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Sa., 05.12.2015, 18:14
Eine Übertragung gibt es - meiner Auffassung nach - in jeder Therapie unabhängig vom jeweiligen Ansatz. Auch eine regelmässige ärztliche Behandlung lädt zu solchen Übertragungen ein, und darüber hinaus auch jede andere soziale Beziehung mit einem großen Gefälle, die nicht reinen Zwangscharakter hat, sondern auch vom Inferioren als positiv empfunden wird: vom Lehrer-Schüler-Verhältnis war einmal die Rede, Professoren und sonstige Hochschuldozenten und ihre Studenten, Ausbilder und Auszubildende. Das ist ein tieferer, regelmässig in der juristischen Diskussion darüber nicht erkannter Aspekt all dieser Tatbestände, die gesetzlich unter "Mißbrauch von Abhängigkeitsverhältnissen" gefasst wird: wenn sich diese Übertragung, die sich normalerweise wie die landläufige Verliebtheit äussert (die ja auch nichts anderes ist, als eine Übertragung) in ein "manifestes" sexuelles Handeln "agiert". Dem Superioren all in diesen vorgenannten Beziehungen ist das gesetzlich verboten - auch wenn die Initiative zu sexuellen Handlungen vom Inferioren ausgeht.
Was wird nun übertragen ? Nach Freud ist die "Mutter aller Übertragungen" eine infantil-sexuelle Beziehung, regelmässig die zum gegengeschlechtlichen Elter. Aber es können auch andere Personen sein, die für das Kind in eine solche Rolle eingerückt gewesen war. Und es kommt auch nicht darauf an, ob diese infantil-sexuelle Beziehung "manifest" agiert worden ist. Und es können sich weitere frühere Beziehungen an diese "Ur-Übertragung" andocken, sofern sie dem gleichen Muster gefolgt sind. Ich will ein Beispiel konstruieren: Lag der Normalfall der Ur-Beziehung vor, die zum gegengeschlechtlichen Elter, die jedoch aufgrund der Inzestschranke nicht agiert wurde, das Kind im Gegenteil mit seinem inzestuösen Begehren zurückgewiesen wurde, und durch die Verarbeitung dieses berühmten Ödipus-Komplexes in seinem Reifungsprozeß entscheidend gefördert worden ist, dann überträgt das Kind diese Beziehungsform später beispielsweise auf einen seiner Hochschullehrer, mit dem es eine intensive didaktische Beziehung gibt: Vorlesungen, Übungen, Seminare, Sprechstunden, Exkursionen, die geselligen Zusammenkünfte, die an vielen Universitäten zwischen Dozenten- und Studentenschaft gepflegt werden - überall wuselt sich unser Student sofort zu seinem "großen Lehrer", hat auch dessen Veröffentlichungen gelesen, seinen Guru gefunden ... und erlebt irgendwann wieder so eine Zurückweisung: der Professor zeigt dem Studenten, das es Grenzen gibt in dieser "didaktischen Beziehung". Der Student lässt es sich nichts anmerken, gehört auch weiterhin zu den treuesten Besuchern seiner Lehrveranstaltungen, nach aussen hat sich nichts verändert, aber tief innen hat es einen kleinen Knacks gegeben. Und wieder ein paar Jahre später sitzt unser Student in einer Psychotherapie. Dann kann es sein, daß sich in der Übertragung, für welche der Therapeut "nur" eine Projektionsfläche darstellt, der gegengeschlechtliche Elter aus der Kindheit und der so hochverehrte Hochschullehrer aus dem Studium übereinanderschieben, überlagern, zu einem einheitlichen Muster verschmelzen, wie zwei Dias, die hintereinander in den Projektor geraten sind. Ja - die spätere Beziehung kann die früherer sogar weitgehend überdecken, so daß die frühere Beziehung in der Übertragung regelrecht verblasst. Und das alles ist vom Geschlecht der Personen völlig unabhängig. Dh der Vater, der Professor können auch auf eine weibliche Therapeutin übertragen werden. Auch kann der Vater auf eine Professorin übertragen worden sein, und beide dann zusammen auf einen männlichen Therapeuten usw. Das kann, wenn das Denken und Fühlen vom tradierten Postulat einer "natürlichen Heterosexualität" ausgeht, sehr verwirrend sein.
In der psychoanalytischen Therapie ist diese Übertragung meist zentral - sie wird bewußt genutzt, vom Therapeuten kontrolliert "angenommen" und ist hilfreich dabei, ungelöste Konflikte aus früheren Beziehungen, die das Unbewußte belasten, zu erinnern und "in der Übertragung" aufzuarbeiten. Verhaltenstherapeutische Konzepte tun dies in der Regel nicht und das ist auch gut so, weil die Handhabung solcher Übertragungen sehr heikel ist, einer besonderen Ausbildung bedürfen und nicht zuletzt auch einer psychoanalytischen Supervision, um zu gewährleisten, daß der Therapeut auch seine "Gegenübertragung" im Griff behält.
Auf unseren Fall, auf die threadstarterin "übertragen" heißt dies, daß diese immer noch - zumindest für mich - reichlich obscure Beziehung zu ihrem "Chef" als "väterlichem Freund", als "Lehrer" usw. durchaus kein "Nebenkriegsschauplatz" zu sein braucht, wenn wir über ihre Beziehung zu ihrer Therapeutin reden. Erst recht dann nicht, wenn diese "Chef-Beziehung" thematisch im Zentrum der Konflikte mit der Therapeutin steht oder stand.
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Möbius am Sa., 05.12.2015, 18:20, insgesamt 1-mal geändert.