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So., 03.08.2014, 18:40
Hallo Tochter (das böse lasse ich jetzt einmal weg),
ich schreibe Dir hier als jemand, der unmittelbar erlebt, was Demenz für Pflegeaufwand verursacht und als Tochter, die lange ein schwieriges Verhältnis zu beiden Elternteilen hatte.
Deine Vorbehalte gegen den MDK sind berechtigt. Einmal hat derjenige, der kommt, um die Eingruppierung in Pflegestufen vorzunehmen, keine Anreiz, eine möglichst hohe Pflegestufe zu vergeben. Außerdem ist derjenige, der begutachtet wird, in der Regel hochmotiviert, das beste aus sich herauszuholen. Ich kann es ja auch nachvollziehen. Möchte jemand hier aus dem Forum einem Wildfremden gestehen, dass er Hilfe beim Anziehen und Waschen braucht, sich in die Hose macht, manchmal Angst hat vor den fremden Leuten, die auch in der Wohnung sind und oft wirres Zeug redet?
Im Hinblick auf die Eltern-Kind Beziehung finde ich, dass Kinder zu gar nichts verpflichtet sind. Eltern haben eine Verpflichtung ihren Kindern gegenüber. Das 4. Gebot, in dem man Vater und Mutter ehren soll, ist aus einer Zeit ohne Rentenversicherung, Pflegedienste etc.. Da waren Alte darauf angewiesen, von den Kindern versorgt zu werden. Die Zeiten sind heute vorbei, daher können Eltern auch nicht verlangen, dass Kinder sie versorgen und pflegen. Wenn Kinder es machen, dann sollte das freiwillig passieren und nicht jeder kann das, selbst wenn er will. Aus eigener Anschauung weiß ich, dass z.B. eine Demenz nicht gerade das Beste im Menschen zum Vorschein bringt und welche Kraft es kostet, sich um jemanden zu kümmern, der einen dafür noch beschimpft oder bockig wird und eben nicht duschen will, auch wenn er sich gerade von oben bis unten vollge****ssen hat.
Für mich habe ich das Thema geregelt. Ich möchte nicht einmal, dass meine Kinder mich einmal pflegen. Wenn sie. Ich stattdessen besuchen kommen und ich in einem einigermaßen vernünftigen Heim gewaschen und versorgt werde, ist das für die Eltern-Kind Beziehung sicherlich förderlicher als wenn mir ein überfordertes Kind den Hintern abwischt.
Zu meine Eltern habe ich lange Zeit eine sehr schlechte Beziehung gehabt. Ich habe als Kind Dinge erlebt, die nicht nur "nicht in Ordnung" waren, sonder einfach skandalös. Bis Ende 30 hatte ich immer die Einstellung, dass meine Eltern ihre Fehler einsehen müssen und sich entschuldigen. Dann habe ich - aus verschiedenen Gründen - mich mit der Familiengeschichte befassen müssen und habe meine Eltern zum ersten Mal als Kriegskinder gesehen, die traumatische Erfahrungen während des Krieges gemacht haben und später psychische Erkrankungen hatten, die nicht oder nur mit Medikamenten behandelt wurden.
Die Erkenntnis, dass vieles nicht deshalb so war, weil die Eltern gleichgültig, egoistisch oder bösartig waren, sonder weil sie schlicht nicht anders konnten, war für mich unbeschreiblich. Es macht einen großen Unterschied, ob etwas passiert ist, weil derjenige nicht anders wollte oder konnte.
Ich kann mit meiner Mutter bis heute nicht über die Kriegsjahre sprechen (das ist immer nur die "schlimme Zeit") und auch nicht über ihre psychischen Probleme (da ging es ihr immer nicht gut), aber seit ich Mitleid mit ihr haben kann, ist meine Wut verflogen und auch meine Reaktion auf sie. Unsere Beziehung hat sich grundlegend geändert und heute ist sie sehr gut und vertraut.
Vielleicht kann Deine Mutter auch einfach nicht anders und ist nicht böse an sich?
Wenn ich lese, was Du über Deine Schwester schreibst, dann kommt bei mir die Frage auf, ob neben der ganzen Gerechtigkeitsfrage nicht auch noch eine Rechnung mit der Schwester beglichen werden soll, die immer vorgezogen wurde? Auch Deine Schwester ist zu nichts verpflichtet, selbst wenn die Kinder so oft bei Deiner Mutter waren. Ich hoffe sehr, dass ich mal Oma werde und dann werde ich mich um die Enkel kümmern, weil es mir eine Freude ist, nicht damit mich später jemand pflegt Ich habe aber generell etwas gegen dieses "quid pro quo", Beziehungen sind kein buchhalterischer Akt mit Soll und Haben.
Wenn Dich Deine Mutter an ihre Grenze bringt, dann sag' ihr das so und organisier einen Pflegedienst. Wie sie dann damit umgeht, ist ihre Sache. Sie scheint ja nicht dement, sondern nur sturr zu sein.
Ich wünsche Dir aber von ganzem Herzen, dass Du Dich von dem Wunsch, dass Deine Mutter Dich anders sieht, verabschieden kannst und dass es Dir gelingt, sie anders zu sehen. Es macht so frei.