Psychotherapie: soziale Auslese bei der Vergabe?

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Madja
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Beitrag Mo., 28.10.2013, 10:25

Danke, candel. Vielleicht muss mein Mann wirklich das selbst machen. Es ist nur so, ich arbeite von Zuhause und kann mir leisten am Telegon zu hängen. Mein Mann kann das nicht. Bis 17Uhr kann er nichts machen...
Freiheit heißt Verantwortung. Deshalb wird sie von den meisten Menschen gefürchtet. - George Bernard Shaw

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candle.
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Beitrag Mo., 28.10.2013, 10:36

Madja hat geschrieben:Bis 17Uhr kann er nichts machen...
Arbeitsteilung kenne ich ja auch, aber in solch einem Fall hatte ich es meinen Ex selber machen lassen. Und Therapeuten sind ja auch teilweise länger in der Praxis, und in der Mittagspause kann Mann das ja auch, UND es geht heute praktischerweise auch mit Mail. Wenn ER wirklich Therapie will, dann kümmert er sich auch selber.

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stern
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Beitrag Mo., 28.10.2013, 11:59

Tristezza hat geschrieben:Ich habe mich auf den zweiten Artikel, "Die Angst vor schweren Fällen" bezogen, der sich auf Aussagen des Verbands der Ersatzkassen stützt. Kommentare zu diesem Artikel verweisen wiederum auf eine Studie der TK, die die Behauptungen der Ersatzkassen widerlegen soll.
Wobei die TK (die Mitglied des vdek ist) nach Eigenaussage ähnliche Thesen vertritt:
Die Diskussion um lange Wartezeiten auf ein Erstgespräch beim Psychotherapeuten reißt nicht ab. Der Verband der Ersatzkassen (vdek) wirft den Psychotherapeuten jetzt vor, "bevorzugt leichte Fälle" zu therapieren. (...)

Erst kürzlich hatte sich die Techniker Krankenkasse - die ein Mitglied des vdek ist - in ihrem Thesenpapier ähnlich geäußert. 25 Prozent der Patienten hätten eine "eher leichte psychische Erkrankung", heißt es darin.

Als Beispiel nennt die TK unter anderem leichte depressive Episoden und Anpassungsstörungen. Professor Rainer Richter, Präsident der Bundespsychotherapeutenkammer, betonte, dies sei nur ein geringer Anteil.
http://www.aerztezeitung.de/politik_ges ... immer.html bzw.
http://de.slideshare.net/TK_Presse/thes ... hotherapie
Dies wurde angeblich aus Abrechnungsdaten abgeleitet... und mit 25% eher leichteren Störungen quantifiziert. Ich zitiere btw. ...heißt also nicht, dass ich das unterschreibe. Die frühere Studie der TK kam hingegen in der Tat NICHT zu dem Ergebnis, dass leichte Störungen einen hohen Anteil haben, im Gegenteil:
Bei Therapiebeginn sind die Mittelwerte in den Messinstrumenten für alle Instrumente vergleichbar mit den klinischen Normstichproben. Für 93% der Fälle ergeben sich mittlere bis schwere klinische Beein-
trächtigungen. Lediglich bei 7% der Patienten lag eine geringe Beeinträchtigung vor, so dass ...
http://www.tk.de/centaurus/servlet/cont ... atei/54714
Mein Eindruck: Mit dem Thesenpapier werden schlichtweg Argumente gesammelt, die das Gutachterverfahren in Frage stellen sollen... um besagte Koordinationsstelle begründen zu können.
Liebe Grüße
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pandas
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Beitrag Di., 29.10.2013, 16:22

leberblümchen hat geschrieben:Die taz formuliert es ja ganz klassisch - und passend zur eigenen Ideologie: Die verheiratete Hausfrau aus dem Mittelstand (fast hätte ich mir das Wort 'Feindbild' verkneifen können...) ist ein leichter Fall - und damit hat sie schon per definitionem (wenn es denn nach der taz ginge) den Anspruch auf Psychotherapie verwirkt.
Ich möchte ja nicht bestreiten, dass die taz eine politische Tendenz hat; wobei es auch hier zu allen Themen in allen Bereichen auch konträre Artikel gibt. Ich lese die taz weder regelmässig noch ist sie "meine Lieblingszeitung", aber zu behaupten, dass DIES die Ideologie DER TAZ wäre, - ich glaube, da kann ich sagen: Sicher nicht.
Es geht hier sicher nicht darum, dass die Macher ein Interesse haben, ihre Ideologien zur Psychotherapie unter´s Volk zu jubeln, es handelt sich wie bei allen anderen Zeitungen auch schlicht um einen Artikel zu einem aktuellen Thema, der dieses beschreibt und bestimmte Tendenzen und Sichtweisen darlegt und verfolgt. Sich damit auch kritisch zum Mainstream bzw. Althergebrachten stellt, welcher hier besagen würde, soziale Auslese bei Psychotherapie kann nicht sein, ist doch alles per KK und eingebetteten Gesetz geklärt und Ilse Maier hat ja auch eine PT bekommen.
So, nun ist das, was Du da zitierst ja nur ein Einstieg. Und wird weiter ausgeführt. Sicher wird da auch ein Stereotyp verwendet, welches eine Tendenz zeigen soll, die krisisierbar ist. Übrigens steht dort nirgends, dass die Hausfrau aus dem Mittelstand keine Therapie bekommen soll (und es gibt übrigens eindeutig eine Durchschnitsskonstellation, auf der dieses Stereotyp beruht), sondern dass es fragwürdig ist, dass sie regelmässig eine bekommt und schwerere Fälle, Stereotyp eventuell: nach Verschuldung alleinstehend und im Hochhaus wohnend, überlebter Suizidversuch, vermutete schwerere Missbräuche in der Kindheit, kaum Einbettung in Familie, nach stationärem Aufenthalt als Persönlichkeitsstörung diagnostiziert keinen Platz bekommt, natürlich trotz bemühter Suche. Wie gesagt, gibt es dazu auch Belege ausserhalb des Artikels.
Und anders gelagerte Konstellationen wurden hier ja auch berichtet, wo es schwer bis unmöglich war einen Platz zu finden.
Das ist mit sozialer Auslese gemeint. Wenn die Mittelstands-Hausfrau (ohne Hochschreibung im Bericht) eine entsprechende tatsächliche psychische Konstellation hat, die nach KK-Regeln genehmigungsfähig ist, bestreitet ja keiner, dass sie eine Therapie bezahlt bekommen soll. Sie kann sich ja auf die Warteliste setzen lassen.
Dass aber regelmässig leichte Fälle bevorzugt werden, geht nunmal nicht. Denn dann besteht eindeutig eine soziale Auslese, ganz unabhängig vom Schicksal der obigen Mittelstands-Hausfrau.

leberblümchen hat geschrieben:Ich hoffe nicht, dass ich hier irgendwie belegen muss, dass es etliche Frauen aus dem Mittelstand gibt (auch Hausfrauen, ja), die eine schwere psychische Störung aufweisen. Wie eben in allen anderen sozialen Schichten auch. Nur funktioniert es halt - bei mir zumindest - nicht, wenn man es so formuliert, dass am Ende nur der einen Anspruch auf eine Therapie haben soll, der im Bergbau arbeitet. Ich wüsste jetzt z.B. auch nicht, wo stehen würde, dass es ethisch erwünscht ist, dass Therapeuten sich die schwersten Fälle aussuchen müssten (wobei schon wieder unterstellt wird, dass sie das nicht tun wollen) und die 'leichten' Fälle ablehnen sollten.
Wie bereits umrissen, legst Du es falsch aus. Es geht um den Vorrang. Es geht nicht darum, dass nur eine Gruppe generell Anspruch haben sollte. Im Moment besteht aber der Verdacht, dass eine Gruppe durch die tatsächliche soziale Praxis in der Vergabe erheblich benachteiligt wird. Somit wurde formuliert, dass es tendenziell darauf hinausläuft, dass diese Gruppe tatsächlich ihren Anspruch nicht durchsetzen kann. Es geht auch nicht um "Bergbau" und um "schwerste Fälle", sondern das Spektrum von Personen, die keine Mittelstands-Hausfrauen sind, ist erheblich grösser (auch mal salopp formuliert .
Und natürlich gilt im Gesundheitswesen diese Ethik: Die Schwere des Falls bestimmt den Vorrang. Und hier geht es letztlich gar nicht mal um den Vorrang, sondern wie gross die Wahrscheinlichkeit ist, den Anspruch überhaupt durchzusetzen, für bestimmte Gruppen.
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pandas
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Beitrag Di., 29.10.2013, 16:26

leberblümchen hat geschrieben:Wenn du das wirklich so vertrittst, pandas, dann bist du halt wieder beim Verteilungsproblem. Denn natürlich sollten auch 'leichte Fälle' einen Anspruch auf einen Therapieplatz haben - wieso denn auch nicht? Und vor allem: Wie sollte man das klassifizieren, bevor man sich entschieden hat, den Patienten aufzunehmen?
Öhm, natürlich gibt es eine Klassifizierung, ab wann eine KK-Therapie genehmigungsfähig ist und wann nicht. In der Tat gibt es Konstellationen, die im Gutachterverfahren als "zu leicht" abgelehnt werden - es besteht keine wesentliche Gesundheitsbeeinträchtigung und eine Therapie, wenn sie denn gewünscht wird, ist privat zu finanzieren.

WOBEI die Regelungen da auch ausdifferenziert sind. Es geht bei der Verteilung ja auch um die Frage, wieviel Geld ist vorhanden, denn man kann ja nicht alles Geld in die Ausdehnung der Therapieplätze stecken, damit munter weiter frei nach Gusto beantragt und bewilligt werden kann. Das ist (salopp gesagt) ähnlich wie bei den Massagen, die auch jeder gerne hätte, die aber budgetisiert sind und nur bei Notwendigkeit vom Ortho verschrieben werden sollen. UND übrigens werden die Ärztebudgets stichprobenartig kontrolliert (es gibt da wohl eine bessere Kontrollierbarkeit an sich). Da mussten schon einige Ärzte Strafe zahlen. Im Gegensatz zu PT wird hier fast zu streng kontrolliert ...

Nun wird nicht abgestritten, dass im Bereich Psychotherapie ein grundsätzlicher leichter Bedarf bestehen kann, den jeder haben kann. Dafür gibt es ja die Form Kurzzeittherapie von 25 Stunden, die finanziert wird, ohne dass die Krankenkasse beurteilen lässt, ob der Problemlage nach eine Therapie notwendig ist.
Dass die Verteilung nun so gelagert werden soll, dass bei allen Therapien einfach auf die Genehmigung an sich verzichtet wird und die gesamte Verantwortung liegt beim einzelnen Therapeuten, so dass theoretisch jeder eine Langzeittherapie bekommen könnte, halte ich für wahrscheinlich gesellschaftsökonomisch schlicht nicht durchsetzbar.
Wobei es ja auch Überlegungen gibt, es so neuzuregeln, dass kein Verfahren mehr angegeben werden muss und eventuell das Bewilligungsverfahren vereinfacht, indem die mögliche Therapielänge für alle neu festgelegt wird, wie z.b. Streichung von 300-Stunden-Therapien, jeder einmal im Leben eine PT von 120 Stunden.
Dies würde aber die im Artikel skizzierten Probleme wahrscheinlich erst recht nicht lösen, denn dann würden noch viel mehr leichtere Fälle in die Praxen strömen und für Psychologen keine Notwenigkeit bestehen, sich mit schwereren Fällen zu beschäftigen. Und nochmal: Das alles sind Tendenzen. Unbestreitbar ist, dass es vereinzelt auch Therapeuten gibt, die lieber mit schwereren Fällen arbeiten. Das sind die Therapeuten mit den längsten Wartelisten.
leberblümchen hat geschrieben: Es wird ja immer wieder gesagt, dass die Therapeuten nicht zurückrufen. Es wird ja wohl eher selten jemand am Telefon sagen: "Guten Tag, mein Name ist Müller und ich bin ein schwerer Fall" (die meisten Patienten werden vermutlich ohnehin annehmen, ein 'leichter Fall' zu sein und anderen einen Platz wegzunehmen - gut, dass die taz dieses noch verstärkt...)
Naja. Also, es ist so, dass nicht alle Therapieplätze über diese Blindtelefonanrufe in der Vergabe eingeleitet werden. Die meisten Therapeuten werden auch über Hausärzte und weitere Kreise empfohlen. Man kennt sich.
Dies ist mitunter die Ursache, dass viele Therapeuten gar nicht zurückrufen u.ä.

Es geht ja auch nicht darum, dass sie unbedingt gleich am Telefon abgewiesen werden, wobei ich es von der Telefonsuche kenne, dass die Therapeuten zumindest ein paar Stichworte haben wollen, bevor sie einen Termin für ein Erstgespräch vergeben. Dazu gehört mitunter auch, wie die berufliche Situation etc. ist.


Insgesamt geht es bei dem Threadthema also nicht um VERTEILUNG sondern um VERDRÄNGUNG.
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pandas
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Beitrag Di., 29.10.2013, 16:54

BillieJane hat geschrieben:Hallo Pandas, ich lese keine mainstream Medien, deswegen habe ich den Artikel nur überflogen, doch wenn die taz Manische Depressionen und postraumatische Belastungsstörungen für leichte psychische Störungen halten..... Nun, ja, es bestätigt meine kritische Haltung gegenüber der angeblichen Qualität der üblichen Presselandschaft.
Es geht in dem Artikel nicht nur um die Art der Diagnose, sondern um die Gesamtkonstellationen etc. ...
Ich würde jetzt auch nicht sagen, alle Zeitungen mit höherer Auflage sind als Mainstream-Medien gleichzusetzen.
Und ich finde schon, wenn man gegenüber einer Sache eine kritische Haltung einnehmen möchte, sollte man es schon ganz gelesen haben.
BillieJane hat geschrieben:Hier ist der Abschlussbericht der TK von 2011 im Original welche die taz für ihren tendenziösen Journalismus missbraucht hat: http://www.tk.de/centaurus/servlet/cont ... atei/54714
Hm. Eine Tendenz darstellen zu wollen, ist ja für sich noch nicht amoralisch. Die öffentliche Meinung besteht u.a. aus Tendenzen, eine Zeitung sollte diese abbilden und gerade auch Expertenwissen kreuzperspektivisch hinterfragen.
Ich finde schon, dass die Formulierung missbraucht scharf gegriffen ist und macht man das nicht immer dann, wenn man der Überzeugungskraft des eigenen Argumentes selbst misstraut?

M.E. geht es gerade darum, über die Diagnosen hinaus sich die Problematik der tatsächlichen Vergabe der Therapieplätze anzuschauen - die gesamte Einbettung der entworfenen Diagnose.
Darum geht es u.a. auch in den Artikeln.

Dass die Diagnosestellungen der Experten im Bereich Psycholgie und Psychiatrie einer kritischen Hinterfragung bedürfen, ist ja schon länger Thema im öffentlichen Diskurs.

Es gibt da ja viele Beispiele, wo was schief läuft, im Spielfeld der Diagnosen-Jonglagen.
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leere
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Beitrag Mi., 30.10.2013, 12:28

ich habe gerade diesen Artikel zum Thema gelesen:

http://www.welt.de/wirtschaft/article13 ... Seele.html

Das Problem ist lt. Artikel, für die schwereren Fälle ist kein Platz und kein Geld mehr da, denn der Platz wird von der ansteigenden Zahl der leichteren Fällen belegt bzw. gar für Menschen die nicht krank sind. Hypothese hierbei ist, dass viele Menschen nicht mehr gelernt haben mit Krisen und Konflikten in ihrem Leben umzugehen und Sie daher immer häufiger Rat und Hilfe bei Therapeuten suchen. Diese Hilfesuchenden sind jedoch nicht krank im Sinne der ICD10. Dennoch werden Sie von Psychotherapeuten behandelt und das wird auch von der Krankenkasse bezahlt, weil der Therapeuten es mit der Ernsthaftigkeit Ihrer Diagnose nicht so genau nehmen. So wird schnell mal aus einer Erschöpfung eine mitteschwere Depression.
Weiter stellt der Artikel die Hypothese auf, dass die Anzahl der schweren Psychischen Erkrankungen, hierzu gehört auch die Depression, in den letzten Jahren nicht angestiegen sind. Naja, am besten selber lesen, ich finde den Artikel sehr gut.

Leere


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pandas
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Beitrag Fr., 01.11.2013, 13:56

zur Lage in Österreich:
wien.orf.at/news hat geschrieben:In Wien ist laut Landesverband für Psychotherapie jeder Vierte im Laufe seines Lebens von einer psychischen Erkrankung betroffen - und bräuchte eine Therapie. Dafür bezahlen müssen viele Patienten aber selbst, kritisiert der Landesverband.

Die Wiener Gebietskrankenkasse (WGKK) zahlt pro Jahr für jeweils rund 12.000 Menschen, die eine Therapie machen, entweder einen Zuschuss oder eine Therapie auf Krankenschein.

Laut dem Landesverband für Psychotherapie ist der Bedarf aber höher. Es bräuchten sogar 50.000 Menschen eine Psychotherapie, sagte die Verbandspräsidentin Leonore Lerch.
Quelle: http://wien.orf.at/news/stories/2611400/
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chaosfee
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Beitrag Mi., 20.11.2013, 16:35

Hinzu kommt, dass Diagnosekataloge kontinulierlich ausgebaut werden und inzwischen eine Unzufriedenheit mit der Lebensrealität in Ostdeutschland eine diagnostizierbare Krankheit ist. Oder eine Trauerphase nach dem Tod eines nahen Angehörigen von mehr als 4 (oder gar 2, bin mir nicht sicher) Wochen.

Ist doch klar, dass dann Hinz und Kunz meinen, ganz schnell einen Analytiker zu brauchen um ihre Trauer und Unzufriedenheit wegtherapieren zu lassen. In den USA gehört es ab Mittelschicht ja schon zum guten Ton, seinen shrink zu haben, nur geht es dort eben nicht um den Verteilungskampf weniger Kassenplätze.

Meine persönliche Erfahrung als "Schwergestörte" ist, dass es übermenschlich viel Anstrengung und Beistand von außen braucht, um einen Therapieplatz zu finden. Allein schon aus dem Grund, dass Therapeuten, wenn sie in Stunde 10 oder 20 irgendwann merken, dass sie den Klienten nicht schaffen, die Therapie durchaus abbrechen. Der neue Therapeut muss dann ein Gutachten schreiben, um die Therapie erneut beginnen zu können. Jetzt ratet mal, wie viele Therapeuten dazu bereit sind...

Ganz abgesehen davon, dass ich von Therapeuten schon in Erstgesprächen Folgendes gehört habe:
- Ich nehme keine suizidalen Patienten
- ich behandle keine Persönlichkeitsstörungen
- wenn Sie depressiv sind, dann ist Voraussetzung für eine Therapie bei mir, dass Sie Antidepressiva nehmen
- ich behandle Sie nur, wenn Sie an mindestens 4 Tagen pro Woche zu mir kommen (wohlgemerkt in einer Gegend ohne vernünftigen ÖPNV-Anschluss)
- ich behandle grundsätzlich nicht länger als über den ersten Therapieantrag hinaus

Na, wenn das mal keine soziale/diagnostische Auslese ist....
"Die fast unlösbare Aufgabe besteht darin, weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen." Adorno

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Maika
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Beitrag Mi., 20.11.2013, 16:41

Also eine diagnostische Auslese kann unter Umständen ja auch sinnvoll sein. Natürlich nicht wenn es dazu führt, dass bestimmte Pat. dann nur schwer einen Platz finden. Aber ich möchte auch nicht von jmd. behandelt werden, der einen ganz anderen Schwerpunkt hat als mein Problem.
Ich habe es jetzt auch erlebt, dass ich nach einem best. Schwerpunkt gesucht habe und es schwierig ist, da jmd. zu finden. Aber ich will ja auch nicht zu jedem, ich will über die formale Qualifikation hinaus ja auch ein gutes Gefühl mit der Sache haben....

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stern
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Beitrag Mi., 20.11.2013, 17:06

Die Trennung in leichte und schwere Störung finde ich immer wieder irgendwie befremdlich. Zum einen, woran macht man das genau fest, was nun leicht und was schwer sein soll. Einen Behandlungsanspruch haben beide, was ich auch fair finde. Auch leichtere Störungen können zu einer schwereren auswachsen bzw. sich chronifizieren. Und schwer gestört heißt auch nicht zwingend, dass die Behandlung dringlicher ist. Und so weiter und so fort. Sondern im Grunde dreht es sich m.M.n. letzlich um einen Verteilungskampf zu knapper Kassenplätze (wobei die Unterversorgung gerne ignoriert wird). Wenn ich solche Artikel lese
Bundesweit gibt es Schätzungen zufolge eine halbe Million Psychosekranke; dreieinhalb Millionen Depressive; und 650.000 Menschen, die am Borderlinesyndrom leiden, einer schweren emotionalen Störung, die als Folge von sexuellem Missbrauch oder von Gewalterfahrungen in der Kindheit gilt. Zusammen sind das mehr als viereinhalb Millionen Menschen, die an den bekanntesten schweren Erkrankungen der Seele leiden. Um sie kümmern sich Psychotherapeuten, Ärzte, Neurologen, Psychiater. Aber sie haben alle dasselbe Problem: Das Geld, das sie für eine angemessene Behandlung brauchten, ist schon weg. Es wurde für andere ausgegeben.
http://www.welt.de/wirtschaft/article13 ... Seele.html
erscheint mir das schon ziemlich polemisch... denn welche Therapieantrag wird mit der Begründung abgelehnt "sorry, wir haben kein Geld, da wir eben erst einem anderen Patienten einen Platz gaben". Liegt es wirklich ausschließlich an knappen Mitteln, wenn ein Therapeut keinen Psychosepatient nimmt? Denn es können ja wahrlich auch andere Gründe vorliegen wie fehlende Erfahrung bzw. besagtes Ausleseproblem, da zu wenig Plätze zur Verfügung gestellt werden (Unterversorgung).
Zuletzt geändert von stern am Mi., 20.11.2013, 17:37, insgesamt 1-mal geändert.
Liebe Grüße
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Eremit
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Beitrag Mi., 20.11.2013, 17:30

Im Endeffekt ist eine solche Form der Auslese nicht nur im Interesse der Kassen und Therapeuten, sondern auch im Interesse der (meisten) Patienten, da sich deren Zustand sonst eher verschlechtert als verbessert.


chaosfee
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Beitrag Mi., 20.11.2013, 17:39

Eremit: Der Zustand vieler Patienten verschlechtert sich bei Nichtbehandlung, nicht nur derer mit leichten Störungen.

"Hochdiagnostizierte" würden sich unter Umständen sogar ganz ohne Zutun eines Fachmenschen wieder normalisieren. Klar kann ich mit einer Erkältung zum Arzt gehen (der daraus einen "grippalen Infekt" macht) und werde mit den von ihm verschriebenen Medikamenten nach 3 Tagen gesund. Ohne hätte es dann eben 5 Tage gedauert.

Auch für den "psychischen Schnupfen" sollte man sich manchmal mehr Zeit nehmen als sich nur möglichst schnell wieder funktionsfähig behandeln zu lassen.

Darüber hinaus sehe ich die Auslese eben nicht als positiv für die Solidargemeinschaft: Wer keinen ambulanten Platz bekommt, landet eher in stationären Einrichtungen bzw. wird arbeitsunfähig.


Eremit
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Beitrag Mi., 20.11.2013, 17:59

chaosfee hat geschrieben:Darüber hinaus sehe ich die Auslese eben nicht als positiv für die Solidargemeinschaft: Wer keinen ambulanten Platz bekommt, landet eher in stationären Einrichtungen bzw. wird arbeitsunfähig.
Solche Patienten werden aber über kurz oder lang in stationären Einrichtungen landen, ist nur eine Frage der Zeit. Wenn die Probleme dermaßen gravierend sind, ist das unausweichlich, inklusive Arbeitsunfähigkeit, sozialer Isolation und dergleichen. Solche Dinge können nicht "abgefangen" werden, das ist reines Wunschdenken. Ab einem gewissen Punkt ist alles unausweichlich.

Man muß das auch so sehen: Die Aufgabe der Medizin und Psychopathologie ist ja in erster Linie eine wirtschaftliche. Es geht ja nicht darum, Menschen gesund, glücklich und zufrieden zu machen, sondern, sie möglichst schnell wieder ins Berufsleben einzugliedern. Diesbezüglich ist es auch nicht verwunderlich, daß Therapeuten sich lieber Patienten zuwenden, die "leichtere" Probleme haben. Es geht um wirtschaftliche Effizienz.


chaosfee
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Beitrag Mi., 20.11.2013, 18:13

Ich unterstelle den Therapeuten nicht so viel Sinn für das Allgemeinwohl, dass sie aus wirtschaftlicher Effizienz leichtere Fälle bevorzugen. Schlicht Bequemlichkeit.

Ich habe übrigens durch die Aufnahme einer Therapie eine stationäre Behandlung abgewandt. Da war nix unausweichlich.

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