Liebe, Lügen, Betrug in der Therapie :(

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Tilda
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Beitrag So., 06.09.2015, 00:25

Tränen-reich hat geschrieben:Vielleicht möchtest DU etwas in IHR auslösen, weil DU in DIR selbst noch nichts Klares fühlst und brauchst dazu (noch) deine Therapeutin?
Hm, ich glaube ich hab mich danach gesehnt, so etwas in ihr auszulösen, damit wir uns dadurch nah sein können. Wobei das ja eine konstruierte Nähe ist, die ich durch meine Lüge herbeigeführt habe. Also eigentlich nicht wirklich das, wonach ich mich gesehnt habe (und immer noch sehne).
Das allein sollte mir doch eigentlich schon zeigen, dass die Lügen sinnlos und nicht zielführend sind!

Sie sagt aber auch immer, dass ich große Probleme habe, das "Eigene" überhaupt zu greifen - also was möchte ich, was möchte ich nicht, wer bin ich, usw. ... Das würde ja dann irgendwie passen...

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mio
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Beitrag So., 06.09.2015, 00:31

Hallo Tilda,

mir fällt gerade noch was aus meiner eigenen Therapie ein. Ich habe meiner Thera irgendwann mal erzählt, dass ich meine Mutter als Kind bisweilen mit Freuden bestohlen habe. Das habe ich tatsächlich getan. Es waren keine "großartigen" Diebstähle, immer mal so 20 Pfennig, oder auch 50 Pfennig, im Höchstfalle eine Mark, aus ihrer "Kleingeldtasse". Mir ging es dabei auch nie um das Geld, ich bekam genug Taschengeld, eher um den Triumph, die Macht. Darum, dass sie es nicht merkt, dass ich sie heimlich bestehle.

Meine Thera meinte damals, dass das was wäre, was sie von ganz vielen Patienten hört.

Wenn Du jetzt mal "übertragungstechnisch" denkst, wäre es dann möglich, dass Du sie "anlügst", um Dich selbst nicht so hilflos fühlen zu müssen? Ist nur so ein Gedanke, der mir gerade kam, als mir diese Begebenheit in den Kopf kam. Vielleicht fällt es Dir ja leichter, es für Dich anzunehmen, so Du Dein Motiv verstehst, ohne es zu verurteilen? Mit dem "heute" wird es wahrscheinlich wenig zu tun haben, eher mit dem "gestern".

Lieben Gruss,

mio

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Tilda
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Beitrag So., 06.09.2015, 00:35

mondlicht hat geschrieben:Tilda, du schreibst, 70% deiner Aussagen sind wahr. Bist du denn mit diesen Themen authentisch?
Ja, mit diesen Themen bin ich authentisch. Klingt wahrscheinlich seltsam oder vielleicht kauft mir es auch nicht jeder hier ab, aber es ist wirklich so. Ich möchte schon, dass wir meine realen Probleme bearbeiten - aber je wichtiger sie mir wurde und je abhängiger ich mich gefühlt habe, desto größer wurde auch der Drang, noch etwas „nachlegen“ zu müssen - aus Angst, sie sonst zu verlieren… Und aus der völlig irrationalen Hoffnung heraus, sie würde mich dann wesentlich mehr mögen oder vielleicht sogar meine Gefühle erwidern.

Und was dieses „Nachlegen“ betrifft, habe ich immer mehr die Kontrolle verloren. Ich hatte mich am Anfang unserer Sommerpause auch schon dabei ertappt, zu überlegen, was ich ihr noch auftischen könnte, wenn wir uns wiedersehen. Gott sei Dank fallen mir diese Gedankenmuster inzwischen auf, so dass ich wenigstens ein bisschen Abstand davon gewinnen kann.
mondlicht hat geschrieben:Hast du das Gefühl, ihr begegnet euch da? Hilft dir die Therapie? Ich kann mir von dieser Beziehung irgendwie kein Bild machen.
Mir kam eben der Gedanke, dass du mit diesen Manipulationen von dir ablenkst. Statt die wirklich gefährlichen Themen auszupacken, nimmst Stellvertreterthemen, sahnst mitfühlende Tränen ab, behältst aber die Kontrolle über die Situation.
Vielleicht hast du recht. Ich habe auch noch immer viel Scham in mir, was meine Person betrifft. Vielleicht bin ich dort deshalb auch körperlich manchmal derart verkrampft. Ich kann dann einfach nicht locker lassen, so nach dem Motto: "Ja, hier bin ich, und das sind meine Probleme - die auch ihre Berechtigung haben.“ So sehr ich mir das auch wünsche.
Aber wie soll man auch locker lassen, wenn man zugleich immer mitdenken und höllisch aufpassen muss - weil man ansonsten befürchten muss, dass einem jeden Moment das eigene Lügenkonstrukt um die Ohren fliegt.
Und wenn man als Kind immer nur gelernt hat, dass Gefühle wie Traurigkeit oder Verzweiflung bescheuert und übertrieben sind, dann hat sich das leider so eingebrannt, auch wenn man erwachsen ist.
mondlicht hat geschrieben:Daher meine Frage - was ist mit diesen übrigen 70%? Gehen die tief?
Ja, die gehen tief. Meine Therapie ist eine absurde Mischung aus Authentizität und Lüge ...
mondlicht hat geschrieben:Eine andere Frage, die mir noch nicht klar ist: meinst du denn, du könntest in Zukunft auf das Lügen verzichten? Und willst du drauf verzichten?
Ob ich darauf verzichten will? JA, ganz klar. Was ich getan habe finde ich abscheulich und empfinde sehr viel Selbsthass, wenn ich mir das alles nochmal vor Augen führe.
Aber ob ich es KANN? Da muss ich jetzt ehrlich gegenüber mir selbst sein.
Ich kann es im Moment nicht hundertprozentig ausschließen.....



kaja
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Beitrag So., 06.09.2015, 00:48

Deine Therapeutin darf dir die Diagnose nicht einfach verschweigen.
Sie kann dir gerne erläutern was ihre Motivation ist sie dir gegenüber nicht zu benennen und du kannst überlegen ob du da mit ihr konform gehst, aber wenn du dich dafür entscheidest die Diagnose zu erfahren muss sie Auskunft geben.

Du willst deine Akte lesen, dann lies sie. Du willst deine Diagnose wissen, lass sie dir benennen. Das sind alles Dinge die dir nach dem Patientenrecht zustehen.

Ob du von diesem Recht gebrauch machen willst ist allein deine Entscheidung. Du gibst deine Eigenverantwortung nicht ab nur weil du eine Therapie machst und bleibst ein erwachsener Mensch.
Zuletzt geändert von kaja am So., 06.09.2015, 00:51, insgesamt 1-mal geändert.
After all this time ? Always.

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Tilda
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Beitrag So., 06.09.2015, 00:50

mio hat geschrieben:Und dafür, dass Du dann so reagierst gibt es Gründe, das hast Du irgendwann so gelernt.
Das stimmt. Meine Erlebnisse in der Kindheit bilden auch die Grundlage für das Manipulative in mir, sagt sie.

Also sie weiß, dass ich manipulativ bin - das konnte ich ihr sagen. Das habe ich hier bisher ganz vergessen zu erwähnen.
Da hat sie auch gut drauf reagiert. Nicht mal besonders überrascht. Vielleicht doch ein Hinweis darauf, dass sie auch weitere "Geständnisse" so positiv aufnehmen wird...? Oder dass sie ohnehin etwas ahnt?!

mio hat geschrieben:Ich habe meiner Thera irgendwann mal erzählt, dass ich meine Mutter als Kind bisweilen mit Freuden bestohlen habe. Das habe ich tatsächlich getan. Es waren keine "großartigen" Diebstähle, immer mal so 20 Pfennig, oder auch 50 Pfennig, im Höchstfalle eine Mark, aus ihrer "Kleingeldtasse". Mir ging es dabei auch nie um das Geld, ich bekam genug Taschengeld, eher um den Triumph, die Macht. Darum, dass sie es nicht merkt, dass ich sie heimlich bestehle.

Meine Thera meinte damals, dass das was wäre, was sie von ganz vielen Patienten hört.

Wenn Du jetzt mal "übertragungstechnisch" denkst, wäre es dann möglich, dass Du sie "anlügst", um Dich selbst nicht so hilflos fühlen zu müssen? Ist nur so ein Gedanke, der mir gerade kam, als mir diese Begebenheit in den Kopf kam. Vielleicht fällt es Dir ja leichter, es für Dich anzunehmen, so Du Dein Motiv verstehst, ohne es zu verurteilen?
Liebe mio, das löst bei mir gleich wieder große Schuldgefühle aus, denn ich habe meine Mutter schon um weit größere Geldbeträge gebracht.
Ich glaube ich kann das nicht so einfach abstellen, mich für diese Dinge zu verurteilen. Dafür habe ich schon zu viel Mist gebaut, habe ich den Eindruck. Und wenn ich das jetzt alles auf meine Kindheit oder meine Krankheit schieben würde, käme mir das irgendwie nicht richtig vor...
Zuletzt geändert von Tilda am So., 06.09.2015, 00:58, insgesamt 1-mal geändert.

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Tilda
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Beitrag So., 06.09.2015, 00:55

kaja hat geschrieben:Deine Therapeutin darf dir die Diagnose nicht einfach verschweigen.
Sie kann dir gerne erläutern was ihre Motivation ist sie dir gegenüber nicht zu benennen und du kannst überlegen ob du da mit ihr konform gehst, aber wenn du dich dafür entscheidest die Diagnose zu erfahren muss sie Auskunft geben.

Du willst deine Akte lesen, dann lies sie. Du willst deine Diagnose wissen, lass sie dir benennen. Das sind alles Dinge die dir nach dem Patientenrecht zustehen.

Ob du von diesem Recht gebrauch machen willst ist allein deine Entscheidung. Du gibst deine Eigenverantwortung nicht ab nur weil du eine Therapie machst und bleibst ein erwachsener Mensch.
Hallo kaja,
danke für die Erklärung. Ich wusste nicht mal etwas von einem Patientenrecht. Manchmal gehe ich doch recht unbedarft an solche Sachen heran.

Aber das ist gut zu wissen. Meine Akte möchte ich nicht lesen, damit könnte ich bestimmt nicht umgehen. Aber an dem Thema "wie lautet denn nun meine Diagnose" werde ich dranbleiben, das steht für mich jetzt fest.


mio
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Beitrag So., 06.09.2015, 00:59

Hallo Tilda,
Tilda hat geschrieben: Liebe mio, das löst bei mir gleich wieder große Schuldgefühle aus, denn ich habe meine Mutter schon um weit größere Geldbeträge gebracht.
Ich glaube ich kann das nicht so einfach abstellen, mich für diese Dinge zu verurteilen. Dafür habe ich schon zu viel Mist gebaut, habe ich den Eindruck. Und wenn ich das jetzt alles auf meine Kindheit oder meine Krankheit schieben würde, käme mir das irgendwie nicht richtig vor...

upps, die Schuldgefühle wollte ich Dir eigentlich eher nehmen . Kannst Du das nicht einfach als "Vergangenheit" betrachten? Deine Mutter wird schon auch was "damit" zu tun gehabt haben, das Du Dich so verhalten hast. Das meint jetzt nicht, dass ich sage: Mach weiter so, ist primstens! Sondern eher, dass es vielleicht an der Zeit ist umzudenken, sich anders zu verhalten und Verantwortung dafür zu übernehmen was gerade jetzt IST.

Anders drehst Du Dich doch nur im Kreis, ohne je weiter zu kommen. Und im Kreis drehen wirst Du Dich wahrscheinlich auch ohne Selbstzerfleischung noch genug , ist leider so.

Du reflektierst es doch super, siehst es. Willst es ändern. Deine Therapeutin scheint Dir wohlgesonnen. Was also blockt da so, in Dir?

Lieben Gruss,

mio


Igelkind
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Beitrag So., 06.09.2015, 06:58

Liebe Tilda,

Es tut mir irgendwie gut, dass du hier so offen von dir berichtest.
Ich selbst habe in der Therapie oft das Gefühl ich hätte gelogen, wenn etwas zu meiner Geschichte spontan aus meinem Mund kommt.
Dann sage ich dem Therapeuten auch, dass ich denke, ich lüge das alles zusammen, ich sei mir aber nicht sicher.

Er forderte mich einmal auf, bewusst falsche Antworten auf seine Fragen zu geben, damit ich wisse, wie Lügen sich anfühlt.
Er meint damit, dass man in dem Moment weiss, dass man lügt.
Aber wenn du etwas erfindest, dann gibt es ja keine "richtige" Antwort im Hintergrund.
Weisst du denn mit Sicherheit, dass du gelogen hast?

Ich meine, bist du dir in dem Moment bewusst und sicher wo du es sagst, dass es eine Lüge ist?

LG Igelkind

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Sprachlos.
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Beitrag So., 06.09.2015, 07:42

Ist das mit dem Lügen, Manipulieren und Selbstverletzungen zeigen nur bei der Therapeutin oder ist das auch bei anderen Personen ein Problem?

Wo hier gerade über Motive zu lügen geschrieben wurde, schreibe ich doch nochmal von meiner Bekannten. Sie hat mir nach dem Outing sehr viel darüber erzählt. Bei ihr war es nicht nur das gesehen werden. Es war auch gleichzeitig die Unfähigkeit, sich diese Nähe auf echtem Weg zu holen. Sie war nicht oder nur kaum in der Lage, ihre echten Bedürfnisse zu äußern. Zu einer Freundin zu sagen, ich bin einsam, ich bin traurig, hast du gerade Zeit für mich, kannst du mich einmal fest drücken. Das ging nicht. Sie hatte viel zu viel Angst vor Ablehnung. Vor einem nein. Mit ihren Geschichten hatte sie diese Angst nicht. Die hatte sie selber in der Hand. Sie war Chef der Situation. Wäre in so einer Situation eine Ablehnung gekommen, wäre es weniger schlimm. Ist ja bei ihr nicht so nah. Nicht echt. Nur erfunden. Und gleichzeitig waren ihre Geschichten so krass, dass das Gegenüber gar keine Chance mehr hatte, ablehnend zu reagieren. Das wäre unmenschlich gewesen. Ihr ging es ja so schlecht. Sie hat ganz viel schlimmes erfunden. U. A. Dass sie als Kind jahrelang missbraucht und gefoltert wurde. Alle haben es ihr geglaubt. Vor mir hatte sie noch mehrere andere Personen, von denen sie Aufmerksamkeit/ Mitleid dafür wollte. Auch eine Beraterin bei Wildwasser. Die Lügen Haben immer größere Ausmaße angenommen. Sie hat wochenlang bei uns gewohnt, ich saß nächtelang bei ihr, habe ihre Hand gehalten und mit ihr geredet, wenn ihre 'Erinnerungen' an den Missbrauch sie gerade wieder so überflutet haben.
In klaren Momenten hatte sie ein sehr schlechtes Gewissen. Hat selber gesagt, dass das emotionaler Missbrauch war, was sie mit mir gemacht hat. Aber wenn sie gerade diese Aufmerksamkeit wieder brauchte, war das ganz egal.
Und sie hatte auch Angst, ohne Geschichten oder Verletzungen, nichts besonderes mehr zu sein. Wieder unterzugehen. Nicht mehr gesehen zu werden. Keine Aufmerksamkeit mehr zu verdienen, wenn sie nur echt ist.

Entschuldige. Ich schreibe mehr von meiner Bekannten und von mir, als von dir oder für dich. Das Thema löst bei mir ganz viel aus. Vielleicht sollte ich hier besser nicht mehr lesen. Für mich war das mit ihr das heftigste, was ich bisher erlebt habe. Zu sehen, dass es diese Person, die ich für meine Freundin hielt, gar nicht gibt. Dass es nur Geschichten waren. Für mich erfundene und gespielte Geschichten. Damit ich emotional reagiere, sie sehe, mich sorge... Aber wie es mir damit geht, war egal. Meine Angst, dass sie sich umbringt...


leberblümchen
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Beitrag So., 06.09.2015, 07:46

Hallo, Tilda,
ich sehe das ein bisschen anders als die Anderen: Ich finde nicht, dass deine Lügen etwas sind, was doch alle irgendwie mehr oder weniger machen, weil sie gesehen und beachtet werden wollen und dass das dasselbe ist wie eine ausschmückende Übertreibung. Und ich finde auch nicht, dass es mit der Begründung "der Patient ist halt krank und kann nichts dafür" getan ist. Ferner meine ich nicht, dass sie das bestimmt eh schon geahnt hat, und schließlich denke ich nicht, dass ein guter Therapeut damit relativ leicht umgehen können muss.

Puh, das erstaunt mich schon, das alles zu lesen, wie man deine Lügen hier rechtfertigt und relativiert!

Ich sehe es ganz anders: Therapie basiert auf gegenseitigem Vertrauen. Das ist nicht immer da, aber trotzdem wäre es wünschenswert, und je stärker das Vertrauen auf beiden Seiten ist, umso besser kann man miteinander arbeiten. Vertrauen ist aber nichts, was vom Himmel fällt und was man "als guter Therapeut" einfach so zu haben hat; vielmehr entsteht es in der Beziehung zueinander. Vielleicht ist es kein Zufall, dass es in diesem Faden auch um Diagnosen geht: Denn Diagnosen können durchaus als Alibi verwendet werden, was eine entlastende Funktion hat: Man kann sich dahinter - wie hinter Lügen auch - prima verstecken. Das schafft Distanz von sich selbt. Du bist dann nicht mehr nur Tilda, sondern du bist in erster Linie "Tilda mit Borderline". Indem du die Diagnose unbedingt willst (und indem du sie JETZT unbedingt willst), passiert genau das: dass du dich dahinter prima verstecken könntest, von wegen: "Ich war's nicht; das Borderline war's!" Ein Recht hast du darauf, aber in analytischen Therapien geht es weniger um das Wahrnehmen von Rechten, sondern um das Gestalten einer Beziehung. Das muss sich natürlich nicht ausschließen, aber es zeigt zunächst mal, wo Spannungen und Konflikte auftreten, und in Analysen fragt man sich dann, warum das so ist.

Was ich dir schreibe, schreibe ich nicht, um dich zu ärgern, sondern weil ich dir erstens nicht verheimlichen will, dass es auch Probleme geben könnte, wenn du es aussprichst. Und weil ich zweitens wichtig finde, dass du weißt, worauf du dich einlässt: Sieh es also nicht als Kritik, im Sinne von "Wie konntest du nur!", sondern als neutral gemeinte gedankliche Unterstützung:

Du hast ihr Vertrauen missbraucht, und glücklicherweise weißt du das ja auch. Damit kann man arbeiten (zum Beispiel mit der Frage, wie sich das für dich genau angefühlt hat, als du gesehen hast, dass sie weint). Aber therapeutische Beziehungen bestehen nicht nur aus diesem arbeitstechnischen Aspekt, von wegen: "Wir krempeln uns die Ärmel hoch und legen los", sondern ganz wesentlich ist auch der menschliche Faktor: dass da Einer ist, der sich auf dich einlässt und der sich von dir berühren lässt - in dem Vertrauen darauf, dass du das nicht ausnutzt. Denn wenn sie wirklich annehmen würde, dass Patienten eh immer übertreiben oder gelegentlich lügen, KÖNNTE sie sich gar nicht berühren lassen. Es ginge sozusagen rein menschlich nur schwer. Sie wäre dann eher im Arbeitsmodus unterwegs, von wegen: "Ah, ich werde hier gerade angelogen - interessant" - aber nein: bei euch hat sich etwas Menschliches abgespielt. Und nun musst du ihr sagen, dass du sie - genau in diesem so wesentlichen Punkt - belogen hast. Das darf ihr wehtun und das darf sie erschüttern. Und sie darf deswegen wütend mit dir sein - auch als "gute Therapeutin".

Ich glaube nicht, dass sie die Beziehung deshalb beendet. Aber ehrlich gesagt, würde ich es auch nicht ausschließen. Es gibt hier irgendwo einen ähnlichen Thread, wo ich meine, etwas Ähnliches gelesen zu haben.

Und dennoch führt kein Weg daran vorbei. Aber ich denke, das weißt du bereits. Vermutlich wird sie sich "freuen" darüber, dass du nun so ehrlich bist, und ihr werdet viel Material haben. Aber ein Spaziergang muss das auch für sie deshalb noch lange nicht werden!


leberblümchen
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Beitrag So., 06.09.2015, 07:47

Sprachlos, ich finde das ganz gut, dass du das aus deiner Sicht schreibst: weil es immer auch den gibt, der angelogen wird.


Speechless
Forums-Gruftie
Forums-Gruftie
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Beitrag So., 06.09.2015, 08:10

Ich sehe das ehrlich gesagt wie Leberblümchen und wenn du von selbst aufhören könntest zu lügen würde ich sagen: sprich es nicht an. Aber es ist Teil deines Problems und vermutlich brauchst du dafür ihre Hilfe.

Was ich noch sagen wollte zu deinen Problemen: alleine das reale Problem der SVV zeigt, dass du Therapiebedarf hast, das ist ein Symptom ausgelöst durch etwas sehr Schlimmes und auch wenn nur das alleine stünde hättest du deine Berechtigung da zu sein.

Korrigiert mich bitte, wenn ich falsch liege, liebe Analysebetreibende, aber ich meine, dass heutzutage in allen Therapien nicht mehr so sehr damit gearbeitet wird, zu schauen, warum es dem Patienten schlecht geht, sondern was alles an guten Fähigkeiten und Ressourcen da ist, damit es ihm besser geht. Meine Thera hat mich mal gefragt, ob ich mich an eine Zeit in meiner Kindheit erinnern könnte, in der es mir gut ging. Ich antwortete, dass es das nicht gab und ich mich an vieles nicht mehr erinnern könnte. Ihr Blick danach war erstmal betroffen und auch irgendwie enttäuscht, ich weiß sie hätte sich gefreut, wenn sie da eine andere Antwort bekommen hätte, weil man mit dem Positiven einfach sehr gut arbeiten kann.
Also denk bitte nicht du musst immer nur nachlegen, auch wenn es eine Analyse ist, geht es doch darum, so zu arbeiten, dass du gestärkt ins Leben gehen kannst. Und das funktioniert meist über Ressourcenarbeit: was in dir ist oder man gemeinsam aktivieren kann.


leberblümchen
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Beitrag So., 06.09.2015, 09:02

Noch mal zum Recht auf die Diagnose: Das ist m.E. nicht unbedingt IN der Beziehung relevant, sondern dann, wenn ggf. ein Dritter hinzugezogen werden muss - wie z.B. die Kasse oder der Supervisor oder aber auch eine passende Selbsthilfegruppe, der Hausarzt usw. Dann ist es schon wichtig, die Problematik auf den Punkt zu bringen. Was nützt es, wenn der Hausarzt fragt: "Wie lautet Ihre Diagnose?" und man dann einen Roman über die Beziehung zu sich, zur Welt und zum Therapeuten erzählt... (allerdings haben Hausärzte oft keine Ahnung von Psycho-Diagnosen; daher hilft es da wohl auch eher, in einem Satz das wesentliche Problem zu beschreiben (Angst / Gefühl der Wertlosigkeit / innere Leere usw.). Und der Therapeut wird beim Supervisor oder in der Intervision auch nicht stundenlang über jeden einzelnen Aspekt der Persönlichkeit berichten, sondern klarstellen, dass es sich um eine 35jährige Borderline-Patientin handelt. Dafür sind die Diagnosen gemacht, und in diesem Zusammenhang hat der Patient natürlich auch das Recht, die Diagnose einzufordern, wenn er das in der Hand haben will. Aber nur für die therapeutische Beziehung ist das nicht nötig. Und wenn es darum geht: "Wie sehen Sie mich?", dann braucht es dafür m.E. keine "Parolen", sondern dann ist es doch viel schöner und hilfreicher, wenn er (so er das für richtig hält) z.B. antwortet: "Ich sehe in Ihnen einen Menschen, der..."


ziegenkind
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Beitrag So., 06.09.2015, 10:33

tilda, eins vorweg: ich bin mir ziemlich sicher, einer, der erfundene geschichten braucht, um nähe herstellen und zulassen zu können, der muss schlimme reale geschichten hinter sich haben. niemand tut so etwas von ungefähr. und jemand, der so etwas tut, der tut v.a. sich selber etwas an. du nimmst dir ja gleichzeitig unheimlich viel weg damit. du sorgst ja dafür, dass die zuneigung, die nähe, die tränen gar nicht dir, sondern der erfundenen person gelten. du beklaust dich selber.

und dann: doch ja, es wird deine therapeutin nicht unberührt lassen. es wird sie tief berühren, wenn du erzählst, was los war. wahrscheinlich auf mehreren ebenen: sie wird sicher traurig sein. weil du ihr nicht vertraut hast. weil ihr euch gar nicht begegnet seit in einer situation, die ihr vielleicht nahe ging. aber wahrscheinlich auch, weil es unendlich schmerzlich ist zu sehen, dass du das zu brauchen glaubst. und dann, wenn du die "wahrheit" sagst, dann wird es eine echte begegnung, echte nähe geben. vielleicht hast du auch davor noch angst?

ich glaub, wenn du es aushälst alles zu sagen, wenn du es aushälst, die echte nähe zu ertragen, die dann entsteht, dann bist du schon fast geheilt. vielleicht ist das jetzt zu viel auf einmal. vielleicht kannst du in kleinen schritten anfangen und zunächst abstrakt sagen, dass du manchmal übertreibst und in der therapie dinge tust, für die du dich unendlich schämst und malträtierst. und dann könnt ihr erst über die ursachen und die folgen deines verhaltens sprechen, bevor ihr über die sache selbst redet. ich glaube, das ist auch eine chance. und dein erschrecken über dich selber kann eine wichtige antriebsenergie werden, den einen entscheidenden schritt zu tun: zu dir stehen, dich nicht abwerten, dich auch akzeptieren mit dem, was du getan hast UND gleichzeitig die verantwortung dafür übernehmen.

vielleicht zum trost eine geschichte von mir: ich habe in meiner therapie eine missbräuchliche situation ein wenig übertrieben. ich hab mich dafür immer sehr, sehr geschämt. erst am ende der therapie habe ich darüber gesprochen. meine therapeutin ahnte das schon immer. sie ahnte auch, dass ich das getan habe, um eine andere geschichte, die richtig schlimm war, viel schlimmer, weil sie mit einem näheren menschen passiert war, zu verdecken. ich konnte lange zeit nicht über diese schlimme geschichte sprechen. hätte mich aus den puschen gekippt. gleichzeitig konnte ich damit nicht mehr allein sein. also habe ich das schlimme in einer anderen, erzählbaren geschichte untergebracht, um es mitteilen zu können. meine therapeutin hatte das schon lange kapiert. ich erst ganz am ende.

von daher: so etwas braucht zeit.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.

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münchnerkindl
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Beitrag So., 06.09.2015, 10:35

Tilda hat geschrieben:
Und was dieses „Nachlegen“ betrifft, habe ich immer mehr die Kontrolle verloren. Ich hatte mich am Anfang unserer Sommerpause auch schon dabei ertappt, zu überlegen, was ich ihr noch auftischen könnte, wenn wir uns wiedersehen. Gott sei Dank fallen mir diese Gedankenmuster inzwischen auf, so dass ich wenigstens ein bisschen Abstand davon gewinnen kann.
[


Mal so eine Überlegung, hast du ihr erfundene Horrorgeschichten aufgetischt, weil die schlimmen Horrorgeschichten, die wirklich passiert dir emotional zu weh tun um anhand von ihnen Nähe herzustellen?
Zuletzt geändert von münchnerkindl am So., 06.09.2015, 10:46, insgesamt 1-mal geändert.

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