MariJane hat geschrieben:
Ok. Dann mal anders: Früher war Homosexualität (also Sexualität zwischen zwei Erwachsenen, die freiwillig eingewilligt haben) ein Problem, stand sogar mal unter Strafe. Es war unsagbar; es war behandlungsbedürftig. Aber die Szene florierte trotzdem damals schon. Es wurde zum Thema, es gab einen Diskurs darüber, dass es normal ist und es wurde normal. (Gut, kann man jetzt drüber streiten, aber es ist nicht mehr so tabuisiert, wie es früher mal war.) Das ist gut, denn es sind erwachsene Menschen, die im Konsens miteinander Sex haben.
Ich frage mich, und ich meine das vollkommen Ernst, was passiert, wenn Pädosexualität nicht mehr tabuisiert wird? Und da bin ich normativ einfach der Meinung, es ist gut, dass es gesellschaftlich- nicht in der Therapie- unsagbares gibt...
Ich weiß nicht, ob du diesem Gedankengang folgen kannst... es sind halte die Gedanken, die ich mir dazu mache. Diskurstheoretisch.
Ich halte es für einen grotesken Widerspruch, ausgerechnet die Diskurstheorie dafür zu bemühen, einzelne gesellschaftliche Phänomen aus dem "Diskurs" ausschließen zu wollen, und Rede- und damit: Denkverbote zu errichten. Meines Erachtens ist diese gerade die Wirkung des Tabus: es darf nicht einmal darüber gesprochen werden.
Das ist m.E. auch der Grund, warum einige hier, die dieses Thema nicht ertragen, anstatt den thread einfach zu meiden, immer wieder kundtun, daß sie sich von diesem thread angewidert fühlen: dieser Thread ist bereits ein Tabubruch, und wer den Wirkungen des Tabus in besonders hohem Maße unterworfen ist, macht sich schon "mitschuldig", begeht selbst einen Tabubruch, wenn er den Tabubruch von anderen "einfach so hinnimmt", statt immer wieder dagegen anzugehen.
Nicht umsonst hieß Ingmar Bergmanns berühmter Film, der erstmals den Inzest filmisch thermatisierte: "Das Schweigen".
Wenn dagegen darüber gesprochen werden kann, dann haben "die Ulis" eine weitaus größere Chance, sich zu outen, Hilfe zu suchen und auch zu erhalten, als wenn man ihnen derart abwertend begegnet, wie das hier immer noch der Fall ist.
Jeder pädophile Täter weiß, das sexueller Mißbrauch von Kindern eine höchst ernste Straftat ist und sein Leben ruiniert ist, wenn er die Tat wirklich begeht und "auffliegt". Das ist auch einer der Gründe, warum pädophile Täter ihre Opfer nach begangener Tat töten - juristisch: ermorden - selbst dann, wenn der Mißbrauch selbst ohne Gewaltanwendung vor sich gegangen sein sollte, die Pädosexualität als solche keine Sadistische gewesen war.
Sie tun es trotzdem - eben weil sie keine andere Hilfe finden und sie selbst dem sich immer weiter steigernden Begehren "hilflos" ausgeliefert bleiben. Das sind keine kognitiven Angelegenheiten - über den allgemeinen Mißbrauch ist mir insofern nichts bekannt, aber der Inzest ist völlig schichtunspezifisch: "es kommt in den besten Familien vor".
Das Tabu ist auch einer der Gründe, warum pädophile Ersttäter von der Justiz nach Möglichkeit, also nicht in zu schweren Fällen, nur mit Bewährungsstrafen belegt werden - zumindest war dies während meiner Ausbildungszeit so gewesen. Denn das Tabu wirkt auch im Knast, aus dem die "Kinderf ... " regelmässig nach 6 Wochen wieder herauskommen: mit den Füßen voran und es oftmals aus reinen Kapazitätsgründen nicht möglich ist, sie von den übrigen Gefangenen völlig zu separieren. Das ist eine Paradoxie ohnegleichen, die wir auch den Wirkungen des Tabus verdanken.
Enttabuisierung heißt keineswegs: Legalisierung - Aufhebung des Verbots. Worum es geht: ein zum Tabu eskaliertes Verbot wieder in einen Rahmen zurückzuführen, in dem es wieder effektiv wirksam werden kann. Denn die Tabuisierung führt gerade dazu, daß die Verbotswirkung nachlässt - das Tabu wirkt im wortwörtlichen Sinne: para-dox. Das Rechtsgut, das durch das Verbot geschützt werden soll, wird genau durch die Eskalation der Norm zum Tabu weitaus verletzlicher, als es vor der Tabuisierung war - das Verbot wird häufiger gebrochen und die Opfer noch härter getroffen. Denn auch sie sind tabu - das habe ich selbst als mißbrauchtes Kind nicht nur einmal zu spüren bekommen.