Nutzen/Sinn der Diagnosestellung

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viciente
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Beitrag Di., 16.04.2013, 14:10

RTRV hat geschrieben:Ja ich empfinde es als eine Art Tick und ich kann mich so dermaßen reinsteigern in meine Denkphasen, dass ich 4 Nächte lang keinen Schlaf finde. Sämtliche Versuche, und davon gibt es viele, lassen nicht zu, diese Phasen zu stoppen. Im Gegenteil, es wird schlimmer, weil ich wie ein Regentropfen ins Meer schwimme und nicht wieder zurück finde.
ja eh .. sag ich doch; ich hab ja geschrieben, dass etwas schlimmer wird, je mehr man dagegen drückt! wenn mans also immer wieder und ewig erfolglos auf diese weise versucht, dann wär nicht viel verhackt, es mal mit locker-lassen zu probieren.
RTRV hat geschrieben:Und leider lassen sich Entscheidungen nicht so einfach unter den Teppich kehren, wenn man zwei kleine Kinder hat, davon ein SI und ein hochbegabtes.
das ist völlig klar aber gar nicht so sehr der punkt, weil dein getrieben sein und die schlaflosigkeit dir ja genau die energie abzieht, die du für konstruktiv lösungsorientierte ansätze (die du im meer treibend wohl eher selten finden wirst) dringend bräuchtest. dann gelingt dir das eventuell mal nicht und du wirst klarerweise noch "agressiv" .. ungeduldig (mit dir selbst), was noch eins drauflegt. gedanken mal fliegen zu lassen soll nicht heissen, sie unter den teppich zu kehren; das wär ja wieder nur eine art verbannung/verdrängung .. also kampf DAGEGEN.
.. nicht mehr und nicht weniger wollt ich dir als anregung liebevoll rüberreichen.

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candle.
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Beitrag Di., 16.04.2013, 17:06

yamaha1234 hat geschrieben: ja, aber genau das mit dem Einordnen finde ich problematisch, jede Erkrankung ist ja mit einem bestimmten Muster/Verhalten assoziiert und auf diese Weise verhält man sich, vielleicht auch unbewusst, genauso wie es dieser "Erkrankung" entspricht, vielleicht engt man sein Handeln und seinen Handlungsspielraum dadurch zu sehr ein?
Ist das so? Also für mich oder bei mir nicht. Ich weiß aber auch nicht wie du das jetzt gemacht hast?
Für mich war meine Diagnose mal gut, weil ich mich da wiedergefunden habe. Das war es dann auch schon.

candle
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(e)
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Beitrag Di., 16.04.2013, 21:19

Für mich war es wichtig, die Diagnose (zwanghafte Persönlichkeit und Zwänge) zu erfahren und mich darin wiederzuerkennen. Allerdings wurde die erste Diagnose später von weiteren Gutachtern relativiert, was ich auch für mich so bestätigen konnte. Wichtig war auch, meine Diagnose im Kontext meiner Schwester und ihrer besonderen Persönlichkeit zu sehen. Sie hat nun gerade kürzlich von sich aus die Vermutung geäußert, evtl. Borderline zu haben, etwas was mein Thera aufgrund meiner Familienbeschreibung schon lange vermutete, wie ich selbst auch. Sie hat sich offenbar wiedererkannt, so wie ich in meiner Diagnose. Also mir hilft die Diagnosestellung, mich selbst und auch meine Schwester besser zu verstehen. Es ist für mich wie ein Schlüssel, denn vieles ist ich-synton für mich, also nur sehr schwer als zwanghaft erkennbar. Mittlerweile schon, aber vorher war es nicht so.
Lieben Gruß
elana

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Wandelröschen
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Beitrag Di., 16.04.2013, 21:47

Hallo alle zusammen,

interessantes Thema, für mich sehr wichtig.
Für mich ist eine – richtige – Diagnose sehr wichtig. Bin halt jemand, der selber viel macht, mit anpackt, ein „Schaffer“. Ich habe ein Ziel, wo ich hin will. Bloß, wenn ich nicht weiß, wo ich stehe (also wie bei einem Vektor, das Ziel ist die Spitze und der Ausgangspunkt, wo der Vektor festgemacht ist, ist der momentane Standpunkt, die Diagnose), kann ich doch auch nicht die Richtung ausmachen, die ich zu gehen habe, was ich also tun kann. Ist dann für mich wie ein Schwimmen im Meer der Ungewissheit, im Extremen ein Schwimmen im Nichts.

Ich habe beide Erfahrungen gemacht, keine Diagnose zu bekommen und eine zu bekommen.
Nach etlichen Stunden bei meiner ersten Thera fragte ich ganz konkret, was ich denn habe. Sie sagte nur, sie gebe ihren Patienten grundsätzlich keine Diagnose, weil sie die Erfahrung gemacht hat, dass es ihnen in der Regel einen Stempel aufdrückt, sie damit nicht umgehen können. Punkt aus, sie sagte mir auch auf Nachfrage nicht, was ich hatte. Tat mir persönlich nicht gut, versuchte mich dann trotzdem – hinter ihren Rücken – zu informieren. Erfuhr dieses und jenes, dieses traf zu, jenen nicht. Aber ob ich richtig lag? Keine Rückmeldung, mir fehlte die Transparenz, fühlte mich auch dann nicht ernst genommen, eigene Kompetenzen nicht beachtet/Wert geschätzt.

Bei meinem jetzigen Thera war es gleich anders. Nach einigen Stunden gab er mir von sich auch eine Diagnose, ohne Nachfragen meinerseits. Jetzt hatte ich die Möglichkeit/Handlungsfreiheit zu sagen, ja, sehe ich auch so, nehme ich an, oder nein, sehe ich ganz anders kann ich mich nicht drin wiederfinden. Ich hatte einen Startpunkt, nachdem ich eine für mich verständliche/annehmbare Diagnose hatte, wusste, wo ich hin wollte. Somit war für mich eine Richtung vorgegeben, die ich dann gehen konnte (und tat). Das half mir sehr.

Die Krankenkasse braucht auch eine Diagnose, denn sie bezahlt ja nur festgelegte Diagnosen. Ob sie stimmen oder nicht, ist dabei völlig irrelevant.
Gruß
Wandelröschen

Wann, wenn nicht jetzt. Wo, wenn nicht hier. Wer, wenn nicht ich.

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viciente
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Beitrag Di., 16.04.2013, 22:12

ja WR .. das gibt (gefühlte) "sicherheit" - von aussen; ich betrachte einiges dabei nur eben - ohne anspruch auf "wahrheit" einfach nur kritisch. es klingt oft so wie die anforderung an eine externe autorität wie "sag mir wer und was ich bin, damit ich weiss was ich wie tun soll" .. ich VERSTEH diese bedürfnisse nach klärung, bestätigung, definition .. aber die antworten kommen eben von aussen - und wenn sie nicht exakt stimmen sollten - was bei diesen themen sehr schnell passieren kann - dann kann das auch sehr schaden. und insofern bin ich halt eher sehr bei deiner therapeutin, obwohl (oder eher sogar deshalb) sie es dir dadurch nicht "leicht" gemacht hat. ich seh eben den (therapie)schwerpunkt darin, selbst dabei schon möglichst unterstützend zu wirken .. selbstbestimmt die eigenen definition dafür zu finden wo man individuell und mit allen facetten steht, als in eine schublade vorgefertigter diagnosen gepresst zu werden, auf deren basis man dann "arbeitet".
.. also nicht durch die (verallgemeinerte) diagnose die richtung vorgeben, sondern gemeinsam individuell abgestimmt erst auch die "richtung" erarbeiten. ich freunde mich einfach nicht mit schubladendenken und einer art fremdbestimmtheit ab .. weil ich den wesentlichsten kern der unterstützung in der selbstfindung sehe, da ich allen u.a. zutraue grundsätzlich alles mitzuhaben, das sie für ihr leben brauchen. nicht zuletzt haben wir schon von klein auf "gelernt" (sind dressiert worden), mehr darauf zu reagieren ob z.b. unsere lehrer eine arbeit gut finden als ob wir unser eigenes einverständnis haben. das ist einfach nur MEIN zugang ..

dass - wie du richtig sagst - irrelevant ist ob diagnosen richtig sind oder nicht um die behandlung bezahlt zu bekommen, ist für mich allein schon ein system(at)ischer kotzbrocken für sich. wer sollte denn sowas schliesslich auch "prüfen"? bei einem gebrochenen bein ists eindeutig.


Vincent
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Beitrag Di., 16.04.2013, 22:25

Also ich beginne ja in Kürze eine Gruppentherapie. Der Therapeut hat mit mir gemeinsam in den Vorgesprächen zwar Schwerpunkte festgestellt, aber zu einer Diagnose hat er sich nicht geäußert. Und ich merke, dass mir das auch gar nicht wichtig ist. Ich werde ihn nicht danach fragen; sehe ja selbst, wo es hakt.

Hier bin ich mit meinem Empfinden ganz bei viciente:
viciente hat geschrieben:ich seh eben den (therapie)schwerpunkt darin, selbst dabei schon möglichst unterstützend zu wirken .. selbstbestimmt die eigenen definition dafür zu finden wo man individuell und mit allen facetten steht, als in eine schublade vorgefertigter diagnosen gepresst zu werden, auf deren basis man dann "arbeitet".
Edit: Eine Diagnose ist eine Diagnose. Die Therapie wird aber unabhängig davon wirken, nämlich dort, wo durch sie das Unbewusste angesprochen und hervorgeholt wird. Das kann man also im Vorfeld nennen wie man will.
"Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu." (Horvàth)

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Beitrag Di., 16.04.2013, 22:30

@Vic:

Für mich schließt das Wissen- und Verstehenwollen durch die Diagnosestellung nicht aus, dass ich selbst bestimme, ob und inwiefern ich mich verändern will. Eigentlich will ich mich nur besser verstehen. Was ich nicht wiedererkenne, kann ich auch nicht integrieren. Das bleibt dann eben außen vor und unbearbeitet. Außerdem ist es bei mir so, dass ich ganz bewusst gewisse Eigenschaften meiner diagnostizierten Persönlichkeit aufrechterhalten will, auch wenn ich das Abweichende erkenne, einfach deshalb, weil ich mich dafür entschieden habe und ich nichts daran ändern möchte aus für mich strategischen Gründen. Es gehört zu meiner Geschichte. Es sind von mir durchaus erkannte maladaptive Methoden des Selbstüberlebens in Extremsituationen, die ich aber auch jetzt noch als sinnvoll erachte, weil der Auslöser in meinem Fall immer noch besteht.

Trotzdem besteht für mich jetzt - im Gegensatz zu vorher, wo ich die Diagnose nicht kannte, die Möglichkeit, etwas zu ändern, wenn ich das will. Diese freie Wahl hatte ich vorher nicht, weil ich keine anderen Optionen kannte. Ich steckte zu sehr in meinen unbewussten Mustern drin. Jetzt aber erkenne ich sie und kann sie bewusst an meine Wünsche anpassen, die aber nicht unbedingt den Vorstellungen meines Theras entsprechen müssen (tun sie auch nicht, in einigen Teilen sogar eher in die Gegenrichtung, weil mir mein aufgedecktes unbewusstes Muster auch im Lichtschein des Bewusstseins richtig und sinnvoll erscheint, sodass ich es sogar noch optimiere).

Für mich ist es fundamental wichtig, mich selbst zu verstehen, weil ich nur einen eingeschränkten Zugang zu meinen Gefühlen habe und wirklich nicht weiß, warum ich so ticke, wie ich ticke. Da brauche ich schon herangetragenes Wissen von außen, um aus meiner Betriebsblindheit rauszukommen. Ich verstehe jetzt auch schon viel mehr. Und das ist sehr befreiend.
Lieben Gruß
elana

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viciente
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Beitrag Di., 16.04.2013, 22:50

ja .. "passt" doch alles, elana; und wenns für dich gut ist, dann schon sowieso. ich denk nur, auch in dem fall brauchst du die diagnose selbst vor allem für die kk und damit das ganze einen namen hat. deine "probleme"/symptome wurden also erfasst und dann in eine diagnose synthetisiert. und du machst scheinbar genau das, von dem ich rede .. du "zerlegst" das ganze dann wieder .. und nützt selektiv die einzelteile .. selbstbestimmt .. für dich. so hast du das für dich "organisiert" .. und was letztlich wirkt, scheint eben nicht die diagnose als solche zu sein, sondern die auseinandersetzung mit den realen themen, bei denen du dich wiederfindest und die du brauchst. so gesehen ein für dich wesentlicher zwischenschritt; ja, so versteh ich das jetzt.
.. ich bin auch gar nicht gegen diagnosen an sich (das wär missverstanden), sondern halt sie nur in manchen fällen für fragwürdig .. aber das hab ich ja schon ganz am beginn geschrieben.

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Beitrag Di., 16.04.2013, 23:07

Wandelröschen hat geschrieben:Ich habe beide Erfahrungen gemacht, keine Diagnose zu bekommen und eine zu bekommen.
Nach etlichen Stunden bei meiner ersten Thera fragte ich ganz konkret, was ich denn habe. Sie sagte nur, sie gebe ihren Patienten grundsätzlich keine Diagnose, weil sie die Erfahrung gemacht hat, dass es ihnen in der Regel einen Stempel aufdrückt, sie damit nicht umgehen können. Punkt aus, sie sagte mir auch auf Nachfrage nicht, was ich hatte. Tat mir persönlich nicht gut, versuchte mich dann trotzdem – hinter ihren Rücken – zu informieren. Erfuhr dieses und jenes, dieses traf zu, jenen nicht. Aber ob ich richtig lag? Keine Rückmeldung, mir fehlte die Transparenz, fühlte mich auch dann nicht ernst genommen, eigene Kompetenzen nicht beachtet/Wert geschätzt.
Vic, ich finde, Wandelröschen hat es sehr schön ausgedrückt. Der Stempel der Störung finde ich auch übel, ich nenne das Steinzeitalter der Psychologie. Irgendwann wird das hoffentlich mit dem richtigeren Begriff "Interventionsmuster" betitelt. Aber die Diagnose nicht zu erfahren bedeutet eben auch eine Entmündigung, der Patient ist so komplett abhängig vom Therapeuten und kann nicht selbst zu seiner Diagnose recherchieren und sich selbst ein Bild machen oder sich dazu distanzieren, denn er weiß ja nicht mal, wozu er Stellung beziehen soll. Das ist so wie früher in der Kirche, wo die Menschen im Analphabetismus gehalten wurden, damit nur die Kleriker die Bibel lesen und interpretieren konnten. Wer selbst liest, kann auch Nein dazu sagen. Also muss zuerst die Diagnose transparent gemacht werden.
Lieben Gruß
elana

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viciente
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Beitrag Di., 16.04.2013, 23:30

.. das (bedürfnis) versteh ich schon ..
elana hat geschrieben:Aber die Diagnose nicht zu erfahren bedeutet eben auch eine Entmündigung, der Patient ist so komplett abhängig vom Therapeuten und kann nicht selbst zu seiner Diagnose recherchieren und sich selbst ein Bild machen oder sich dazu distanzieren, denn er weiß ja nicht mal, wozu er Stellung beziehen soll.
.. ja eben; genau damit gibt sie/er sein ganzes "schicksal" in die diagnose .. und sich in abhängigkeit davon (vom stempel). es braucht paradoxerweise leider alles immer einen namen - ein etikett, um sich dann dazu in beziehung setzen zu können .. obwohl meist der name an sich im endeffekt zumindest überflüssig ist. wenn man der diagnose eines therapeuten jedoch derart viel bedeutung zumisst .. ihr eine derartige macht über einen selbst zuschreibt .. dann entmündigt man sich auf eine andere art und weise eher selbst. wer sagt denn, dass jemand stellung beziehen soll zu einem gedankenkonstrukt? einem namen? .. statt einfach mit dem zu arbeiten, das DA ist. jemandem nicht einfach eine standardisierte diagnose hinzuklatschen halt ich für ganz was anderes als das machtgebaren der so genannten schriftgelehrten. was die tatsächlich "geleistet" haben, konnte man vor 2000 jahren sehen .. und heut ists nix anders.
.. für mich hat das eher etwas mit verantwortung zu tun; hat schon ärzte gegeben, die z.b. krebs diagnostiziert haben .. worauf die patienten völlig verzweifelt verfallen sind .. z.t. tatsächlich krank wurden .. und dann sagte man ihnen .. och - sorry, das war ein irrtum. war dann zwar schon zu spät .. aber na ja - bad luck, shit happens.
.. besser kann ichs leider nicht beschreiben, zumal diese meine sicht auf verschiedenen ebenen greift und eher unorthodox ist; es würd immer komplexer und würd vom thema zu weit weg führen.

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Beitrag Di., 16.04.2013, 23:52

@Vic:

Ja, ich denke, es ist wirklich ein Bedürfnis aufgrund des vorher bestehenden Leidensdrucks des Patienten. Anders ist es sicher, wenn kein Leidensdruck besteht, dann ist der Drang, endlich zu verstehen, was mit einem "falsch läuft" gar nicht vorhanden. Aber dann besteht ja eher auch kein Therapiebedarf.

Wenn ich zu einem Therapeuten gehe, will ich wissen, was er wirklich denkt, ich mag diese Augenwischerei und das geheime Kritzeln in Notizbüchern nicht. Für mich muss alles klar auf den Tisch, denn es geht um mich und ich will wissen, wo´s langgeht. Ich möchte nicht, dass mein Therapeut die Landkarte in der Hand hält und mir den Blick darauf versperrt. Ich möchte alles wissen und möchte in keinster Form entmündigt oder von Wissen ferngehalten werden, wo es um mich geht. Und klar muss ich wissen, was der Therapeut über mich denkt und welche Diagnose er über mich entwickelt, um sie annehmen oder verwerfen zu können. Ich mag kein Schattenboxen.

Es mag sein, dass andere das lieber nicht so genau wissen möchten, aber trotzdem ist es so, dass der Thera für sich eine Diagnose notiert, die an die Krankenkasse geht. Warum sollt ich weniger wissen als die Krankenkasse?

Wenn ich die Diagnose erfahre, kann ich sie ja auch relativieren mit Informationen, die der Therapeut nicht weiß, welche ich evtl. nicht für wichtig gehalten habe, aber durch die Diagnosestellung wesentliches Kriterium wird. So gesehen kann ich auch mitreden bei der Diagnosestellung. Sie kann auch relativiert werden, das höre ich immer wieder, z. B. bei unerkannten Autisten/Asperger, die ihrer Diagnose hartnäckig nachgingen. Auch meine erste Diagnose wurde relativiert, weil sie zu pauschal ausfiel. So konnte mein Leidensdruck lange Zeit nicht wirklich verstanden werden.

Die Frage ist wohl eher, inwiefern einem die Diagnosestellung nützt und inwiefern schadet. Wenn die Bilanz positiv ausfällt, lässt sich damit leben. Man muss ja seine Diagnose nicht überall herumerzählen.
Lieben Gruß
elana

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Wandelröschen
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Beitrag Mi., 17.04.2013, 00:20

Hallo viciente,
wahrscheinlich habe ich mich nicht so ganz klar ausgedrückt, warum (für mich) eine diagnose schon sehr wichtig ist. Elena schrieb einiges, was ich auch so sehe:
elana hat geschrieben:Für mich schließt das Wissen- und Verstehenwollen durch die Diagnosestellung nicht aus, dass ich selbst bestimme, ob und inwiefern ich mich verändern will. … Was ich nicht wiedererkenne, kann ich auch nicht integrieren. Das bleibt dann eben außen vor und unbearbeitet.
elana hat geschrieben:Trotzdem besteht für mich jetzt - im Gegensatz zu vorher, wo ich die Diagnose nicht kannte, die Möglichkeit, etwas zu ändern, wenn ich das will. Diese freie Wahl hatte ich vorher nicht, weil ich keine anderen Optionen kannte. Ich steckte zu sehr in meinen unbewussten Mustern drin. Jetzt aber erkenne ich sie und kann sie bewusst an meine Wünsche anpassen, die aber nicht unbedingt den Vorstellungen meines Theras entsprechen müssen
elana hat geschrieben:Für mich ist es fundamental wichtig, mich selbst zu verstehen, weil ich nur einen eingeschränkten Zugang zu meinen Gefühlen habe und wirklich nicht weiß, warum ich so ticke, wie ich ticke. Da brauche ich schon herangetragenes Wissen von außen, um aus meiner Betriebsblindheit rauszukommen. Ich verstehe jetzt auch schon viel mehr. Und das ist sehr befreiend.
viciente hat geschrieben:ja WR .. das gibt (gefühlte) "sicherheit" - von aussen; ich betrachte einiges dabei nur eben - ohne anspruch auf "wahrheit" einfach nur kritisch.

Ja, es stimmt, eine –gefühlte – Sicherheit brauche ich (absolute gibt es natürlich nicht), vor allem in der Therapie, um mich meinen Baustellen nähern zu können. Wenn die nicht da ist, wäre es leichtsinnig, sich den Baustellen zu nähern, einfach aus Angst, gewisse Situationen wieder zu erleben. Das hat aber vordergründig jetzt nichts mit dem Thema Diagnose zu tun.
viciente hat geschrieben: - und wenn sie nicht exakt stimmen sollten - was bei diesen themen sehr schnell passieren kann - dann kann das auch sehr schaden.

Ja, klar, das sehe ich auch so, kann wirklich schnell passieren. Auch, dass sich jemand in seiner Diagnose „suhlt“, darin wohl fühlt, damit alles erklärt („bin halt so“, kann nichts für mein Handeln), oder die Diagnose zur selbsterfüllenden Prophezeiung wird.
viciente hat geschrieben:ich seh eben den (therapie)schwerpunkt darin, selbst dabei schon möglichst unterstützend zu wirken .. selbstbestimmt die eigenen definition dafür zu finden wo man individuell und mit allen facetten steht, als in eine schublade vorgefertigter diagnosen gepresst zu werden, auf deren basis man dann "arbeitet".
Ja, dass sehe ich auch. Ich empfinde es aber als einen Unterschied, ob ein Thera sagt, „die haben xy“, so wie Deckel drauf, von außen; oder ob er sagt, „ich sehen bei Ihnen dieses oder jenes“, ist dann eher „Diskussionsgrundlage“. Aber: ich habe ja schließlich nicht Psychologie studiert, der Thera hat also ein Wissensvorsprung in diesem Gebiet. Und gerade wenn ich ja in diesem Punkt „Betriebsblind“ bin und keinen irgendwie gearteten Input von außen bekomme, wie soll ich dann bitte schön alleine auf irgendeine „Diagnose“ kommen?
viciente hat geschrieben: und insofern bin ich halt eher sehr bei deiner therapeutin, obwohl (oder eher sogar deshalb) sie es dir dadurch nicht "leicht" gemacht hat.
„Nicht leicht gemacht“ gemacht ist gut. Durch ihr Verhalten (keinerlei Infos mitzuteilen, nicht mal ansatzweise, auch auf konkrete Fragen keine Antworten zu bekommen) führte sie mir Täterverhalten vor, ich war sofort wieder in einer Schiene von damals: Auf meine Fragen bekam ich keine Antworten, hörte wieder „und wenn du schon nicht selbst darauf kommst, dann …“ -> Schuld lag bei mir; Tabuisierung.
viciente hat geschrieben:.. also nicht durch die (verallgemeinerte) diagnose die richtung vorgeben, sondern gemeinsam individuell abgestimmt erst auch die "richtung" erarbeiten.
Die Diagnose gibt nicht die Richtung vor, sondern den Startpunkt. Die Richtung ergibt sich durch Start- und Zieltpunkt (da, wo man hin will).
Und die Diagnose muss zusammen mit dem Thera geklärt werden und nicht so, dass er sagt, sie haben xy, Deckel drauf, ab in die Schublade. Meine Diagnose steht so auch nicht komplett im ICD10.

viciente hat geschrieben:ich freunde mich einfach nicht mit schubladendenken und einer art fremdbestimmtheit ab .. weil ich den wesentlichsten kern der unterstützung in der selbstfindung sehe, da ich allen u.a. zutraue grundsätzlich alles mitzuhaben, das sie für ihr leben brauchen.
Da sind wir uns durchaus einig.

Noch etwas ist mir wichtig zu sagen zum Thema Schublade. Bei mir kam an, dass du meintest, dass meine Thera mir damals nichts sagte, um mich selbst auf meine „Diagnose“ kommen zu lassen (was ich nicht konnte, z.B. mangels Wissen, Betriebsblindheit, …), um mich nicht in eine vorgefertigte Schublade zu stecken.
Wer sagt denn, dass die Thera mich nicht selbst in eine Schublade gesteckt hat??? Es war dann nur versteckt, hat sehr, sehr lange gedauert, bis mein Wissen erweitert war und meine Betriebsblindheit reduziert war, bis ich es selber erkannte. Machte dann Therapeutenwechsel nötig.
Gruß
Wandelröschen

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Wandelröschen
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Beitrag Mi., 17.04.2013, 00:32

viciente hat geschrieben:jemandem nicht einfach eine standardisierte diagnose hinzuklatschen halt ich für ganz was anderes als das machtgebaren der so genannten schriftgelehrten. .
Meine Ex-Thera gab mir ja keine Diagnose (klatschte mir also auch nichts hin), sondern sagte ja, sie gäbe den Patienten keine Diagnose, weil es einen Stempel aufdrücken würde und die meisten damit sowieso nicht klar kommen würden.
Aber genau das ist doch ein „Machtgebaren der Schriftgelehrten“. Sie entscheidet, was mir gut tut oder nicht. Sie entscheidet, ob sie mich aufklärt oder nicht. Und damit hält sie sich auch die Patienten auf Distanz, ja nicht auf Augenhöhe holen, er könnte ja durch „zu viel an Infos“ ihre Diagnose in Frage stellen.
Gruß
Wandelröschen

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viciente
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Beitrag Mi., 17.04.2013, 06:54

gummorgähn
.. und vielen dank auch für eure "geduld", denn jetzt glaub ich, das missverständnis klar zu sehen; hab wohl auch schon "schräg" gelesen - falsch interpretiert. eine (schubladen)diagnose "hinter dem rücken" .. vielleicht noch hinterm klienten vorbei an dritte, geheimnisvolles gekritzel, vertrauensbasis = null .. das geht GAR nicht .. seh ich genau so.
.. worums mir geht - und da scheinen wir ja ohnehin übereinzustimmen - ist die vermeidung von vorschnell und abgelöst erstellten diagnosen - vielleicht gleich nach 3 minuten noch mit gabe von psychopharmaka (wie in meinem ersten beitrag hier); da wärs besser, gar keine zu erstellen (von der administrativen seite wie kk mal abgesehen). die gemeinsame erarbeitung, adaptierung und anpassung hab ich sogar selbst schon - in anderen worten - erwähnt; diesen wissensvorsprung zu transportieren seh ich als wesentlichen teil der hilfestellung .. wenn auch nicht zwangsläufig jetzt nur unbedingt über eine formale diagnose, sondern im prozess.
.. ich selbst hab mich im lauf der zeit ganz generell von vorschnellen urteilen meinerseits so gut es geht gelöst - und bin noch immer dabei, weil ich die als ganz wesentlich störenden faktor in jeder art von beziehungen erkannt zu haben glaube .. u.a. als extrem verletzend und kontraproduktiv; tja .. und eine "diagnose" unter den von mir erwähnten ungünstigen umständen ist ja eben nix anderes als ein urteil .. eine abstempelung (die von euch erwähnten verheimlichungen ein sich über den klienten stellen, was ihn sich klein fühlen lässt) .. vor allem auch ausgehend von yamahas "einwand". daher dürft ich auf dinge die in diese richtung gehen (wie auch auf z.b. ungerechtigkeiten) so "empfindlich" re-agieren .. (das geht schon bis in meine jugend zurück, hab ich nie vertragen).
.. nachdem keine zwei menschen identisch sind geh ich davon aus, dass wir alle trotz teilweisen übereinstimmungen in mustern individuell gestrickt sind, unabhängig davon jedoch alle gleich - im sinne von "gleich viel wert".
hg & einen schönen tag!

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hawi
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Beitrag Mi., 17.04.2013, 07:54

Dass ohne Diagnose Therapie für mich nicht vorstellbar ist, völlig beliebig wäre, schrieb ich bereits.
Mir scheint das hier auch kaum bezweifelt zu werden.
Es geht um die Verlautbarung, Veröffentlichung, das Stellen der Diagnose vor allem gegenüber dem Diagnosegegenstand, besser dem Subjekt der Diagnose.

Ich selber habe viel zu wenig Kenntnisse, Erfahrungen in dem Bereich.
Das wenige an eigenem Einblick? Ein wenig Meinung habe ich. Schon die aber durchaus wenig gesichert. Danach scheint mir, es fehlt vielleicht manchmal seitens des Therapeuten, vor allem aber auch seitens der Diagnostizierten an differenzierter Sicht, auch an einer Sicht, die „auf dem Teppich bleibt“.

Es gibt so manche Faktoren, die eine verlautbarte Diagnose so betonen, dass ihr Stellenwert zu groß scheint, zu groß ist. Sogar dieser Thread? Drüber reden, schreiben ist ja völlig in Ordnung. Aber wenn die Art und Weise ergibt, dass das Stellen der Diagnose für den Betroffenen entweder was sehr gutes oder eher was ziemlich mieses ist, dann wird meiner Meinung nach Diagnosestellung nicht so diagnostiziert, wie ich es mir vorstelle, wünschen würde. Zu viel zugeschriebene Wirkung, sowohl zum Plus wie zum Minus. Es müsste so nicht sein. Hat mit der Diagnosestellung auch irgendwann nichts mehr zu tun. Ist das, was draus gemacht wird.

Das beginnt schon beim Inhalt so einer Diagnose. Vielleicht bezeichnend, dass der hier anscheinend so wichtig gar nicht ist. Wie lang oder kurz ist der Inhalt? Wie sieht er aus?
Wer erstellte ihn wie warum zu welchem Zweck? Wie sieht die Verlautbarung aus? Teilt sie nur kurz das Ergebnis mit oder mehr? Wurde mündlich und/oder schriftlich verlautbart?

Alles in einem Topf? Geht irgendwie nicht, finde ich!

Auch nicht der Vergleich einer möglich nur kurzen Symptomanalyse durch einen Psychiater im Vergleich zu einer Diagnosestellung als Therapiegrundlage.
Kurze Diagnosen können genauso gut oder schlecht wie lange sein. Verallgemeinern lässt sich da eher wenig, finde ich.

Ob es Therapeuten selber immer so sehen, so sehen müssen, können, sollen, weiß ich nicht, ich als Laie finde: Wenn Diagnosen Grundlage längerer Therapien sind, dann ist das Stellen, Verlautbaren der Diagnose bereits Teil der Therapie. Ob und wie die Diagnose gestellt wird, hängt für mich auch grad vom Diagnoseinhalt ab.
Was richtet die Diagnose an? Richtet sie überhaupt was an? Das muss, denke ich, ein Therapeut immer beachten, bei der Stellung berücksichtigen. Natürlich wird sich so was nur begrenzt vorausberechnen lassen. Aber ein Therapeut, der völlig unabhängig von der Diagnose einen Standard für alle Diagnosestellungen hat, der macht womöglich bereits da was verkehrt.

Und der, der so was bekommt? Er reagiert vielleicht, wohl auch deshalb so auf eine Diagnose, weil er als Person, Persönlichkeit gar nicht so viel Auswahl hat. Auch grad die Reaktionen auf Diagnosestellungen sagen wohl oft weniger zur Diagnose selber, sagen dafür mehr über die Person, die reagiert.
Ein weinig! Der Stellenwert sollte nicht zu groß werden. Jede Diagnose ist erst mal nur eine Momentaufnahme, etwas, das zwar auch morgen noch stimmen kann (wenn es denn heute überhaupt stimmt) aber nicht stimmen muss. Eher im Gegenteil.
Und wenn, dann sind auch nicht nur einzelne Schlagworte, z.B. die Überschriften von Diagnosen wichtig, sondern es sind alle Diagnosebestandteile, jeder Teil einzeln und alle Teile im Zusammenspiel.

Wer Diagnose als Etikett für sich nimmt, tut sich bestimmt keinen gefallen. Wer anderen so ein Etikett aufklebt, oder sie beim Etikettieren unterstützt, macht - denke ich - auch was verkehrt.

LG hawi
„Das Ärgerlichste in dieser Welt ist, daß die Dummen todsicher
und die Intelligenten voller Zweifel sind.“
Bertrand Russell

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