Sei gegrüßt, Augusta!
Teilweise seh ichs jetzt aus den gesellschaftlichen Normen heraus plötzlich mit anderen Augen
Gesellschaftliche Normen würde ich aber immer mit etwas Objektivität bzw. Distanz betrachten. Die sind nicht als Dogma zu verstehen (auch wenn sie manche gerne als solches haben wollen), sondern vielmehr als eine Art Basisrichtlinie, in der sich jeder entscheiden kann, wie weit er sich von dieser entfernen möchte.
Und das tun ziemlich viele. Eigentlich tut es praktisch jeder, denn was genau eigentlich diese gesellschaftlichen Normen beinhalten, kann dir keiner wirklich sagen. Das einzige, wo man sich einig ist, dürfte wohl der Wunsch jedes einzelnen sein, innerhalb einer Masse von Menschen (quasi der Gesellschaft) sich selbst als Individuum definieren zu können.
Es gibt aber keine wirklichen Details. Was einige als superhübsch bezeichnen würden, finden andere potthässlich. Manche glauben, man ist nur gebildet, wenn man praktisch über eine Art historische und kulturelle Datenbank in seinem Kopf verfügt, andere sehen es als gebildet an, wenn man weiss, wie man im Leben zurecht kommt. UND: Manche Männer haben keine Schwierigkeiten mit vormals sexuell sehr aktiven Frauen, für andere sind Frauen mit zwei Sexualpartnern in ihrem Leben schon lüsterne Schlampen. Da gibt es Unmengen an Beispielen.
Würden wir in einer polygamen Gesellschaft leben und jeder hätte eine ähnliche Vergangenheit wie ich ... kann mir durchaus vorstellen, dass ich dann überhaupt kein Problem damit hätte
Doch, hättest du. Denn dein Problem mit deiner Vergangenheit ist ja nicht, so viele Sexualpartner gehabt zu haben, sondern eher die Angst, das du dich dabei ZU billig "verkauft" hast. Das hat was mit Selbstwertgefühl zu tun und mit Respekt. Das würde sich auch in einer polygamen Gesellschaft nicht ändern.
Habe manchmal das Gefühl, andere Menschen haben da eine bessere Selbsteinschätzung.
Oder eine ausgeprägtere SelbstÜBERschätzung. Denn wenn tatsächlich alle anderen besser über sich Bescheid wissen, warum gibt es dann so viele Ratgeber über Selbstbewusstsein, Lebensfreude etc., die teilweise sogar monatelang in den Bestsellerlisten weit vorne oder sogar ganz oben vertreten sind?
Gibt es eigentlich niemand mit ähnlicher Vergangenheit bzw. hat niemand in seinem Bekanntenkreis "sowas" schon mal erlebt. ... Also ich in meinem Bekanntenkreis nicht.
Meine Cousine hatte bisher auch recht viele Sexualpartner. Wieviele weiss ich nicht, aber nach der Schilderung meiner Mutter und meiner Schwester (wobei letztere häufiger mit ihr zu tun hat) müssen es recht viele gewesen sein. Eine andere Cousine scheint nach der Scheidung nun auch "sammeln" zu wollen. Jedesmal, wenn wir im Familienkreis auf sie zu sprechen kommen, höre ich von einer neuen Affaire. Und meine Schwester selbst ist sexuell auch sehr aktiv (wenngleich bislang auch nur mit einem Mann).
Der Unterschied zu dir: Sie denken nicht drüber nach, sie stehen dazu, sie haben es sich so ausgesucht. Trotzdem (oder wohl besser gerade deshalb) würde niemand auf die Idee kommen, ihnen das zum Vorwurf zu machen. Sie sind gebildet, belesen, haben unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen und Probleme auf ihre Art mal mehr mal weniger gut gemeistert.
Das bedeutet nicht, dass sie dir nun was voraus haben. Ich bin sicher, das erstgenannte Cousine sich aus heutiger Sicht den ein oder anderen Kerl auch gerne erspart hätte und zweitgenannte Cousine hatte eine destruktive Ehe hinter sich, die sie sicher auch lieber gerne ungeschehen machen würde. Fakt ist aber auch, dass sie aus all diesen Erlebnissen gelernt und dann für sich entsprechende Konsequenzen gezogen haben, mit denen sie leben können. Bis dann das nächste "Unglück" kommt, aus der sie auch lernen werden. Und nichts anderes tust du doch auch, oder?
Man liest sich
Raziel