Liebe Lilly,
andernorts schrieb ich Dir, dass es nun kein Wort gibt, von andern für Dich, zu Dir, über das, was jetzt ist in Dir.
Daran halte ich mich. Auch hier, wohin Du die Menschen wieder eingeladen hast.
Zu drei Aussagen von Dir aber habe ich Worte, und die möchte ich Dir mitteilen, zwischen uns teilen.
Lilly111 hat geschrieben:Es gibt "Dinge", von denen erholt man sich nicht wieder.
Ja.
Lilly111 hat geschrieben: Diese Erkenntnis ist gewiß nicht neu. Nur heute spüre ich sie wieder.
Und nochmals ja, zu beiden Sätzen. Und ergänzend: Irgendwann hört das Spüren nicht mehr auf.
Lilly111 hat geschrieben: Jeder, der mir dann in so einer Lebensphase nahesteht, bekommt natürlich "seinen" Teil der Katastrophe mit ab, ob er nun will oder nicht. Das kann anstrengend sein. Vielleicht auch manchmal zu anstrengend. Kann ich das wirklich einem anderen Menschen verübeln? Eigentlich nicht. Habe ich heute aber. Mit dem eigenen Schmerz als Rechtfertigung vor mir selbst.
Und ein weiteres Ja. Zu anstrengend - und das dann auch noch mit so "schwacher" offizieller Rechtfertigung, denn all das muss man doch in angemessenen Bahnen "wuppen" können (so lautete doch noch vor kurzem so ein Modewort) - nicht sich die Haare ausreißen, das Essen verweigern, den Körper in Sack und Asche hüllen, die Kommunikation einstellen bis auf ein Wimmern, igitt nein, wo kämen wir denn da hin?! So fragen die, die nicht wissen, was sie fragen. Und einen Teil dieser Denke haben auch wir internalisiert. Drum funktionieren wir ja auch noch weitestgehend - ist das nicht schön?!
Liebe Lilly, wähle alle Metaphern, die Dir angemessen scheinen, sie um Deinen Schmerz zu wickeln, ihn darin einzuhüllen und wenigstens so, verhüllt, in die Welt zu flüstern. (Ich lese Dich.)
Und nun etwas, das für Dich derzeit vielleicht das Wichtigste unter all meinen unwichtigen Worten sein könnte:
Lilly111 hat geschrieben:
Morgen schneidet man sie auf. "Sie", ich kann es nicht anders schreiben, es wäre zu nah. Ich kann es auch nicht aussprechen. Eigentlich könnte/sollte ich eine Freundin anrufen. Ihr davon erzählen. Aber es geht nicht. Ich müsste es aussprechen. So direkt am Telefon, mit Worten.
[...]
Wenn ich religiös wäre, würde ich heute Abend eine Kerze anzünden und dafür beten, dass man morgen zu der Erkenntnis 'natürlicher Tod infolge Schlaganfall' kommt. Sonst nichts. Mehr will und kann ich morgen nicht hören.
Damals wollte ich ihn zunächst auch aufschneiden lassen, auf dass man klärt, ob der Krebs oder diese Ärztin mit ihrem unkontrollierten Morphintropf ihn nun umgebracht hat - bzw. durch letztere er sich selbst (wenn er am Morphin gestorben ist, dann war es letztlich ein Suizid, aber das führt hier zu weit). Ich hatte das schon mit seinem Bruder geklärt (der Chirurg ist und genau das auch wissen wollte, und der eine eingeschränkte Obduktion hätte vermitteln können). - Ich musste das binnen dreier Tage entscheiden. Ich habe mich dagegen entschieden, weil 1. seine katholischen Eltern mir in den Arm gefallen waren, 2. ich eine völlig irrationale Beklemmung verspürte bei dem Gedanken, dass er nun noch einmal, zum 6. Mal binnen eines guten Jahres, vollständig den Bauch aufgeschnitten bekommen würde, und 3. ich dachte, dass jedes Ergebnis neue Schuld gebracht hätte (seinem Bruder oder mir oder uns beiden).
Lilly, ich bereue es nun, nach 73 Wochen und 3 Tagen immer noch, zutiefst, dass ich diese Obduktion damals nicht habe machen lassen. Der Zweifel, all die bis zu meinem Tod nun offen bleibenden Fragen über seinen Tod und so viel diffuse Schuld (und wenn sie diffus ist, ist sie viel verätzender, als wenn sie konkret ist) - das hätte vermieden werden können.
Was immer morgen heraus kommen wird, und wie sehr auch immer es Dich morgen vielleicht niederknüppelt - irgendwann wirst Du sehr froh sein, es zu wissen!
Eine stille Umarmung durch die Ferne,
Widow