Hallo Fensch,
auch ich habe hier einmal wieder Gelegenheit, mir Selbstvorwürfe zu machen, weil ich zuviel schreibe. Aber es gibt einen Nachtrag, den ich für sehr wichtig halte, einen Umstand, den ich bislang noch nicht richtig gesehen hatte: nämlich die Bedeutung der Klausur, die Du und Dein Täter unmittelbar vor der Tat geschrieben hattet. Ich werfe mir selbst vor, nicht schon eher daran gedacht zu haben.
Was in der in der Allgemeinheit kaum bekannt ist: intellektuelle Tätigkeit ist eine originäre Quell sexueller Erregung und auch Befriedigung. Das habe ich selbst schon lange vor meiner Beschäftigung mit der Psychoanalyse am eigenen Leib erlebt. Mitursächlich dabei ist bei mir, daß ich ohnehin eine sehr starke Libido habe - was nicht unbedingt immer ein Vergnügen ist. Deswegen mußte ich diesen mich seinerzeit sehr irritierenden Umstand schon recht frühzeitig - als Student - zur Kenntnis nehmen.
Wer sich regelmässig und zeitweise intensiv intellektuell betätigt, kennt diese Erregung. Meist bleibt sie recht unterschwellig, aber nicht selten macht sie sich bemerkbar, nämlich dann, wenn uns ein Thema, ein Text, eine Aufgabe, ein Problem "gepackt" hat, und wir "mit voller Lust" daran arbeiten. Indessen sind wir es nicht gewöhnt, diese Erregung auch als sexuell zu bewerten. Ich glaube viel eher, daß wir diesen Umstand in aller Regel verleugnen, diese Erregung als "Erregung eigener Art" ansehen und beschreiben wollen, der aus einer weitaus höheren, den Niederungen der Sexualität weit entrückten Sphäre herrühre.
Ich kann nicht wissen, in wieweit Dein Täter also durch diese Klausur selbst schon, die intellektuelle Anspannung und Arbeit erregt worden ist - durch die zunächst wohl nur optische Begegnung mit Dir sich diese Erregung weiter aufgebaut haben wird. Aber die sich anschließende sexuellen Gewalt lässt die Vermutung zu, daß diese Erregung beim Täter sehr erheblich gewesen sein könnte.
Eine solche sexuelle Erregung hat es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch bei Dir gegeben - eben durch die Klausur ! Wie gesagt: ich würde annehmen, daß Du diesen Zustand nicht als solchen wahrgenommen hast - das tun meiner Erfahrung nach die allerwenigsten Menschen. Dieser Erregungszustand muß auch nicht sehr erheblich gewesen sein, kann "unterschwellig" geblieben sein. Gleichwohl ist es so, daß wir die sexuelle Erregung eines anderen Menschen sinnlich wahrnehmen, auch ohne daß uns dies sogleich oder überhaupt bewußt wird.
Es ist also m.E. möglich - wohl gemerkt: eine theoretische Möglichkeit - daß der Täter, als er Dich nach der Klausur getroffen hatte, unmittelbar vor Dir gestanden war, aufgrund seiner eigenen, womöglich sehr starken Erregung, der von ihm wahrgenommenen Erregung von Dir selbst (welche Dir selbst verborgen geblieben sein kann) und vor dem Hintergrund der immer noch anhaltenden Verliebtheit zu der irrigen Annahme gekommen sein könnte, nun doch endlich am Ziel seiner Wünsche angekommen zu sein: nämlich daß Deine Erregung die ersehnte Antwort auf sein Begehren wäre: "Ich will Dich auch!" - und sich deswegen hat "gehen lassen".
Die Letztursache für die sexuelle Gewalt wäre also dann darin zu sehen, daß eben dieser Umstand eben auch dem Täter unbekannt war: die Möglichkeit sexueller Erregung durch die intellektuelle Betätigung.
Weil viele hier wohl mit dem Kopf schütteln werden - hier der link zu den "Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie" von Sigmund Freud. Man braucht den Text nicht vollständig zu lesen. Die einschläge Fundstelle findet sich in dem Kapitel 16 über die Quellen der sexuellen Erregung:
http://gutenberg.spiegel.de/buch/drei-a ... rie-910/16
Auch das ist natürlich keine Entschuldigung für sexuelle Gewalt. Denn selbst in der Situation einvernehmlichen sexuellen Verkehrs sind wir nicht nur in der moralischen, sondern auch rechtlichen Verpflichtung, unsere sexuellen Handlungen einzustellen, wenn unser Partner diese plötzlich ablehnt, sich gar körperlich gegen sie wehrt. Sexuelle Nötigung oder gar Vergewaltigung kann sehr wohl aus einem zuvor einvernehmlich begonnenen sexuellen Verkehr hervorgehen und ist auch dann nicht nur moralisch verwerflich, sondern strafbar. Nichts anderes kann hier gelten, zumal hier von Anfang an kein Einvernehmen bestand. An der rechtlichen und moralischen Bewertung ändert sich also durch diese Vermutungen, wenn sie denn in der konkreten Situation zutreffend sein sollten, nicht das Geringste - aber das Geschehen wird vielleicht etwas besser verständlich.
Gruß
Möbius