, wie sie es taten. Sie hätten sich Hilfe holen können, haben sie aber nicht. Eine Entscheidung, die sie aus welchen Gründen auch immer getroffen haben und unter der Kinder, meine Geschwister und ich, sehr gelitten haben. Bei all meinem Verständnis, das ich für meine Eltern habe - sie haben mit ihrer Entscheidung Leben zerstört. Das kann ich nicht verzeihen. Wenn du es kannst, finde ich es schön für dich und es freut mich. Ich kann es nicht aufgrund meiner Lebenserfahrung, die ich diesbezüglich machen musste.
Novembernacht


mio
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Beitrag Mi., 02.10.2019, 11:27

Zauberlehrling hat geschrieben: Mi., 02.10.2019, 10:44 Trotzdem bist du doch ganz anders? Wie hast du denn gelernt, zu reflektieren und dich in andere einzufühlen?
Ich habe das bereits als Kind gelernt, in erster Linie von meinem Vater und seiner Familie, aber auch von anderen Bezugspersonen. Außerdem habe ich wohl mehr aus deren "Genpool" als aus dem Genpool meiner Mutter bzw. ihrer Familie. Mein mittlerer Bruder hat zB. mehr sowohl genetische als auch "einwirkende" Einflüsse aus deren Ecke als mein ältester Bruder und ich und bei dem ist es tatsächlich so, dass er größere Schwierigkeiten damit hat als mein ältester Bruder und ich, wenn auch nicht so gravierende wie meine Mutter.

Mein Eindruck ist, dass Menschen die damit Schwierigkeiten haben oft gar keine Motivation haben sich zu verändern und dazu zu lernen weil sie selbst ja erst mal keinen Leidensdruck verspüren. Erst wenn sie diesen verspüren entsteht überhaupt eine Motivation. In den 80er Jahren war vieles das in diese Richtung ging gerade im Umgang mit den eigenen Kindern gesellschaftlich noch stärker akzeptiert als heute, dh. die Eltern hatten damals auch noch mehr gesellschaftlichen "Rückhalt" und ihr Verhalten galt noch nicht als so "fehlerhaft" wie heute = weniger Veränderungsmotivation.

Außerdem denke ich dass sich vieles nicht so "komplett" nachlernen lässt oder nur sehr schwer und mühsam wenn das dafür zuständige Zeitfenster "verpasst" wurde, dass was für andere "selbstverständlich" (= einfach automatisch gelebte Praxis) ist kann nur "theoretisch" nachgeholt werden, bedarf also einer permanenten aktiven Selbstreflektion wenn verhindert werden soll, dass die "ehemaligen Sichtweisen" sich wieder in den Vordergrund mogeln.

Ich nenne das Theorie-Praxis Problem. So wird zB. verstanden, dass ein bestimmtes Verhalten "unerwünscht" ist, aber es wird im Grunde nicht verstanden WAS GENAU daran unerwünscht ist. Dh. ein betroffener Mensch braucht meiner Erfahrung nach klarere und mehr Vorgaben durch sein Gegenüber als ein nicht betroffener Mensch damit es zwischenmenschlich nicht zu Konflikten kommt während ein nicht betroffener Mensch dies eben ganz selbstverständlich weiss und noch nicht mal sagen kann warum er das weiss einfach weil es für ihn klar ist, dass es so ist. Er kennt es bewusst nicht anders.

Im Grunde geschieht hier gerade etwas ähnliches (wie sehr oft hier im Forum): Es wird davon ausgegangen dass Traumatisierung = Traumatisierung ist und dem ist nicht so. Es gibt unterschiedlichste Formen und Folgen von Traumatisierungen weshalb ich darauf hingewiesen habe dass es Sinn macht zwischen Existenztraumen und Bindungstraumen zu differenzieren.

Existenztraumen und ihre Folgen gerieten wie von Jenny bereits erwähnt erst in den 80er/90er Jahren überhaupt in den Focus der Psychologie und Psychotherapie, ein Existenztrauma hat auch nicht zwangsläufig einen Einfluss auf die Fähigkeit der Betroffenen sich in andere einzufühlen oder sich selbst zu reflektieren, das ist eher eine Folge von Bindungstraumatisierungen in der frühen Kindheit.

Was da nun wie vererbt wird ist noch nicht hinreichend geklärt, es gibt nur deutliche Hinweise darauf, dass auch (für eine "normale Situation" unlogische) Traumareaktionen vererbt werden ohne dass das Kind selbst die Situation erlebt haben muss. Meist bezieht sich das aber eher auf außergewöhnliche Verhaltensweisen und weniger auf individuelle Fähigkeiten.

Ich habe vor kurzem einen Bericht dazu gesehen in dem die Geschichte eines kleinen Jungen beschrieben wurde (so ca. 4/5 Jahre alt) der sich heute als Erwachsener damit befasst und dieser Junge ist als er damals allein zu Hause war und es einen lauten Knall in seiner Umgebeung gab zB. nicht zu seinen Eltern gelaufen um sich Schutz zu suchen (die nicht weit weg waren und die er hätte erreichen können) sondern in die entgegengesetze Richtung unter eine Brücke geflüchtet. Vollkommen unlogisches Verhalten für ein Kind dieses Alters an sich, es stellte sich aber heraus, dass seine Mutter sich im Krieg bei Bombenangriffen unter eine Brücke gerettet hat und deshalb überlebte. Der Junge wusste davon nichts, er hat sich aber genauso verhalten wie seine Mutter im Krieg.

Das sind im Grunde die "Vorgänge" mit denen sich transgenerationale Traumaforschung bisher befasst hat, mit Bindungstraumatisierungen wird sich erst befasst seit sich herausgestellt hat dass sich das zumindest in Deutschland nicht so klar "trennen" lässt weil eben vieles auch auf der nicht kindgerechten Erziehung zu basieren scheint was bisher den Kriegserlebnissen zugeschrieben wurde.

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Zauberlehrling
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Beitrag Mi., 02.10.2019, 11:52

mio, du hast in vielen Dingen Recht. Ich sehe es mindestens ähnlich.

Ich habe nur eine andere Meinung darüber, ob geeignete Hilfe theoretisch verfügbar gewesen wäre (da bin ich für ein klares "ja") und diese nur nicht gesucht wurde oder ob es keine Hilfe gab.

In den 80er Jahren war vieles das in diese Richtung ging gerade im Umgang mit den eigenen Kindern gesellschaftlich noch stärker akzeptiert als heute, dh. die Eltern hatten damals auch noch mehr gesellschaftlichen "Rückhalt" und ihr Verhalten galt noch nicht als so "fehlerhaft" wie heute = weniger Veränderungsmotivation.
In den 80er war ich schon erwachsen und hatte meinen Mund aufgemacht. Nur gebracht hatte es nichts. Das empfinde ich als schlimm. Dieses Umverteilen der Verantwortung auf andere, so geschickt, dass für einen selbst keine Verantwortung mehr übrig war.

Ansonsten hast du natürlich Recht, dass in den jeweiligen Zeiten andere Standards galten als heute.
Novembernacht


mio
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Beitrag Mi., 02.10.2019, 12:04

Zauberlehrling hat geschrieben: Mi., 02.10.2019, 11:52 In den 80er war ich schon erwachsen und hatte meinen Mund aufgemacht. Nur gebracht hatte es nichts.
Wenn Du bereits erwachsen warst dann brauchtest Du Deine Eltern doch auch nicht mehr? Dann konntest Du es doch eh so handhaben wie es Deiner Meinung nach richtig ist, weshalb also auf einer "Veränderung" der Eltern bestehen?

Bei meiner Mutter bringt vieles auch nix, wird es wohl auch nie mehr. Das kann ich nur akzeptieren, mehr nicht. Es ist ihre Angelegenheit, nicht meine. Meine ist es so zu leben dass ich mir nichts vorzuwerfen habe.

Ich habe als Erwachsene eigentlich erst angefangen bestimmte "Verhaltensweisen" von ihr "einzufordern" als es um meine Nichte und meinen Neffen ging (die mit ihr in einem Haus lebten) weil ich nicht wollte, dass sie diesen genauso begegnet wie mir in Bezug auf diese Punkte. Und da hat sie sich zB. dann auch bemüht, ob sie verstanden hat warum ich das wichtig fand weiss ich ehrlich gesagt nicht so genau, aber sie hat das was ich ihr "vorgeworfen" habe im Umgang mit den beiden stets berücksichtigt, manchmal zwar nicht ganz so wie ich es gemeint hatte (siehe Theorie-Praxis Problem), aber sie hat sich immerhin nach ihren Möglichkeiten bemüht.

Wenn Deine Eltern sich nicht bemühen wollen, dann ist das meiner Meinung nach deren Ding. Sie sind erwachsen, Du bist erwachsen. Sie müssen mit den Konsequenzen ihres Verhaltens leben, Du kannst Deine Konsequenzen aus ihrem Verhalten ziehen. Mehr ist es doch letztlich nicht.

Ich halte wirklich NULL davon sich als Erwachsener an den eigenen Eltern abzuarbeiten, eben weil nicht gesagt ist, dass es irgendwas bringt. Ich kann sagen was mich stört, was ich mir anders wünschen würde, aber mehr geht nicht. Wird dies nicht berücksichtigt dann ist das so, dann kann ich nur gehen und dem anderen seins lassen so wie ich mir ja auch wünsche dass man mir meins lässt.

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