Oberflächlichkeit wo man hinsieht...

Nicht jedem fällt es leicht, mit anderen Menschen in Kontakt zu treten, "einfach" mal jemanden kennenzulernen oder sich in Gruppen selbstsicher zu verhalten. Hier können Sie Erfahrungen dazu (sowie auch allgemein zum Thema "Selbstsicherheit") austauschen.
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Rezna
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weiblich/female, 40
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Beitrag Fr., 17.06.2011, 12:25

Weil du absolute Treue gegen Fremdgehen und One-Night-Stands ausspielst, und damit sagst: Treue ist Tiefgründig, und Fremdgehen/ONS sind oberflächlich. Das stimmt so nicht.
Ich gehe einmal davon aus, fast jeder Mensch ist mit den Mythen herangewachsen, den vorangetragenen Tugenden, wie Treue und Ehrlichkeit. Und ich denke, jeder Mensch findet das gut und denkt von sich, er wäre das. Und selbst wenn einer zugibt, ein untreuer Lügner zu sein, geht er dabei mit einer Ehrlichkeit hinaus. Ich will Betrug nicht rechtfertigen, aber du selber hast ja schon erlebt, dass man manchmal nicht das halten kann, was man von sich erwartet. Liebe die ewig währt, und dann verliebt man sich in eine Andere - trennt sich. Ist das nun oberflächlich, seinem Herzen zu folgen? Als Gegenargument könnte man ja bringen, dass man um eine Liebe, eine Beziehung kämpfen muss, sie nicht leichtfertig aufgeben soll. So einfach ist das also nicht. Es ist nicht Schwarz-Weiss. Auch Fremdgeher und Lügner wollen, dass sie selber nicht betrogen und belogen werden. Umgekehrt muss ich sagen, will jeder Mensch belogen und betrogen werden. Würde man absolut ehrlich in die Welt gehen, würde man vermutlich noch nicht einmal einen Job bekommen. Der Chef will belogen werden ob des Selbstvertrauens, der Kompetenz und darüber, wie sehr man genau in diese Firma will. Irgendwo weiss der Chef, dass es nur darum geht, einen Job zu haben, weil eben alle einen brauchen, und man Miete zahlen muss. So kann man das aber nicht sagen. Meistens zumindest. Eine Frau die fragt: Bin ich fett? Will nicht hören, dass man sagt: Naja, deine Oberschenkel wabbeln schon ganz ordentlich. Sie will belogen werden, hören, dass sie schlank, perfekt ist, auch wenn sie weiß, dass sie diesen Makel hat. Wir lügen den ganzen Tag. Wir lächeln, obwohl uns zum heulen ist. Wir grüßen, auch wenn wir denjenigen nicht sehen wollen. Ist das alles oberflächlich?

Wenn mehrere Menschen zusammenkommen, reduzieren sie sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner. Das macht Massen auch so gefährlich. Das erklärt, warum viele in der Gruppe sich dermaßen dämlich verhalten, wie sie es alleine nie täten. Als soziales Tier schwingen wir uns ein, verlassen uns auch ein Stück weit, geben Verantwortung ab, wollen integriert sein, die Herde schützt - und das ist überlebensnotwendig. Viele dumme Stammtischparolen spiegeln damit oft nicht die Realität des Einzelnen wieder.
Oft lernt man Menschen in einer solch oberflächlichen Situation nicht wirklich kennen. Man registriert, dass es sie gibt, aber um auf einen Menschen wirklich zu stoßen, zieht man sich zu zweit zurück. Und das Phänomen kennt wohl auch jeder, dass man mit jemanden gerade einen eingehenden philosophischen Diskurs führte, da kommt ein Dritter dazu und auf einmal wird komplett hohl dahingefaselt, oberflächlich wie nur was. Umgekehrt, jawohl, kann der philosophische Diskurs auch dazu dienen, oberflächlich zu bleiben, nicht in die Tiefe der eigenen und anderen Person zu tauchen.

Phil88, das Leben ist verdammt komplex. Wir lernen, dass die Herdplatte heiss ist. Aber das heisst weder, dass wir dem Herd für immer fern bleiben und nichts mehr kochen, noch, dass wir genötigt sind, uns immer wieder die Hände zu verbrennen. Wir lernen Strategien uns anzunähern, zu erfahren, was Sache ist, ohne uns dabei abzufackeln. Manchmal aber passiert es selbst dem erfahrenen Koch, dass er sich noch die Finger verbrennt. Manches schmeckt nur oberflächlich gut, manches nur in der Tiefe. Wie man das für sich selner differenziert, ist ein langer Lernprozess. Du bist nicht was du denkst. Du bist nicht die Metaffern, nicht die Mythen, nicht die Werte die du hast. Du bist "nur" jemand, der darüber entscheidet, wie und ob er sie anwendet. Dann wirst du auch sehen lernen, dass es verdammt oberflächliche Philospophen gibt, und verdammt tiefgründige Hüpfdohlen.
Man kann auch sagen: Oberflächlichkeit ist ein Prozess, die erste Schicht zur Tiefgründigkeit. Jedes eintauchen erfolgt durch eine Oberfläche. Und oft bekommt man nur Luft, wenn man an der Oberfläche schwimmt. Locker werden, heisst daher nicht, sich illegalem oder asozialem Verhalten hingeben, sondern einfach nur - nicht zu verkrampfen. Locker werden ist nicht, als Gegenpol zur Treue ausschließlich die Untreue zum Lebenskonzept zu machen, sondern sich nicht ins Hemd machen, weil es untreue Menschen gibt.
»Nimm niemals Böswilligkeit an, wenn Dummheit hinreichend ist.« [Hanlon's Razor]
»Wir sind lieber die Bösen als die Dummen.« [Richard David Precht]

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Phil88
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Beitrag Fr., 17.06.2011, 12:44

Wow... wirklich sensationell erklärt, vielen Dank..

Ich sehe, ich muss wohl wirklich noch eine Menge lernen. Wie ich jetzt kurzfristig mit dem ganzen Input umgehe (z.B. wenn ich eine Frau kennenlerne, wenn ich mit dem ein oder anderen Kollegen beim nächsten Event mal etwas ins Gespräch komme...) muss ich noch herausfinden. Fakt ist: Es klingt alles deutlich entspannter, entkrampfter und glücklicher. Ich will einfach glücklich werden! Mit mir (da bin ich dran), mit Frauen, mit Freunden und Bekannten, mit Kollegen und dem Rest der Welt. Und durch die wirklich tollen Beiträge hier merke ich, dass ich dieses Glück nur finden kann, wenn ich bei mir da oben ansetze und "lockerer werde"

Das Ganze muss jetzt erstmal auf mich wirken, ich werde versuchen, meine Ex loszulassen und die Trennung zu verdauen und anschließend die Sichtweisen mal zu verinnerlichen, damit ich in Zukunft entspannter mit diesen Themen umgehe und es nicht von den Menschen erwarte, nur weil ich es so eingetrichtert bekommen habe...

Ich hoffe, ich kann das auch alles irgendwann leben, denn momentan arbeitet es ganz schön in mir...

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Pitt
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Beitrag Fr., 17.06.2011, 12:56

Phil88 hat geschrieben: Meine erste Beziehung (mit 15) habe ich genau so beendet, wovor ich Angst habe: Ich habe sie für eine andere Frau verlassen. Die nächste Frau hat mich mit meinem besten Freund betrogen, die anderen gingen "normal" nach 2 Jahren zu Ende, eine beendete ich, weil die Gefühle nicht mehr ausreichten, die andere beendete sie.
Hi Phil,
Du bist doch ein junger "Philosoph".
Ein redlicher Mann, der "Untreue" für oberflächlich hält.
Deine zweite Frau hat Dich mit Deinem besten Freund betrogen und du daraufhin die Beziehung beendet.
Nun frage ich dich mal (quasi als theoretischer Diskurs) Folgendes:
Worin besteht denn eigentlich die Verletzung, wenn der Partner - sagen wir mal - einen Seitensprung begeht. Worin besteht die emotionale Verletzung.
Warum wünscht Du Dir körperliche Treue Deines Partners?
Ich frage das, weil ich selbst auf diese Frage keine "gute" spontane Antwort geben kann.
Vielleicht fallen dir ja gute Sätze ein...
Lg
Pitt

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Thread-EröffnerIn
Phil88
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Beitrag Fr., 17.06.2011, 13:09

Hi Pitt,

das ist eine gute Frage, mit der ich mich auch schon häufig beschäftigt habe, aber auch keine wirklich zufriedenstellende Antwort weiß.

Ich finde, wenn ein Partner körperlich untreu wird, kann die geistige Treue nicht unbeschädigt bleiben. Es war für mich verletzend, weil meine damalige Freundin mir somit gezeigt hat "Du reichst mir (im Bett) nicht. Du erfüllst meine Bedürfnisse (im Bett) nicht (mehr)." Natürlich, mit der richtigen Portion Selbstwertgefühl sagt man: "Okay, schade. Du reichst mir zwar noch voll und ganz, wenn das aber nicht auf Gegenseitigkeit beruht, hol Dir was Du brauchst und willst, ich liebe Dich trotzdem und die emotionale und geistige Beziehung zwischen uns bleibt daher unberührt"

Da habe ich aber offenbar wirklich zu wenig Selbstwertgefühl, weil ich dadurch verletzt und gekränkt war. Zudem war sie danach auch nicht mehr "die selbe". Sie war damals (die paar Tage, in denen ich das noch nicht wusste) kühl, abweisend, nicht mehr so herzlich und offen, wir waren in der Zeit nicht mehr im Bett... sie war einfach komplett anders - darum hab ich's dann auch rausgefunden. Vielleicht war sie so, weil sie ein schlechtes Gewissen hatte, sich vielleicht selbst in meine damals besten Freund verliebt hatte, verwirrt war, wie sie mit der Situation umgehen sollte, oder alles zusammen.

Vielleicht funktioniert sowas, wenn man von vornherein sagt: "Jeder macht, was er will, mit wem er will" und diese Vereinbarung für beide klar und vertretbar ist. Nur ist in meinen Augen aber die geistige Untreue nicht weit, wenn die körperliche geschieht. Aber da ich seit gestern mein Weltbild sowas von auf den Kopf gestellt bekommen habe, werde ich mich auf diese These nicht mehr stützen

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Affenzahn
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Beitrag Fr., 17.06.2011, 19:19

Phil88 hat geschrieben:Da habe ich aber offenbar wirklich zu wenig Selbstwertgefühl, weil ich dadurch verletzt und gekränkt war.
Wer möchte denn nicht in der Liebe einen gesteigerten Selbstwert erfahren? Die Leute, die das nicht wollen (bzw. nicht daran glauben), verlieben sich auch nicht. Logisch, dass man gekränkt ist, wenn das Geliebtwerden und damit die Selbstwerterhöhung in Frage gestellt wird. Sehr oberflächlich ist das übrigens, aber, wenn ich mich nicht irre, völlig normal.

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Pitt
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Beiträge: 2302

Beitrag Fr., 17.06.2011, 23:28

Phil88 hat geschrieben: Es war für mich verletzend, weil meine damalige Freundin mir somit gezeigt hat "Du reichst mir (im Bett) nicht. Du erfüllst meine Bedürfnisse (im Bett) nicht (mehr)." Natürlich, mit der richtigen Portion Selbstwertgefühl sagt man: "Okay, schade. Du reichst mir zwar noch voll und ganz, wenn das aber nicht auf Gegenseitigkeit beruht, hol Dir was Du brauchst und willst, ich liebe Dich trotzdem und die emotionale und geistige Beziehung zwischen uns bleibt daher unberührt"
Hi Phil,
ich finde die von mir selbst aufgeworfene Frage interessant (peinlicherweise).
Vielleicht mache ich dazu mal nach langer Zeit einen eigenen Thread auf.
Mich "störte" ein Seitensprung primär dann, wenn damit gegen eine explizite Abmachung verstoßen wird. Mir ist das Vertrauenkönnen in das Einhalten von Abmachungen also wichtiger als erotische Exklusivität als solche. Ich meine, dass man keine diesbezüglichen Abmachungen treffen sollte, wenn man sich nicht sicher ist, sich selbst daran halten zu können.
... aber Vertragstreue ist ein weites Feld...
Lg
Pitt

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she
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Beiträge: 9

Beitrag Sa., 16.07.2011, 19:51

Hallo Phil,

ich denke dass deine geschichte nichts mit werten sondern nur mit deiner verletzten eitelkeit zu tun hat. deine freundin hat sich unerwartet anders entwickelt und entschieden wie du es erwartet hättest und gewünscht hättest. das tut weh. aber wenn sie sich entschieden hat, ihre priorität aufs studium zu setzen ist es ihr wille und ist eben so. klar bist du traurig und es tut weh, aber es hat nichts mit oberflächlichkeit zu tun, wenn einen ein mensch offen sagt, dass er einem im moment nicht das geben kann, was von ihm erwartet wird. das finde ich sehr ehrlich und aufrichtig.
Oberflächlich finde ich eher, wenn man versucht, liebe mit einem geschenk zum geburtstag zu bewerten.

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Phaedra
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Beiträge: 13

Beitrag Mi., 20.07.2011, 21:56

Hallo Phil88,

Ich finde eigentlich dein Verhalten sehr nett und total ok!
Vielleicht hat da jeder eine andere Art des Umgangs mit diesem Thema und eine Trennung kann jedem passieren. Deine Ansprüche sind aber eigentlich schon nachvollziehbar, für mich jedenfalls.

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