Eremit hat geschrieben: ↑So., 02.12.2018, 18:23
Ich kann aber auch verstehen, warum Psychotherapeuten behaupten, sie würden alle Fälle gleich behandeln. Würden sie die Wahrheit sagen, würde das zu finanziellen Einbußen führen und auch den Behandlungserfolg der angenommenen Fälle erschweren.
Natürlich behandeln sie nicht alle Fälle gleich - wäre ja auch unsinnig verschiedene Fälle gleich zu behandeln - tun die Psychiater aber auch nicht. Die verschreiben den "schweren" Fällen nämlich meist auch nur Medikamente und schicken sie dann nach 10 min. wieder nach Hause. Die laufende therapeutische Betreuung übernehmen die Psychiater jedenfalls nicht, das überlassen sie dann den Psychotherapeuten oder Kliniken. Anders wären die hohen Patientenzahlen ja auch gar nicht zu realisieren.
Ich finde, dass man auch mal realistisch sein sollte, dass bestimmte Patienten auch nicht für jede ambulante Praxis geeignet sind. Akut suizidale Patienten oder stark impulsive/aggressive Patienten sind für eine Einzelpraxis nicht geeignet, sondern sollten an Gemeinschaftspraxen oder Ambulanzen angebunden sein, wo sich die Therapeuten gegenseitig unterstützen können. Ich weiß z.B. von einem Vorfall in einer Ambulanz, wo eine sehr impulsive Patientin die Therapeutin eine F*** genannt hat und angekündigt hat, dem Psychiater würde sie die Eier abschneiden, als Abgang hat sie was gegen die Wand geschmissen und ist abgerauscht. Ist schon krass genug, wenn einem sowas in der Klinik oder in einer Ambulanz passiert, aber wenn jemand ganz alleine in seiner Praxis ist (Therapeuten haben ja meist auch keine Sprechstundenhilfen), kann ich gut verstehen, wenn ein Therapeut solche Patienten ablehnt.
Davon abgesehen würde es keine finanziellen Einbußen geben. Die Therapeuten verdienen eh' schon deutlich weniger, also würde sich nix ändern. Außerdem wird das Honorar - zurecht - nach Zeitaufwand und nicht nach Erkrankung gezahlt, es ist eine Vergütung für eine erbrachte Leistung und kein Schmerzensgeld für das Aushalten von Dramen und Ausbrüchen impulsiver Patienten. Und wie gesagt: Einem Burnout-Patienten beizubringen, warum er als Führungskraft lernen muss, sich abzugrenzen und nein zu sagen, wenn er nicht auf Dauer zusammenklappen will, kann kognitiv wesentlich anspruchsvoller sein, als mit einem Psychosepatienten an der Tagesstruktur zu arbeiten.
Das ist ja auch eine Frage der persönlichen Präferenzen, mit welchen Patienten Therapeuten lieber arbeiten, manche Therapeuten finden das durchaus interessant, mit Psychotikern oder Borderlinern zu arbeiten, weil da "mehr los" ist, und haben gar keine Lust auf Depressive, weil die einem jede Energie rauben können. Wieder andere fühlen sich mit genau diesen Patienten wohl. Die meisten Therapeuten bevorzugen aber meines Wissens nach eine gesunde Mischung verschiedener Patiententypen mit verschiedenen Störungen, weil es Abwechslung bringt.
Und diese Mischung entspricht ja auch der Realität der vorkommenden Krankheit. Die häufigsten psychischen Störungen sind Angststörungen, affektive Störungen (v.a. Depression), somatoforme Störungen und Abhängigkeitserkrankungen. Psychosen sind mit ein bis zwei Prozent nur gering vertreten, auch Persönlichkeitsstörungen oder PTBS sind nicht sehr häufig. Das wäre doch merkwürdig, wenn Psychotherapeuten dann nur noch solche Patienten behandeln würden, zumal es genau diese Patienten sind, die aufgrund der Chronifizierung häufig besonders lange oder immer wiederkehrende Therapien benötigen, die ja auch nicht gerne gesehen sind. Man muss sich entscheiden, entweder die Therapeuten sollen möglichst nur noch Kurzzeittherapien machen - das geht sinnvoll nur mit "leichteren" Störungen oder es sollen halt vermehrt schwer gestörte Patienten behandelt werden, die blockieren dann aber relativ viel Therapiekapazität und es können insgesamt weniger Patienten behandelt werden. Die eierlegende Wollmilchsau gibt es auch in der Psychotherapie nicht...