Diagnosen

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.

Jenny Doe
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 08:34

@ leberblümchen
Dass es womöglich nichts gibt, was man neiden könnte, ließe sich ja ganz gefasst klären, so wie du das beschrieben hast.
Die ganze Welt ist "ungerecht" und voll von Dingen, auf die man neidisch sein kann. Ich erlebe das z.B. sehr stark im Altenheim, in dem ich ehrenamtlich arbeite. Ich betreue eine Frau, die 100% behindert und pflegebedürftig ist, also in jeder Hinsicht Hilfe braucht, und deshalb mehr Zeit und Aufmerksamkeit fordert, als eine andere Frau, die ich betreue. Die andere Frau hat Recht, wenn sie sagt "Soviel Aufmerksamkeit schenken sie mir nicht". Richtig, tue ich nicht, da ich selber nur über eine bestimmte Kraft verfüge, die ich (ungerecht) aufteilen auf alle, die meine Aufmerksamkeit haben wollen. Und da bekommen die, die tatsächlich und objektiv die kränker sind als andere, mehr brauchen als andere, auch tatsächlich mehr als jene, die noch selbständig sind, auch wenn sie das Bedürfnis verspüren, genauso viel Zuwendung und Aufmerksamkeit haben zu wollen wie andere. Das kann neidisch machen und macht neidisch. Das Problem hast du überall. Obs nun um Verteilung der finanziellen Ressourcen geht oder was auch immer. Es gibt immer welche, die mehr bekommen und welche, die leer ausgehen oder (ihrer Meinung nach) zu wenig bekommen. Neid ist menschlich, Neid ist normal. Jeder braucht und will was, aber man kann nicht jedem das geben, was er braucht.

Wut beim Einzelnen entsteht doch meist dann, wenn andere sagen "Du bist neidisch",
- und man sich ertappt fühlt oder
- in Wahrheit nicht neidisch ist, sondern andere Beweggründe hat, über etwas sprechen zu wollen, man sich also missverstanden fühlt.

Aber Gründe neidisch zu sein, findet man an jeder Straßenecke. Selbst auf die dort sitzenden Obachlosen könnte man neidisch sein. Soviel Freiheit und Unabhängigkeit, ein Leben ohne Zwänge unter freiem Himmel, ... na wenn das nichts ist, worauf so manch eine unter Druck lebender Mensch neidisch sein könnte

Aber man sieht eben gerne nur das Schöne, das Leid mit sich bringt und zur Folge hat, die Aufmerksamkeit, die Fürsorge, die zusätzliche Therapie, die zusätzliche finanzielle Unterstützung, ... und übersieht die Gründe, die die Bevorteilungen haben.
Sieht man nur die Vorteile, die ein Leidender hat, könnte man vor Neid platzen und verspürt die Sehnsucht, auch ein Opfer sein zu wollen (aber bitte ohne traumatische Erfahrungen).
Lerne aus der Vergangenheit, aber mache sie nicht zu deinem Leben. Wut festhalten ist wie Gift trinken und darauf warten, dass der Andere stirbt. Das Gegenstück zum äußeren Lärm ist der innere Lärm des Denkens.

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stern
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 08:51

Losgelöst von usern und deren Meinungen: Ich glaube tatsächlich, Neidgefühle sind in der eigenen Therapie gut aufgehoben, wenn man mit der eigenen Therapie mit etwas nicht zufrieden ist bzw. fehlt - einen guten Arzt/PT vorausgesetzt (ich weiß, auch das kann man nicht immer voraussetzen). O.k., den Fonds mal ausgenommen, aber vielleicht (?) herrschen ja (u.a.) auch falsche Vorstellungen bzgl. der (vermeintlichen) "Zuwendung" anderer... ich meine, man ist ja nicht dabei. Und wenn man das selbst hochgradig sehnt, so wiegt ein Bericht eines users, der das (vermeintlich) erhält, was man sich selbst wünscht, vielleicht nicht nur doppelt, sondern 10-20fach, so dass man glaubt, dass man selbst benachteiligt ist und man glaubt, einen Missbrauch vorweisen zu müssen, um dieses oder jenes zu erhalten.

Ich bin tatsächlich froh, dass mir nicht vermittelt wurde, das sMb und Gewalterfahrungen das schlimmste überhaupt sind... und dann kommt weit nichts... und dann vielleicht mal (...). Solche Sichtweisen transportieren vielleicht (zumindest teilweise) die Ängste von Nicht-Missbrauchten. Ausschließen kann ich es natürlich nicht, dass andere Therapeuten anders werten... aber man stelle sich vor, der PT sagt: Also was sie erlebten, ist ja nicht so schlimm wie ein sMb... hmmm.

Vielleicht definiere ich "Zuwendung" anders... aber bereits, dass man 50 Min. hat, in denen es nur um den Patienten geht, ist Zuwendung pur, finde ich. Mich würde daher interessieren, welche Unterschiede zwischen Traumapatienten und Nicht-Traumapatienten ausgemacht werden, was die "Zuwendung" angeht...qualitativ und evtl. auch quantitativ.
Zuletzt geändert von stern am Fr., 09.10.2015, 09:04, insgesamt 3-mal geändert.
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Entknoten
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 09:32

Mir fehlt hier tatsächlich das Gegenteil - "man muss auch gönnen können!"

Wenn man mal den Einzelfall betrachtet, dann sieht man mitnichten Menschen die aufgrund ihrer Erfahrungen "mehr" Zuwendung, Aufmerksamkeit und Bedürfnisbefriedigung erhalten.
Sehr oft lese ich HIER Menschen, die aufgrund ihrer Lebensumstände es einfach sehr schwer haben. Ich möchte mir nicht anmaßen zu behaupten dass sie DAS aufgrund der "Macht ihrer Diagnose" tun.
Ich glaube eher dass das (hier im Forum) oft lesbare Leid wirkliches Leid ist. Denn ich kann mir nicht vorstellen dass man im "realen Leben" tatsächlich überall Verständnis erntet.

Viel eher wird es doch oft so sein dass von jedem einzelnen erwartet wird zu funktionieren, sich anzupassen, ein "tragendes Mitgleid der Gesellschaft zu sein".
Wer will denn da NICHT verstehen wollen dass eben manchmal eben doch alles, was ihnen bleibt, die "Zuwendung des Therapeuten" ist, und die vielleicht tatsächlich aufgrund der Schwere der Diagnose.
Mitnichten bekäme doch ein Spinnenphobiker die gleiche Zuwendung wie jemand, der traumatisiert ist. Und das ist doch irgendwie auch gut und richtig.

Wie viele hier haben denn tatsächlich ein tragendes, verständnisvolles soziales Netz in dem sie so sein dürfen wie sie sind?
Wie viele müssen vermutlich auch ständig "im Außen" um Anerkennung kämpfen, weil nicht wenige Menschen das Leid eben nicht verstehen?
Wie viele werden vermutlich tatsächlich GAR NICHT mehr ernst genommen? Wie viele haben vermutlich den Stempel "sich mal endlich nicht mehr so anstellen zu sollen!!!"?

Aber kann man das nicht auch mal einfach wertefrei gönnen?

Muss man wirklich bis ins letzte Detail aufdröseln ob jemand zurecht etwas erhält oder nicht?
Und - hat jemand, der traumatisiert ist, nicht tatsächlich schon genug "nicht bekommen"?
Das einzige was manchen offenbar manchmal bleibt ist der verzweifelte Versuch an dem "bisschen" festzuhalten, was er bekommt. Und im Vergleich zu dem was wir Menschen brauchen ist doch dieses "bisschen" so verflucht wenig, egal ob es nun 275 Stunden MEHR sind als die, die ich genehmigt bekommen habe!
Es ist doch völlig EGAL aus welchem Grund heraus jemand für sich etwas in Anspruch nehmen möchte. Ob nun traumtisiert oder nicht - wenn jemand für sich irgendwann in der Lage ist sein Bedürfniss zu erkennen und das versucht entsprechend durchzusetzen, dann ist das SEIN Recht!

(Statt "wer heilt hat recht", sollte man sich vielleicht einfach mal "wer leidet hat recht" denken!)

Und ja, wenn ich NUR über die Diagnose diese Anerkennung finde (denn der Rest der Gesellschaft hat mich doch dann offenbar oft abgeschrieben!), dann bitte - zurecht!
Versucht eure Leere zu füllen, und zwar mit allem was ihr bekommen könnt!
Ja, vielleicht hält man dann an seiner Diagnose fest. Vielleicht hat in so einem Fall die Diagnose "Macht", weil ich damit einen erklärenbaren Grund habe warum ich so bin wie ich bin.
Vielleicht ist die Diagnose oft die einzige "Wahrnehmung meiner Selbst", die ich im außen erfahre.

Ich finde es "beschämend" dass wir hier in aller Öffentlichkeit meinen andere beurteilen und verurteilen zu können, dass wir uns anmaßen allgemeingültige Richtlinien aufzustellen und im Grunde versuchen die gesamte Psychotherapie (die uns allen offenbar so vertraut ist!) infrage zu stellen.

Das meinte ICH mit der Eigenverantwortung: Ich für mich KANN jeden Tag die Entscheidung treffen was ich aus meinem Leben mache.
Aber - so habe ich gestern bei einem längeren Gespräch wieder einmal lernen müssen - das KANN nicht jeder. Vielleicht WILL es auch nicht jeder, aber auch da - das vermag ich nicht zu beurteilen.

Ein weiser Mensch in meinem Leben sagte mir einmal:
"Auch wenn du dich rational begriffen hast, so werden deine Gefühle erst einmal nicht nachkommen. Die bummeln einfach noch. Das dürfen die auch, die haben schließlich 38 Jahre lang so gelebt!"

Jeder Fall, jede Diagnose, jedes Leid, jede therapeutische Beziehung ist doch ein Einzelfall. Und so sollten wir auch mal anfangen es zu betrachten, statt uns hier in Pauschalisierungen und (vermeintlich) allgemeingültigen Glaubenssätzen zu verlieren!
Zuletzt geändert von Entknoten am Fr., 09.10.2015, 09:35, insgesamt 1-mal geändert.
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stern
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 09:33

leberblümchen hat geschrieben:ich finde das mit dem Neid auch unheimlich kompliziert. Vielleicht eine der kompliziertesten Erscheinungen überhaupt. Irgendwie irritiert mich gerade auch spontan, dass ich nicht mal weiß, ob es ein anderes Gefühl gibt, das man jemandem überhaupt mit solch einer Wucht vorwerfen kann? "Du bist ja nur neidisch" - das wird so als gegeben vorausgesetzt, dass der so Angesprochene, wenn er nicht völlig verstumpft ist, sich reflexartig ertappt fühlen MUSS.
Anderen Gefühle vorzuwerfen, ist natürlich heikel... denn nicht immer weiß man, was jemand fühlt, teilweise kann man es jedoch an der Reaktion vermuten. Und wenn jemand sagen würde, du bist ja nur wütend... so gibt es nur 2 Möglichkeiten: stimmt oder stimmt nicht. Aber eine solche Feststellung trifft nicht unbedingt.

Wenn man anderen Neidgefühle vorwirft, so ist der Unterschied, denn ich sehe, dass man damit auch etwas über sich selbst aussagt: Nämlich dass man glaubt, etwas zu haben, worauf jemand neidisch sein könnte. Je nach dem, worum es geht, kann die eigentliche message auch eine Selbstaufwertung sein (bei Therapieverfahren jedoch eher weniger).
Und weil dieser Neid-Vorwurf wirklich ständig präsent ist, kann gar nicht als Gedanke entwickelt werden, ob es wirklich so ist, dass Menschen, denen man sagt: "Sie sind schwer traumatisiert", mehr Zuwendung entgegengebracht wird als Menschen, denen man sagt: "Sie sind ein Borderliner". Dass das nicht geht, finde ich vor allem deshalb so schade, weil nicht nur ich hier immmer betont habe, dass es nicht darum geht, infragezustellen, wem es nun tatsächlich schlechter ginge.
Finde ich auch schade... bei Borderline gibt es, soweit ich weiß, manchmal Therpieverträge, die auch Kontaktaufnahmen außerhalb der Sitzungen regeln... auch darauf könnte man neidisch sein. Aber es verhält sich, wie Jenny sagte: Neiden kann man so gut wie alles.

Was ich wahrnehme: Hohe Zuwendungsbedürfnisse... aber vielleicht gehören die eher in die Therapie - anstelle dass man sich aneinander abarbeitet.

zu sagen, ich wünsche oder ich brauche fällt auch manchen schwer... und leichter kann es sein, auf andere einzuhacken, die das (vermeintlich) haben.

In der Klinik fand ich tatsächlich gut, dass es hieß, hier hat sich jeder um sich selbst (und seine Gesundheit) zu kümmern... nicht um andere Patienten. Jeder hat seinen eigenen Therapeuten.

-------------

Schluss sollte mit Stichelei sein... diejenigen, die das Thema nicht vertragen ohne auszuteilen, sollten vielleicht tatsächlich lieber andere Threads verfolgen.
Zuletzt geändert von stern am Fr., 09.10.2015, 09:37, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 09:36

stern, erst mal zu den Arztbriefen: Ich würde da unterscheiden zwischen einem Irrtum aufgrund von Schluderigkeit und einem Machtmissbrauch. Wobei, fällt mir gerade ein, das vielleicht auch eine Form von Machtausübung ist, schluderig zu arbeiten

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Entknoten
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 09:44

leberblümchen hat geschrieben:stern, erst mal zu den Arztbriefen: Ich würde da unterscheiden zwischen einem Irrtum aufgrund von Schluderigkeit und einem Machtmissbrauch. Wobei, fällt mir gerade ein, das vielleicht auch eine Form von Machtausübung ist, schluderig zu arbeiten
Ich glaube dass die vielzitierte "Macht" des Therapeuten doch wohl eher etwas ist, was dem Therapeuten oft seitens des Patienten unterstellt wird. Nämlich dann, wenn dieser dem Therapeuten sein "Problem" überreicht und dann quasi erwartet dass der Therapeut dass dann löst.

Eine andere Macht, die der Therapeut haben könnte, die erkenne ich für mich nicht.

(Wie gesagt - hier sollte man den Einzelfall betrachten, denn es gibt sehr wohl "machtmissbräuchliche Patienten-Therapeuten-Beziehungen". Aber da, finde ich, eben auf beiden Seiten.)
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 09:46

Nämlich dass man glaubt, etwas zu haben, worauf jemand neidisch sein könnte. Je nach dem, worum es geht, kann die eigentliche message auch eine Selbstaufwertung sein
Exakt! Kann eigentlich gar nicht deutlich genug gesagt werden.

Was die Ungerechtigkeit betrifft: Das bringe ich gar nicht so mit Neid in Verbindung: Sehr viele arme Menschen sind doch recht großzügig, wie ich beobachtet habe. Der Klassiker ist die Gastfreundschaft bei Leuten, die selbst kaum satt werden und dann lieber Wasser "essen" und dem Gast die Suppe geben, anstatt ihm zu neiden, dass er eigentlich Geld genug hätte, sich woanders satt zu essen. Oder ich kenne auch mehr Solidarität unter Armen als Neid. Vielleicht "braucht" niemand Neid, wenn er das Gefühl haben kann, dass ihm der Mangel am Objekt des Begehrens nicht ständig unter die Nase gerieben wird. Wobei es dann auch eher kein Neid ist, sondern (berechtigte) Aggression, denke ich. Was mich schon als Kindergartenkind wütend gemacht hat, war, wenn jemand mit etwas "gewedelt" hat, um Neidgefühle zu erzeugen. Kann man Neidgefühle künstlich erzeugen?

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Fundevogel
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 09:49

Ich finde das Thema Diagnosen schon sehr spannend, auch, dass sich der Thread schon wieder in die Trauma-Neid-usw-Richtung entwickelt hat, finde ich spannend. Warum ist das so?

Was mir bei dem Trauma-Thema am meisten auf die Nerven geht ist dies:
Das Wort Trauma impliziert immer (?) dass die Person, der Wasauchimmer widerfahren ist,
ein unschuldiges Opfer widriger äußerer Umstände ist.
Im Gegenzug wären dann alle anderen irgendwie selbst schuld.
Und wenn sie nicht selbst schuld sind, dann findet man sicher ein Trauma als Begründung.

Wenn dann ein berufener "Fachkundiger", sprich Therapeut, Psychiater oder sonstjemand, der es amtlich bescheinigt wissen sollte, von Trauma spricht, dann ist das voll super, weil dann ist man als Patient offiziell zum Leiden berechtigt. Alle anderen Leidenden sind dann aber irgendwie ... ja was eigentlich?

Die Frage der Schuld stellt sich mir in meiner eigenen Therapie immer wieder. Dabei ist das Wort Schuld eigentlich verpönt, ich glaube nicht an Schuld, nicht an Schuldzuweisungen. Aber ich fühle mich nunmal schuldig und ich weiß auch (noch! hoffe ich) nicht wie man da rauskommt. Und ich fühle mich schuldig, egal ob mein Therapeut von Trauma spricht oder nicht. Ich habe alles durchdekliniert in beide Richtungen Trauma oder Innerpsychische Vorgänge und es ist beides sehr schmerzhaft.

Und wenn ich schon dabei bin zu sagen, was mir auf die Nerven geht: So gewisse "diagnostische" Fachbegriffe wie eben z.B. Trauma oder triggern oder - huch ! - dissoziieren werden, zumindest so meine Wahrnehmung hier im Forum, schon so häufig verwendet, dass sie überhaupt nichts mehr bedeuten. Oder aber dass sie den p.t. Lesern bedeutungsschwanger um die Ohren gehauen werden, seht her, da ist nicht nur ein fades unbedeutendes Problem.

Ich habe da auch keine Lösung oder Antwort, wollte mich auch nur mal ein wenig auskotzen. Tut gut eigentlich. Und wie gesagt: Wie wichtig eine Diagnose ist, finde ich nach wie vor sehr spannend. Vielleicht später noch mehr dazu.
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 09:55

leberblümchen hat geschrieben:stern, erst mal zu den Arztbriefen: Ich würde da unterscheiden zwischen einem Irrtum aufgrund von Schluderigkeit und einem Machtmissbrauch. Wobei, fällt mir gerade ein, das vielleicht auch eine Form von Machtausübung ist, schluderig zu arbeiten
ja, sicherlich... aber hier war ja das Argument, ob es wirklich der Regelfall sein, dass es unzutreffende Briefe gibt (denn selbst hat man das noch nicht erlebt)... sowie:
Liegt nicht auch da immer eine Teilschuld bei uns als Patienten
Nein, natürlich nicht immer.

Aber sicherlich würde ich Schludrigkeit (wie in meinem Fall) von Machtmissbrauch unterscheiden. Nur gerate mal an einen narzisstisch kompensierenden Arzt, wenn du Kritik übst... doch... damit kann nicht jeder professionell umgehen (die Berufsbezeichnung sagt dabei wenig auf... das gibt es auch in anderen Berufsfeldern). Bei einem nicht so guten Behandlungsverlauf kann es dann schon vorkommen, dass der Patient dann ja natürlich borderlinige Tendenzen haben muss (was ursprünglich nicht diagnostiziert wurde... aber auf das Behandlungende hin, wird diese Feststellung dann getroffen). Oder Kritik eines Patienten wird dann umgedeutet (vgl. den Link, den ich einstellt). Ich möchte nicht sagen, dass es Regelfall ist, aber das gibt es auch - obwohl es das nicht geben sollte. Und Thema Diagnose: Und schon allein aufgrund der Tatsache, dass der Patient eine Diagnose hat, ist vielleicht die erste Anscheinsvermutung: Was der Arzt schreibt, sagt wird schon passen.
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 09:57

Entknoten, wegen Macht, Schluderigkeit und Arztbrief: Ich würde schon sagen, dass das zusammenhängt und dass sich da die Macht des Therapeuten zeigt:

Stell dir vor, besagter Therapeut muss eine Therapie beantragen und einen Bericht für den Gutachter schreiben. Ich weiß, dass das nicht immer nur wegen des Arbeitsaufwandes nicht so gerne getan wird: In diesem Fall ist der schreibende Therapeut der "Empfänger des Urteils" des Gutachters, der wiederum die Macht hat, mal eben über alles oder nichts zu entscheiden (diese Macht wird ihm wiederum vom Gesundheitswesen, also von der Gemeinschaft, zugeteilt). Entsprechend sorgfältig wird er arbeiten.

Derselbe Therapeut fühlt sich in einer weniger "bedrohlichen" Position, wenn er einen Brief an einen gleichrangigen Kollegen schreibt, weniger kontrolliert, und Tippfehler o.ä. werden ggf. in Kauf genommen. Entsprechend sind andere Konstellationen denkbar, wo man sich überlegen muss: "Wie sorgfältig muss ich sein? Und was passiert (mir), wenn ich nicht sorgfältig bin?" Habe ich Macht und bin ich mir meines Ansehens sicher, muss ich keine Sorgfalt aufwenden. Will ich sogar verdeutlichen, dass ich Macht habe, kann ich meine Arbeit sogar betont schlampig machen (z.B. ein vom Patienten / Adressaten erwartetes und benötigtes Schreiben hinauszögern).

Heißt natürlich: Nicht jeder ist schlampig, nur weil er nicht kontrolliert wird usw.


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Beitrag Fr., 09.10.2015, 10:03

Fundevogel, das ist das erste Mal, dass ich dich kotzen gesehen habe - und ich finde, es steht dir mal ganz gut (bitte nicht falsch verstehen).

Ich kann alles unterschreiben, ich werde vom Wort "triggern" auch immer extrem getriggert - oops Ich glaube, es ist, weil diese Worte wegen ihrer häufigen Verwendung - zumindest auf mich - mittlerweile so flapsig wirken, fast so (Achtung, Triggeralarm... ), als sei das so eine Art Lifestyle, sich permanent getriggert zu fühlen.

Vermutlich gibt es da ein semantisches Vakuum: Es gibt das Trauma und das, was alleine dadurch definiert ist, kein Trauma zu sein. Was man dann halt alles irgendwie bezeichnen kann, nur das alles gehört in die Gruppe der Nicht-Traumen.

Meine Utopie ist immer noch, diese Begriffe abzuschaffen.
Zuletzt geändert von leberblümchen am Fr., 09.10.2015, 10:05, insgesamt 1-mal geändert.


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Beitrag Fr., 09.10.2015, 10:04

@ Stern
bei Borderline gibt es, soweit ich weiß, manchmal Therpieverträge, die auch Kontaktaufnahmen außerhalb der Sitzungen regeln... auch darauf könnte man neidisch sein.
An etwas Ähnliches musste ich gerade in der herrlich warmen Badewanne denken. Meine Therapeutin, die ja im Urlaub ist, meinte "Wenn es ihnen schlecht geht, dass können Sie mich anrufen, dann machen wir einen Notfalltermin". Ich dachte so bei mir: "Zum Glück bin ich (nicht mehr) von der Aufmerksamkeit meiner Therapeutin abhängig, sonst müsste ich "mir geht es so schlecht" inszenieren, damit ich in den Genuß ihrer besonderen Aufmerksamkeit komme. Im Prinzip ist es ja lieb von ihr, dass sie ihren Klienten das anbietet und sie sie nicht alleine lässt. Aber es muss einem schlecht gehen, sonst kommt man nicht in den Genuß ihrer Fürsorge. Wenn es einem zu gut geht, geht man leer aus. Ich bin zum Glück nicht (mehr) neidisch auf die, die zu meiner Therapeutin dürfen, weil es ihnen schlechter geht als mir, sondern ehrer stolz darauf, dass ich ohne sie leben kann. Aber es ist halt dieses "Es muss ihnen schlecht gehen, nur dann bekommen sie meine besondere Aufmerksamkeit", die mir zum Nachdenken gab.
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 10:09

Noch mal @ Entknoten: Wegen der Eigenverantwortung:

Stimmt. Meiner Meinung nach kann das Wort "Eigenverantwortung" stehenbleiben ( ), wenn es durch ein "auch" davor ergänzt wird, das meint, dass es nicht alleine Patient und Therapeut als zwei Individuen sind, die das Thema "die Bedeutung der Diagnose" verhandeln.

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Beitrag Fr., 09.10.2015, 10:11

Entknoten hat geschrieben:Ich glaube dass die vielzitierte "Macht" des Therapeuten doch wohl eher etwas ist, was dem Therapeuten oft seitens des Patienten unterstellt wird. Nämlich dann, wenn dieser dem Therapeuten sein "Problem" überreicht und dann quasi erwartet dass der Therapeut dass dann löst.
Macht würde ich von Machtmissbrauch unterscheiden... und eine gewisse Macht haben sicherlich Patient UND Therapeut. Wenn beide davon Gebrauch machen (oder auch nur einer), so ist eine gängige Bezeichnung auch: Machtspiel/-kampf. Zur Macht des Therapeuten würde ich die Diagnosestellung zählen (Machtmissbrauch wäre den Patienten als borderlinig abzustempeln, weil er sachgem. Kritik übte). Macht des Patienten z.B. die Bezahlung (Machtausübung z.B. wenn diese verweigert wird, weil man mit einer Sitzung unzufrieden war). Mir würden sehr viele Beispiele einfallen... subtile und weniger subtile.
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Beitrag Fr., 09.10.2015, 10:18

Jenny, wegen deiner Badewannengedanken:
Das meine ich eben: dass das was mit dem Patienten MACHT, wenn man ihm sagt: "Wenn es Ihnen schlecht geht, bekommen Sie noch einen Termin". Das ist ja mehr als eine Auskunft, die man mit einem "aha" hinnimmt. Es wirkt scheinbar einfach so. Und es kann dazu führen, dass man tatsächlich so denkt, fühlt und handelt: "Wenn ich was bekommen will, muss es mir schlecht gehen".

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