'es wirkt (?)'

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Mondin
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Beitrag Do., 11.08.2016, 09:35

Ja, isabe - im Grunde ist das Leben selbst ja die stete Veränderung, die in und an einem passiert, nicht nur im Außen, durch das Altern und womöglich den wechselnden Look, sondern eben auch im Innen, wenn Vorlieben und Interessen sich verlagern und man beginnt über Dinge nachzudenken, die in jungen Jahren noch kaum ein Thema sind, Sterbeversicherungen und Erbrecht zum Beispiel. Oder dass man, wenn die Knochen älter werden, beginnt sich für YOGA u. ä. m. zu interessieren.

Wenn man neue Gewohnheiten im Alltag zu etablieren sucht und vielleicht Laster aufgibt, im Sinne der Gesundheit. Dinge anders hinterfragt oder gleich ganz anders bewertet. Das ICH ist im Grunde ja eine ewige Baustelle, oder eher noch wie ein Garten, der gehegt und gepflegt sein will. Insofern werde ich wohl mein Leben lang ein "Eiertänzer" bleiben.

Was nun das hier angeht:
Mit "vor und zurück" meinte ich das eher so, dass man denkt: "Jetzt ist der Groschen gefallen!" - man fühlt sich erleichtert und denkt, man kann nun weitergehen. Und dann sitzt man zehn Stunden später wieder mit demselben Problem und demselben Klagen beim Therapeuten und hat das Gefühl, die Platte hat einen Sprung.
....so fällt mir dazu ein Satz ein, den ich wirklich als veräppelnd empfinde und deshalb nicht leiden mag.

Er lautet: Problem erkannt - Problem gebannt!

Das ist eine sowas von infame Lüge, da könnte ich die Palme rückwärts raufsausen und mit Kokosnüssen werfen. Im Gegenteil, wenn das "Problem erkannt" ist, dann wird es erst einmal richtig "spaßig". Dann kann man sich nämlich dabei zuschauen, wie man den ewig gleichen Mist gefühlt endlos wiederholt und weiß bereits vor Beginn der Aktion, wie diese enden wird. Aber in Ermangelung von Alternativen, bzw. guten Ideen für diese, greift unser Gehirn auf den alten Kappes zurück und wir folgen artig, wenn auch zähneknirschend.

Liebe isabe, wer Dir erzählen will, dass er diese "Ehrenrunden" nicht kennt, der hat entweder noch gar nichts erkannt oder macht sich selbst (und damit auch anderen) etwas vor. Diese Art Wiederholungen scheinen eine Art Urgrund jeder Veränderung zu sein, die immer eine gewisse Zeit brauchen, jedenfalls wenn das ursprüngliche Verhalten bereits als Routine im Gehirn gespeichert war. Da hat Dein Thera vollkommen recht!

LG
Mondin

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Mondin
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Beitrag Do., 11.08.2016, 09:48

Ach so, noch kurz hierzu, isabe:
Ich begreife mich, glaube ich, jetzt mehr als "Zentrum" (während dieses Zentrum mir vorher gefehlt hat - vielleicht bin ich auch nur dem sog. "Kern" näher gekommen?).
Das ist spannend, das was Du "Zentrum" nennst, das nene ich "Erbauer/Erschaffer". Mir wurde in der Therapie und in den Jahren danach immer deutlicher, dass ich Eigenmacht besitze. Dass ich der Erschaffer/Erbauer meiner Lebenswelt bin. Oft nicht unmittelbar, denn darin ist mein Einfluss ja sehr begrenzt und endet bereits bei meinem Gegenüber, das einen eigenen Willen besitzt. Oder eben beispielsweise auch bei meinen monetären und körperlichen/geistigen Möglichkeiten etc.

Aber mittelbar, über meine innere Grundhaltung und über das Verändern meiner Verhaltens-, Denk- und Verfahrensweisen, kann ich so gut wie alles in meinem Leben verändern. So konnte ich z. B. mein Sorgenkarrussell komplett ausschalten (bei Interesse poste ich Dir das gerne) und damit mein Angstlevel gewaltig absenken. Das sind Optimierungsprozesse, für die es nur eine Sache braucht, nämlich meine bewusste, willentliche Enscheidung.

Mit dieser Erkenntnis ging anfangs der sehr ungute Beigeschmack einher, dass ich damit ja schon immer quasi "schuld an meinem Elend" war. Bis mir klar wurde, dass das im Grunde total irrelevant ist, weil ich es nun einmal nicht besser wusste und die Vergangenheit eh nicht mehr ändern kann. Aber die Zukunft! Und so versprach ich mir, das Beste daraus zu machen. Daraus resultierend konnte ich mit meiner "eigenen Blödheit" in der Vergangenheit sozusagen Frieden schließen.

LG
Mondin


Alyssa
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Beitrag Do., 11.08.2016, 11:30

isabe hat geschrieben: Vielleicht hängt das auch damit zusammen, dass mir das so viel erscheint, was du, Alyssa, schreibst: Im Grunde genommen hängt ja alles zusammen, aber ich empfinde es nicht (mehr?) so, dass es viele einzelne Dinge sind, wie z.B. "ich darf mich wichtig nehmen (auch mal wichtiger als andere)" / "ich bin ruhiger geworden" / "ich habe den Therapeuten als wichtige Person angenommen" - in meinem persönlichen Erleben fasse ich das irgendwie zusammen.
Ich auch, ich habe nur versucht, es aufzudröseln, damit ich hier sinnvoll und verständlich schreiben kann, wie ich merkte, dass "es wirkt". Wobei, manachmal sind es in der Tat einzelne Dinge, die mir bewusst machen "Ah, es tut sich was". Oder ich merke einfach nur, dass es einzelne Dinge sind, weil ich jetzt intentsiver in mich horche und mich sowie die Leute um mich rum genauer beobachte.


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isabe
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Beitrag Do., 11.08.2016, 19:34

Mondin:
Ja, erzähl mal gerne, wie du die Sorgen reduziert hast. Bei mir klappt es nur mit Einschränkungen, nämlich mit dem tollen "Trick", dass ich meine Sorgen bewusst wegsperre, wenn ich gerade sowieso nichts ändern kann. Also, es ist nicht sinnvoll, sich abends um 23 Uhr Sorgen darüber zu machen, ob das Gespräch mit dem Chef am Folgetag in die Hose geht oder das Geld auf dem Konto ist usw. - alle Dinge, die ich nicht beeinflussen kann, gucke ich mir erst dann wieder an, wann ich etwas tun kann. Ausnahmen davon sind Todesängste - und wie man die reduzieren kann, habe ich Null Ahnung. Deshalb, weil ich dazu bisher überhaupt keinen Zugang habe, denke ich, dass da noch "was" kommen kann in der Therapie.

Was den Ärger über die verpassten Chancen in der Vergangenheit angeht: ist schwierig, denn die Zeit läuft weiter, und man kann zwar vieles auch noch mit 40 oder 50 anpacken, aber ich frage mich schon oft: "Geht das jetzt noch?" Eines meiner Kinder hat gerade Abi gemacht, und zu sehen, wie diesen jungen Leuten alle Türen offen stehen - das macht mich extrem neidisch (also, es tut nicht weh, aber ich bedauere, dass ich mich nicht einfach dazu gesellen kann und sagen kann: "Ich fange auch noch mal an"). Da hab ich schon extrem viel verplämpert an Chancen - und das wirkt sich noch bis heute aus.

Aber gleichzeitig fühle ich mich schon irgendwie frei, einfach innerlich.

Wegen des Spruchs: Manchmal finde ich den aber zutreffend, eigentlich auch gerade in der Therapie: Ich habe z.B. seit meiner Kindheit eine Phantasie, die mich quasi verfolgt und die sich anfühlt wie ein Doppelleben, und ich hatte bisher nie mit jemandem darüber gesprochen, nicht mal mit dem Therapeuten. Ich habe mich über diese Phantasie schon immer geäergert, weil ich sie nicht losgeworden bin, auch wenn sie eigentlich schön ist. Neulich habe ich es aber gewagt und zumindest in groben Zügen davon berichtet. Er selbst musste gar nichts sagen, denn plötzlich, quasi beim Aussprechen, ist mir klar geworden, worum es bei dieser Phantasie EIGENTLICH wirklich geht. Seitdem fühle ich mich davon überhaupt nicht mehr verfolgt (also, sie ist noch da, aber ich habe sie zum ersten Mal verstanden, und das Ganze hat den Charakter der "Perversion" verloren). Mir fallen ähnliche Themen aus der Therapie ein, die wirklich schon dadurch besser geworden sind, dass ich darüber gesprochen habe.

Eigentlich witzig: Je mehr ich mich mit diesem Thread befasse, umso mehr wird mir klar, was ich eigentlich schon alles erreicht habe.

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Speechless
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Beitrag Do., 11.08.2016, 19:44

Ich finde vieles kommt auch auf den Blickwinkel an. Wenn ich mir Leute anschaue, die gerade Abi gemacht haben denke ich auch: ich würde gerne die Zeit zurück drehen und nochmal da stehen.
Aber wenn man sich mal damals zurück versetzt: enorme Unsicherheit, Trennung und Auseinanderleben von tollen Freunden oder Partnern durch Umzüge, man soll sich mit 19 entscheiden, was man den Rest des Lebens tun wird. Ich fand das rückblickend gar nicht so eine tolle Zeit. Ich hab es damals auch nicht so gesehen, dass mir alle Türen offen stehen, sondern eher die Qual der Wahl und nichts hat sich richtig angefühlt. Mal als OT.

Wobei es gar nicht so OT ist. Für mich gehört zum wirken der Therapie zum Bsp auch dazu wie für dich, die Dinge so zu nehmen wie sie sind und nicht soviel an der Vergangenheit oder verpassten Chancen zu hängen:
"do not grieve over the past for it is gone and do not be troubled about the future for it has not yet come. Live in the present and make it so beautiful that it will be worth remembering."

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Fundevogel
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Beitrag Do., 11.08.2016, 20:22

isabe hat geschrieben:Seltsam, wie unterschiedlich das wahrgenommen wird: Für mich war nie die Frage, ob ich leben will oder nicht, [...] vermutlich hängt das auch mit der unsäglichen Diskussion "was ist schlimmer?" zusammen: dass es für den Einen ein großer Erfolg ist, wenn er sagen kann: "Ich lebe!", während Andere daran nie gezweifelt haben und die dann also sagen: "Ich lebe auch, aber für mich fühlt sich Therapie (womöglich) gar nicht so erfolgreich an!" - ist also schwer bis unmöglich, Vergleiche anzustellen.

Für mich war die Todessehnsucht der Hauptgrund, DAS entscheidende Symptom, warum ich überhaupt in Therapie gegangen bin. Daher ist es für mich ein Erfolg, noch am Leben zu sein - und das meistens auch zu wollen.
Dass Leben an sich conditio sine qua non für alles andere ist, versteht sich ja wohl von selbst.

Und ich pflichte dir bei - Vergleiche zwischen einzigartigen Individuen anzustellen IST unmöglich.
Was für den einen schwer ist und ein unüberwindliches Problem, ist für den anderen eine leichte Aufwärmübung. Dennoch neigen wir immer wieder zu Vergleichen und manchmal frage ich mich, warum das überhaupt so ist.

Ich vermute, das hat etwas damit zu tun, dass wir Menschenwesen uns hauptsächlich in der Beziehung zu anderen definieren: ob ich klein bin oder groß hat damit zu tun, ob die Leute um mich rum alle Zwei-Meter-Riesen sind oder Kindergrößen im Kleidergeschäft verlangen. Ob ich lieb bin oder unleidlich, intelligent oder nicht, lebenstüchtig, erfolgreich und und und ...Wodurch lerne ich oder erfahre ich, wie ich bin, wodurch erfahre ich mich selbst, wenn nicht in der Beziehung zu Menschen, zur Welt in der ich lebe (wenn ich Einsiedler wäre im weiten weiten Wald und niemals jemand anderen treffen würde, dann wäre da immer noch Welt und Natur und Tiere).

Im übrigen könnte ich nicht sagen, dass sich Therapie für mich erfolgreich anfühlt. Das sind mehr rationale Vorher - Nachher - Vergleiche. Wobei das Nachher auch relativ ist während einer noch andauernden Therapie.
isabe hat geschrieben:Fundevogel, das, was du über die neuen Symptome schreibst, konnte ich erst gar nicht nachempfinden, aber dann fiel es mir ein: [...] Das war schon krass, was da sichtbar wurde an Gefühl - und da fing es auch an, dass ich plötzlich schreiben konnte und sogar Gedichte schrieb und gefühlvolle Briefe und dass ich in literaturwiss. Hausarbeiten plötzlich einen Sinn sah.
Finde ich schön, wie du beschrieben hast, wie da positive Gefühle und Talente bei dir aufgebrochen sind und ich verstehe es so, dass etwas sichtbar und dir bewußt wurde, was immer schon da war in dir.

Mit den von mir angesprochenen neuen Symptomen meinte ich allerdings tatsächlich krankheitswertige Symptome wie Zittern oder Ähnliches (die lange Liste erspare ich mir jetzt). Das war hart und eine schwere Zeit - und vor allem war es schwer zu realisieren, dass das auch eine Wirkung der Therapie ist. Weil eben an tief liegende Dinge gerührt wurde.

Das als Erfolg zu empfinden war - und ist - mir unmöglich. Aber vielleicht war es notwendig. Ja, das ist vielleicht näher bei dem, wie es sich für mich anfühlt, ein Abwenden der ärgsten Not. Ich habe Therapie immer irgendwie existentiell empfunden als ginge es um Leben und Tod und tatsächlich habe ich oft um mein Leben geredet.
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Broken Wing
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Beitrag Do., 11.08.2016, 21:36

Ich frag mich eher, wo ihr eure Wunderheiler alle herhabt?
Meine schaffte es bloß, mich auf andere Gedanken als Suizid zu bringen, das war es dann auch schon ;-)
Beginne den Tag mit einem Lächeln, dann hast du es hinter dir. [Nico Semsrott]

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Fundevogel
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Beitrag Do., 11.08.2016, 21:53

@ Broken - andere Gedanken als Suizid ist doch viel oder nicht?
Nix Wunderheiler, nur elendslanger Geduldsfaden. Und sehr viel Zeit.
Fundevogel

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Mondin
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Beitrag Do., 11.08.2016, 22:09

Broken Wing hat geschrieben:Ich frag mich eher, wo ihr eure Wunderheiler alle herhabt?
Meine schaffte es bloß, mich auf andere Gedanken als Suizid zu bringen, das war es dann auch schon
Es geht ja auch nicht darum, was der Thera schafft, sondern darum was Du selbst damit anfangen kannst, was Du - für Dich - aus den Stunden mitnehmen und weiter damit arbeiten kannst. Und nicht mehr akut suizidal zu sein, das ist immerhin etwas durchaus Positives und damit eine gute Basis um darauf aufbauen zu können.

_________________________________

isabe, ich hatte das mal für jemanden ausformuliert, das mit den Sorgen. Im Grunde ist das auch nichts anderes als Dein "Trick", denke ich mir. Konsequent angewendet hilft das bei mir aber überaus gut. Hier ist der Text, den ich damals dazu schrieb:
Hier wäre also mein Lösungsvorschlag, der für mich 100% funktioniert, wenn man konsequent ist:

Hör auf daran (an die Sorgen/Ängste) zu denken. Entschließe Dich dazu. Denn das ist wirklich (ja, wirklich) alles was Du dazu tun musst. Du musst aufhören daran zu denken und darüber nach zu grübeln. Dieses Karussell aus "könnte - würde - sollte - hätte" u. ä. m., Du musst die Entscheidung fällen es rigoros zu stoppen. Das wars dann. Nicht mehr, nicht weniger. Das ist das Ende aller irrationalen Ängste und Sorgen. (Wie man das macht, schreibe ich Dir weiter unten, ist nur Training und sonst nichts.)

Ich erzähle Dir also am besten erst einmal, wie ich auf die geschilderte Verfahrensweise gekommen bin. Es muss so anno 1998 gewesen sein, als ich mit meinem Ex-Ehemann endlich den ersten Versuch eines normalen Lebens durchzog. Wir arbeiteten beide Vollzeit für kleines Geld und ich war zusätzlich dauernd krank, in Therapie und im Ganzen ziemlich fertig. Das Schlimmste waren meine Ängste, meine Sorgen, meine dauernde Alarmbereitschaft, die mich nicht zur Ruhe kommen ließen. Ängste und Befürchtungen, die mich am Leben hinderten, die mir so plastische Horrorbilder im Kopf generierten, dass ich, klar wie auf einer 360 Grad Kinoleinwand, alles (was ich mich zu lieben wagte) in Blutlachen liegen sah, hingemordet von all den Typen, die mich all diese Jahre vorher ganz konkret bedroht hatten. Es waren viele Schwerverbrecher dabei gewesen, die mich zum Teil übelst zugerichtet hatten. Einer hatte mir mal eine Waffe in den Oberkiefer gerammt und während ich mich anpinkelte vor Panik, erklärte er mir, dass er mich vorher noch zu foltern gedächte.

Und solcherlei Erlebnisse gab es einige in meinem Leben, weil ich mich in Kreisen bewegt hatte, in denen solche Leute nun einmal anzuteffen sind und sie sich ganz selbstverständlich dieser Methoden bedienen. Mein Gehirn hatte gespeichert, dass diese Welt so ist - so sein kann. Und war in einen Modus ständiger Panik und Wachsamkeit verfallen. Eine ewige Lauerstellung, denn es weigerte sich, vermutlich eine Schutzfunktion, nun auf einmal davon auszugehen, dass diese Welt ein halbwegs sicherer Ort sein könnte. Nein, mein Hirn lebte nach wie vor mitten in der Hölle, wenigstens die Teile, auf die die reine Ratio keinen unmittelbaren Einfluss ausüben konnte. Ich glaube mittlerweile, dass dieses Umschalten in den Daueralarmodus bei jedem Gehirn geschieht, das einem Menschen gehört, dem - warum auch immer - traumatisch klar wird, welch extrem gefährlicher Ort diese Welt sein kann. Das können Kindheitstraumata sein, oder der ständige Kontakt mit Leid und Extremen, oder ein Mordversuch am Eigner des betreffenden Gehirns, eine Vergewaltigung (ich kann meine kaum noch zählen und tue es auch nicht mehr, weil es schlicht nichts bringt, es ist eh nicht mehr zu ändern) oder oder oder....

Und ich glaube, dass auch Dein Gehirn umgeschaltet hat, aus Gründen, die nur Du erahnen kannst. Es ist nicht so extrem, wie bei mir, denke ich. Ich war so beschädigt, ich habe mich über Stunden im Dunkeln ins fensterlose Gästeklo eingeschlossen, weil mir das Tageslicht solche Panik verursachte. Sprich, ich bin völlig durchgeknallt zeitweise, hyperventilierte, musste mich übergeben und sah dabei im Kopf meinen zerstückelten Katzen, meinen damaligen Partner mit zertrümmertem Schädel, die rauchenden Reste unserer Wohnung und und und.... es war Hammer, echt wahr. Ich wollte zeitweise nur noch sterben.

Irgendwann hatte mich das alles so weichgekocht, dass ich an einen Punkt kam, der sich am besten mit einer Metapher beschreiben lässt. Nämlich der, dass ein Mensch solche Schmerzen hat, dass er zum Arzt geht und sagt: "Von mir aus schneiden sie es ab, aber machen sie was!" Und, nun ja, der Arzt, der in diesem Falle ich selbst war, tut ihm den Gefallen und danach ist tatsächlich Ruhe. Gut, ich komme nun nicht mehr in den "Genuss" des Grübelns, weil ich mir den Grübelzahn in jahrelanger Übung so gründlich gezogen habe, dass heute, beginne ich auch nur ansatzweise damit, ein riesiges Stoppschild vor meinem inneren Auge erscheint und ich in einem perfekt antrainierten Automatismus mich etwas Anderem zuwende. Und genau so funktioniert das.

Es begann mit der Erkenntnis, dass, ganz egal wie viel ich auch immer grübeln werde, mich sorgen werde, meine Ängste füttern werde, ich es dennoch nicht verhindern werde können, dass etwas passiert. Im Gegenteil, mich diese Grübelei, die mir mein Leben verleidet, mir darüber hinaus auch noch die Energie raubt, die Dinge zu tun und die Aufmerksamkeit aufzubringen, die tatsächlich etwas mehr Sicherheit in mein Dasein bringen könnten. Allen voran der Umstand, dass man mit weniger Stress auch weniger gefährdet ist einem Herzinfarkt o. ä. zu erliegen. Und so entwickelte ich Stück für Stück eine Strategie die, wird sie konsequent betrieben, selbst solche Mordsflash(back)s wie meine, weitgehend in den Griff bekommen kann und das will wirklich etwas heißen.

Gut, wie funktioniert das konkret?

1. Die Angst/Sorge/Befürchtung taucht auf und man registriert sie.
2. Man versucht tief zu atmen, möglichst ruhig zu bleiben und hinterfragt die Wahrscheinlichkeit eines unmittelbaren Eintritts der Angst, Befürchtung/Sorge.
3. Man klassifiziert sie als konkret korrekt (bei starkem Verkehr auf einer Staße zu stehen ist der Erzeuger einer absolut berechtigten Angst, die in dem Fall ein gesundes Warnsignal darstellt) oder aber als irrational (nein, es wird mir nicht gleich ein Teil Weltraumschrott auf den Kopf fallen, wenigstens ist das sehr unwahrscheinlich) oder als zwar berechtig, jedoch nicht änderbar (ja, es könnte sein, dass man Krebs bekommmt oder einem der Partner wegstirbt und was soll man denn dann machen, was zur Hölle.... <Sorgen- & Grübelkarussell on>).
4. Im Falle einer berechtigten Angst, reagiert man mit Konzentration auf die Situation und schaut, dass man seinen Hintern heil dort herausbekommt. In jedem anderen Fall bedient man sich akribisch und unverzüglich der Methode, dass man, gleich einem Mantra, sich klar macht und vorsagt, dass das entweder irrational oder nicht änderbar ist und sich dabei ein riesiges, signalrotes Stoppschild vorstellt. Sieht man dieses dann vor sich, wendet man sich gedanklich ganz bewusst einer Affirmation, bzw. einem schönen Gedankenbild zu. Im besten Falle, falls das möglich ist, tut man etwas, das einen aktiv ablenken kann. Und immer wenn dieses Karussell sich wieder anwirft, stellt man sich wieder das Stoppschild und die Affirmation vor.

Das Mantra, dessen ich mich seit Jahren bediene, lautet:
Angst (wahlweise Sorge) ist nicht nötig
ich bin stark genug
mein Leben zu meistern
ganz egal was kommt.

Das wiederholt man so lange, bis der Kopf, bis auf dieses Mantra, wirklich leer ist.

****

Das Ganze ist in erster Linie Übungssache. Es wird, je öfter man es ausführt, immer mehr zum Automatismus und geht irgendwann in Fleisch und Blut über. Ich sorge mich heute kaum noch und mir tun immer die Leute leid, die sich für nichts und wieder nichts ihr Leben verleiden. Denn selbst wenn ich morgen vom Bus überfahren werde, hatte ich bis dahin dann wenigstens ein schönes Leben, anstatt es mir mit der Angst vor irgendwas verleidet zu haben, das ich dann trotzdem nicht habe verhindern können, ja, was sogar wahrscheinlicher wird, wenn ich ich stets mit dem Kopf bei den Sorgen bin, anstatt auf mein Drumherum zu achten. Vielleicht werde ich mit sorgenfreiem Kopf und damit mehr Konzentration auf das was ist, ja erst gar nicht überfahren.

....tja, im Grunde nicht weiter spektakulär. Die Wirkung hingegen ist es durchaus, wenn man es schafft, das Gehirn darauf zu konditionieren, so dass es reflexhaft mit dem Stoppschild reagiert.

LG
Mondin


Alyssa
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Beitrag Do., 11.08.2016, 22:48

isabe hat geschrieben: Was den Ärger über die verpassten Chancen in der Vergangenheit angeht: ist schwierig, denn die Zeit läuft weiter, und man kann zwar vieles auch noch mit 40 oder 50 anpacken, aber ich frage mich schon oft: "Geht das jetzt noch?" (...) Da hab ich schon extrem viel verplämpert an Chancen - und das wirkt sich noch bis heute aus.
Ich denke nicht mehr nach über verpasste Chancen. Ich nehme es so hin. Ich kann nicht alles baugleich nachholen mit höherem Alter, aber ich kann in meinem Alter vieles trotzdem noch machen. Das läuft evtl. anders als in der Jugend, aber es läuft. Und das geniesse ich und sehe es positiv.
isabe hat geschrieben:Aber gleichzeitig fühle ich mich schon irgendwie frei, einfach innerlich.
Das ist doch ein tolles Gefühl!
isabe hat geschrieben:Eigentlich witzig: Je mehr ich mich mit diesem Thread befasse, umso mehr wird mir klar, was ich eigentlich schon alles erreicht habe.
So was ähnliches dachte ich heute auch.

Ganz aktuell hat mich eine Situation aus dem Beginn meiner Therapie eingeholt. Es ging darum, dass ich damals meinen Therapeuten angerufen habe (Band ging an) und ihn mit so einigem "vollgelabert" habe.
Er erinnert mich seitdem immer wieder an diese Sache, nicht bösartig, sondern um seinen Standpunkt klar zu machen. Er hatte damals nicht zurückgerufen, obwohl ich ihn darum gebeten hatte. Ich fand das zu der Zeit befremdlich und war enttäuscht. Inzwischen verstehe ich, warum er es nicht tat - er wollte Grenzen setzen, mir aufzeigen, dass Therapie in der Stunde stattfindet, dass er für mich da ist, aber dass er eben nicht mein "Diener" ist, der für mich springt, wenn es mir beliebt.

Wie sagte er nun so schön: "Dein Anruf hat mich nicht erstaunt und auch nicht gestört, ich war aber auch nicht schockiert. Ich habe nicht zurückgerufen. Und ich bin froh, dass ich es nicht getan habe."
Hätte er es gemacht, hätte ich ihm wohl von da an auf der Nase rumgetanzt. Er hat aber durch das Nichtbeantworten gezeigt, wie es läuft. (Der Anruf war dann allerdings auch Thema in der darauffolgenden Stunde.)

Ich bin ehrlich gesagt froh, dass er so standfest war. Er hat mir eine wichtige Lektion erteilt, auch wenn ich es damals noch nicht wusste. Und im Prinzip war es einer der ersten Augenblicke, in denen ich merkte, dass Therapie wirkt (selbst wenn es sich da negativ anfühlte). Die daraus folgende Erkenntnis, dass er da ist für mich, ohne Vorbehalte/Bewertung/Massregelei, (und ohne sich als Therapeut von mir vereinnahmen zu lassen) war Gold wert. Schon komisch, dass ich selbst solche blöden Sachen rückwirkend als "Erfolg" sehen kann.

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Heart
neu an Bo(a)rd!
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Beitrag Do., 11.08.2016, 23:20

Broken Wing hat geschrieben:Woran man das feststellt?
Ich jedenfalls daran, dass ich einfach aus dem Bett kann und wieder rein. Zwar konnte ich immer schon ohne Schlaftabletten einschlafen, aber um das gefürchtete Tief mit starken Sinnlosigkeits- und Einsamkeitsgefühlen hinauszuzögern, wollte ich wachbleiben. Das hatte natürlich zur Folge, dass der Tag zur Nacht wurde und umgekehrt. Die Folgewirkungen dieser Umkehrung kann man sich leicht ausmalen, denke ich.
Insgesamt war es ein auszehrender Kampf mit Gewichtsverlust etc.

Mittlerweile stehe ich gerne zeitig auf, wenn nicht gerade Wochenende ist und ich mir mal gönne, auszuschlafen.

Hallo Broken Wing,

so ähnlich geht es mir auch.... Wie hast du es geschafft, daß zu ändern?

LG


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Beitrag Fr., 12.08.2016, 19:01

Speechless:
Für mich selbst war die Zeit damals um das Abi herum furchtbar, weil ich nicht wusste, was ich machen soll und mich einfach nicht entscheiden konnte, und das, was ich vom Herzen her unbedingt hätte tun wollen, hab ich mir nicht zugetraut (und meine Mutter mir auch nicht). Aber die Freunde meines Kindes sind alle viel selbstbewusster und klüger und gebildeter, als ich das war. Die empfinden das auch so, dass ihnen Türen offenstehen (klar, gibt's auch Stress mit Familie, Freunden usw., aber rein beruflich liegen zwischen mir damals und diesen jungen Leuten Welten).


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Beitrag Fr., 12.08.2016, 19:04

Fundevogel:
So wahnsinnig positiv war das gar nicht: Ich hab ja extremst unter den Liebesgefühlen gelitten, und wenn ich heute noch daran denke, in welchem Zustand ich mich nach der (unfreiwilligen) Beendigung der ersten Therapie befunden habe, hätte ich sonstwas drum gegeben, das nicht erlebt haben zu müssen.

Broken Wing:
Komisch - mir ging es beim Lesen deiner Berichte eher so, dass ich dachte: "Wow! Das nenne ich mal eine Wunderheilung!" Du hast doch in deiner Therapie innerhalb kurzer Zeit sehr viel erreicht, so viel, dass ich da schon neidisch werde.


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isabe
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Beitrag Fr., 12.08.2016, 19:21

Mondin:
Die Beschreibung deiner Ängste deckt sich in etwa mit meinen, auch was die Intensität betrifft. Es entstehen so reale Bilder, dass es sehr schwer ist, sich davon zu lösen, obwohl das immerhin einigermaßen funktioniert: Ich kann diese Horrorbilder selbst stoppen - aber die Angst dahinter nicht.

Ich bin so aufgewachsen, dass ich immer Angst vor Strafe haben muss, weniger vor meiner Mutter selbst, sondern (eigentlich noch schlimmer) vor Gott: "Gott sieht alles" hat meiner Mutter garantiert, dass ich nicht auf dumme Gedanken komme, und das fängt schon beim Anfassen des eigenen Körpers an usw. So "richtig" dumme Sachen wie Rauchen oder Drogen hätte ich ja sowieso nie gemacht. Meine Mutter sagte immer: "Gehe mit niemandem mit! und: "Fahre nie per Anhalter!" - das Erste kommt ja eh nicht in Frage. Das Zweite normalerweise auch nicht, aber einmal war ich in Irland mit Freundinnen in der Pampa: Da war kein Bus und nix, und vermutlich wären wir immer noch irgendwo im Moor unterwegs, wenn wir nicht ein Auto angehalten hätten: Ein sehr altes Paar nahm uns mit, und während die Freundinnen munter plauderten, wartete ich die gesamte Autofahrt darauf, dass sie uns "endlich" abschlachten, so wie meine Mutter das immer prognostiziert hat...

Und so läuft es immer: das Warten auf die Katastrophe. Rational weiß ich natürlich, dass die Angst vor der Bestrafung keine Garantie dafür ist, dass das gefürchtete Ereignis ausbleibt, aber meine Seele weiß das nicht, und sie geht immer noch davon aus, dass die Angst ein Schutz ist. Daher funktioniert das leider nicht mit dem Satz, den du dir sagst. Es kann im Moment noch nicht funktionieren.

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Broken Wing
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Beitrag Fr., 12.08.2016, 20:08

@ Isabe: Ich fürchte, du könntest sogar Recht haben. Eigentlich kann ich mich ganz glücklich schätzen, einen anderen Weg eingeschlagen zu haben. Also natürlich nicht so, dass jetzt aus mir ein lebensfroher und alles irgendwie gut findender Mensch geworden wäre.
Die Kunst ist ja, trotzdem und mit dieser Einstellung produktiv zu werden.

@ Heart:

Ich bin ein unbegabter Selbstbeobachter. Daher weiß ich leider nicht, wie ich es genau geschafft habe. Meinen Therapieverlauf notiere ich aus Sicherheitsbedenken auch nicht in meinem Blog.
Trotzdem möchte ich versuchen, deine Frage zu beantworten.
Erst mal muss ich vorausschicken, dass es nicht mein erster Anlauf war.

Leider schreibst du kaum über dich, außer dass es dir so ähnlich geht. Die Symptome können ja viele Ursachen haben. Kopfschmerzen fühlen sich mehr oder weniger auch ähnlich bei jedem Menschen an.

Bei mir war die Ursache wohl ein ausgeprägter Selbsthass. Geholfen hat mir schon mal die Erfahrung, dass meine Not erkannt wurde und mir keine monatelangen Wartezeiten zugemutet wurden.
Die Therapeutin erwies sich als kompetent und zuverlässig. Ich gehörte sicher nicht zu den toleranten, wohlhabenden oder pflegeleichten Fällen.

Und zuletzt musste und muss ich hart arbeiten. Das heißt: Täglich zur Uni gehen, meine Ängste aushalten und helfende Hände nicht von mir stoßen. Vor allem: Als Schwarzseher ignorierte ich die ferne Zukunft. Jetzt zählte erst mal die Vorlesung, die Übung, die Klausur und der damit verbundene Erfolg/Misserfolg.

Ganz allein ging das nicht, aber es fand sich immer jemand, der/die mir helfen wollte.
Beginne den Tag mit einem Lächeln, dann hast du es hinter dir. [Nico Semsrott]

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