mio hat geschrieben:
Möbius, Freud mag "intuitiv" recht gehabt und es sich mit den Bildern seiner Zeit erklärt haben. Die Hirnforschung betrachtet das Ganze etwas "neutraler". Es ist schlicht der "körperlichen Entwicklung" geschuldet, dass es in der Regel so von Statten geht. Macht auch Sinn, wenn man sich mal überlegt, wie "schädlich" die "fehlerhaften" frühkindlichen Überzeugungen für ein "Leben in der Realität" so sind. Nichts desto sind sie für eines "gut": Sie erschaffen "neuronale Verknüpfungen" und davon nicht gerade wenige... Wie gesagt: Es scheint ein "Formatieren" zu sein.
Das glaube ich nicht. Von Neurophysiologie weiß und verstehe ich nichts. Aber ich weiß aus meiner eigenen analytischen Erfahrung, daß die sexuellen Traumata der Kindheit die Ursache für diese Amnesie sind - vor allem: der Ödipus-Komplex, gleichgültig wie er ausgestaltet ist.
Die Psychoanalyse ist eine Praxis und die Hirnforschung ist eine Wissenschaft. Der Maßstab der Praxis ist die unmittelbare Lebenserfahrung, die Evidenz - der Maßstab der Wissenschaft ist die Übereinstimmung der jeweiligen Erkenntnisse mit den herrschenden Paradigmen. Deswegen ist Wissenschaft keineswegs neutral oder objektiv. Sie ist im Gegenteil scholastisch - ohne daß sie imstande wäre, das selbst zu erkennen. Die Scholastik ist eine im Schoße der katholischen Kirche entstandene philosophische Methode, die im Mittelalter ihre Hochblüte hatte - der bekannteste Scholastiker dürfte Thomas von Aquin sein. Im Kern der Scholastik steht das Bestreben, die Phänomene, Fragen und Probleme des praktischen Lebens so zu erklären, zu beantworten und zu lösen, daß die Erklärungen, Antworten und Lösungen in Übereinstimmung mit den "Paradigmen" stehen. In der Scholastik waren dies die göttlichen Offenbarungen, konkretisiert in der Bibel und deren Exegese durch die Kirchenväter.
Die Paradigmen heutezutage (der Begriff des Paradigmas wurde durch Thomas S. Kuhn geprägt: "Über die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen") sind weitaus diffuser, als sie in der Zeit der Scholastik waren. Es sind die sozialen und politischen Grundüberzeugungen, die zumal in der jüngeren Neuzeit sehr schnellen Wandlungen unterworfen sind - man kann regelrecht von Moden sprechen.
Die "evidenten Erfahrungen" der Psychoanalytischen Praxis widersprechen diesen Paradigmen in vielfältiger Weise. Das ist auch der Grund für den starken Widerstand ("Kritik"), der sich die Psychoanalyse gerade heutezutage ausgesetzt sieht.
Der heute in einer "entwickelten Gesellschaft" lebende Mensch - homo sapiens sapiens - ist das Ergebnis von schwersten Traumatisierungen. Er ist nicht "natürlich" - eine "Natur" dieses Menschen gibt es nicht. Er ist im Gegenteil ein Neurotiker. Die wesentliche Frage ist nunmehr diese geworden: ob die jeweilige Neurose des Individuums mit der "normalen Neurose" kompatibel ist, oder nicht. Brutal formuliert: die Frage ist nur, ob man nun "normal gestört" ist oder "anders gestört". Diese kulturpessimistische Erfahrung der Psychoanalyse können die Menschen nicht ertragen. Es ist eine zu schwere "narzistische Kränkung" - Freud selbst hat dies noch erkannt.
Und die scholastische Wissenschaft ist eben dazu da, diese Kränkung zu entwerten und den Paradigmen gegenüber der Praxis der Psychoanalyse wieder in ihr Recht einzusetzen.
Und deswegen meine ich eben nicht, daß wir heute mehr wissen, als Freud wußte - ich meine eher, daß "wir" heute viel weniger wissen, "wir" uns in einer Phase der zivilisatorischen Regression befinden.