Wie empfinden Geschwister ihr behindertes Geschwister?

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spirit-cologne
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Beitrag Fr., 17.05.2019, 14:02

Filousmere hat geschrieben: Fr., 17.05.2019, 00:11 Ich selbst habe also auf mehreren Ebenen unter der Behinderung meines Bruders gelitten - aber Fast alle Eltern haben es hinbekommen, beiden Kindern gerecht zu werden, so dass sich das "gesunde" Kind nicht hintenangesetzt fühlte. Es ist ein Mythos anzunehmen, dass alle Behinderten Therapien brauchen/bekommen und die Eltern nur auf dieses Kind schauen und das andere vernachlässigen. Zwar haben meine Eltern auch gemeint, ich wäre "nebenbei großgeworden", aber ich habe es nicht so empfunden, sondern denke, sie haben ihre Liebe sehr gerecht aufgeteilt. Mit "nebenbei" meinten sie wahrscheinlich, dass ich mich selbst zurückgenommen habe, um ihnen nicht noch mehr Sorgen zu machen. Geschwisterkinder machen sich selbst unsichtbar, glaube ich. Folgendes haben wir Geschwisterkinder alle: wir mussten sehr früh sehr reif sein und haben kein Verständnis für Oberflächlichkeiten, wir sind sehr sensibel und leidensfähig. Das ist das Thema, an dem ich mich nun abarbeite, um im Alter von 40 nochmal den Sprung zu einem gesellschaftsfähigen Menschen zu packen.
Ich finde, du widersprichst dir da irgendwie. Für mich liest sich das so, als würdest du noch in irgendeiner Idealisierung feststecken. Es sagt ja niemand, dass die Eltern "Schuld" sind und mit Absicht Unterschiede machen, aber sie tun es trotzdem (wahrscheinlich geht es auch gar nicht anders) und ich bin der festen Überzeugung, dass es zur eigenen Gesundung dazugehört, das zu sehen und anzuerkennen, auch wenn es weh tut. Kein Kind kann sich gesund entwickeln und entfalten, wenn seine unausgesprochene Aufgabe ist "unsichtbar" zu sein. Alle Kinder sind existentiell darauf angewiesen "gesehen zu werden". Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass dieser "Auftrag" vielleicht niemals offen ausgesprochen wurde und du ihn als Kind auch vielleicht gar nicht so wahrgenommen hast. Gewirkt hat er trotzdem. Und es hat was mit dir gemacht. Sonst hättest du nicht die Probleme, die du hast.

Wie teilt man Liebe "gerecht" auf, wenn es einfach mehr Belastungen gibt, als die Kapazität der Eltern eigentlich hergibt? Es gibt einen Begriff für diese Kinder, man nennt sie "Schattenkinder" und das ist kein Mythos, sondern gut erforscht. Ich bin auch eins davon und auch mein Auftrag war "unsichtbar" zu sein. Und ich habe auch lange gedacht, es war doch alles in Ordnung. Die Idealisierung der Familie und der Eltern gehört aber dazu zu diesem Phänomen. Auch dadurch werden die Eltern geschützt. Heute geht es mir relativ gut, aber davor stand viel therapeutische Arbeit und es hat lange Zeit gedauert, bis ich gesehen und akzeptiert habe: Ja, ich bin ein Schattenkind und ich habe darunter gelitten. Es ist wie so oft im Leben, man muss schwere Realitäten erst ansehen und anerkennen, bevor man in der Lage ist, sie loszulassen. Heute habe ich meinen Frieden geschlossen. Meine Vergangenheit ist vergangen und ich lebe in der Gegenwart mit Blick in die Zukunft.

Das alles ändert nichts daran, dass ich meine kranke Schwester geliebt habe, von meinem ersten bis zu ihrem letzten Tag.
It is better to have tried in vain, than never tried at all...

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Filousmere
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Beitrag Mo., 20.05.2019, 13:10

Du hast wohl recht, dass ich noch starke Idealisierung betreibe. Ich hatte erst fünf Stunden Therapie und war an dem Thema noch nicht mit der Therapeutin dran. Dass meine Eltern sich und mir immer einredeten, wir hätten eine super glückliche Kindheit und es würde uns an nichts fehlen, hat zweifellos seine Spuren hinterlassen. Und ich habe noch viel Arbeit vor mir . Momentan macht es mir schwer zu schaffen, dass ich quasi durch denselben Kanal gekommen bin wie mein Bruder und in derselben Höhle gehockt habe wie er, als er noch gesund war. Und dass ich die Geburtserzählung meiner Mutter so verinnerlicht habe, als wäre ich selbst dabei gewesen. Ich sehe Bilder von dem, was im Kreißsaal passiert ist, ganz detailliert vor mir und werde immer wieder davon und von den Gefühlen dazu eingeholt. Ich identifiziere mich da viel zu stark mit meiner Mutter, denn ich bin ja 5 Jahre später geboren. Das ist doch wirklich krank.


shesmovedon
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Beitrag Mo., 20.05.2019, 13:14

Nun, meine Geschwister sind ja gesund, machen Karriere (Schwester ist Ärztin, Bruder bei der Kripo) und ich habe halt die psychischen Erkrankungen. Ich glaube nicht, dass das an sich ein Problem für meine Geschwister ist, dass ich "behindert" bin. Psychisch behindert halt. Sie können aber auch glaube ich zum Beispiel mit der Schizophrenie nicht so viel anfangen.

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spirit-cologne
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Beitrag Mo., 20.05.2019, 13:30

Schlendrian hat geschrieben: Mo., 20.05.2019, 13:14 Nun, meine Geschwister sind ja gesund, machen Karriere (Schwester ist Ärztin, Bruder bei der Kripo) und ich habe halt die psychischen Erkrankungen. Ich glaube nicht, dass das an sich ein Problem für meine Geschwister ist, dass ich "behindert" bin. Psychisch behindert halt. Sie können aber auch glaube ich zum Beispiel mit der Schizophrenie nicht so viel anfangen.
Das muss ja auch nicht immer so sein Schlendrian. Das hängt ja von vielen Faktoren ab, davon, wie stabil und belastbar die Eltern sind und welche Persönlichkeit sie haben, ob sie ein gutes soziales Netz haben, das ihnen hilft eventuelle Belastungen besser zu tragen, natürlich von der Art der Krankheit oder Behinderung (Schizophrenie ist zwar jetzt auch nichts, was man sich unbedingt wünscht, aber ich glaube, dass Krankheiten/Behinderungen, die ständige Pflege nötig machen oder häufig zu lebensbedrohlichen Zuständen führen, nochmal einen anderen Grad an Belastung auch für Eltern und Geschwister darstellen) und der Position in der Geschwisterreihe (ältere Geschwister leiden oft weniger, weil sie ja schon älter sind und mehr Kompetenzen haben und auch schon eine Zeit der ungeteilten Aufmerksamkeit hatten, wenn das kranke/behinderte Geschwister auf die Welt kommt bzw. krank wird. Jüngere Geschwister haben häufig deutlich mehr Probleme, weil gerade in den wichtigen frühen Jahren, d.h. 1.-3. Lebensjahr, aufgrund der aufwändigen Pflege des kranken oder behinderten Geschwisters, oft zu wenig und Aufmerksamkeit für sie bleibt. Die Eltern sind z.B. froh um jede Stunde, die das Baby schläft und beschäftigen sich weniger aktiv mit ihm als unter "normalen" Umständen.).
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shesmovedon
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Beitrag Mo., 20.05.2019, 13:57

Naja, eine schizophrene Psychose ist ein sehr, sehr einschneidendes Erlebnis für die ganze Familie. Mit Stimmen, die einen in den Selbstmord schicken und allem drum und dran. Ich würde das nicht als "nicht so schlimm" bezeichnen. Aber wahrscheinlich muss man das erlebt haben.
Wie auch immer, meine Geschwister können mit der DIS und der Schizophrenie umgehen, sie behandeln mich nicht wirklich behindert. Aber sie leben ja auch ihre Leben..da haben es ältere Geschwister sicher einfacher. Die waren schon aus dem Haus, als bei mir die Schizophrenie ausbrach.

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