Akteneinsicht (Stasi) – ja oder nein?

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candle.
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Beitrag Do., 05.01.2012, 20:35

Das mit dem Verstehen und Verzeihen ist ja prinzipiell immer gleich. Um zu verstehen, mußt du wohl lesen... ähm ohne Informationen geht es eben nicht.

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Lilly111
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Beitrag Do., 05.01.2012, 20:46

Ja schon, aber allein vom Lesen verstehe ich noch nicht warum xy so gehandelt hat, wie er/sie gehandelt hat.
Das führt mich (immer wieder) zur Ausgangsfrage zurück: ob es überhaupt Sinn macht.
Weil, wenn ich es eh nicht verstehe, und erst recht nicht verzeihen kann, dann brauche ich mir den Stress auch nicht antun.

Ist der Klassiker...

Lilly
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candle.
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Beitrag Do., 05.01.2012, 20:52

Ja, ich wunderemich auch gerade warum du dich drum drehst. Ich weiß ja nicht, ob man sowas mit einem Therapeuten bearbeiten kann. Ich habe ja prinzipiell auch keine Infos warum man mit mir gemacht hat was man gemacht hat und verstehen werde ich es auch nie wirklich, aber vielleicht kommt es darauf auch gar nicht an, keine Ahnung.

Vielleicht mußt du nochmal schauen wie wichtig dir die Personen sind, die da negativ betroffen sind, ich weiß nun auch nicht wie ich das näher beschreiben soll. Es wird bei dir ein ganzer Wust aus Geheimniskrämerei sein und der wird es vermutlich auch bleiben, denn kaum jemand spricht gerne über seine Schuld, vielleicht muß man DAS verstehen? Keine Ahnung wie ich dir da weiterhelfen könnte.

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Blaubaum
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Beitrag Fr., 06.01.2012, 00:19

Lilly111 hat geschrieben: Wie viel da inzwischen u.U. „frisiert“ worden ist, weiß kein Mensch.
sicher weiss das jemand, nur die allermeisten eben nicht.
Gehörst du (auch) zu den "Verschwörungstheoretikern"?
ein begriff, der, ähnlich wie z.b. "gutmenschentum", zwei seiten hat. eine, wie ich finde, durchaus berechtigte (wenn überzeugungen oder vermutungen auf unlogischen oder wahnhaften prämissen beruhen), und eine, die als totschlag"argument" dienen kann und mit der andersdenkende oder kritisch hinterfragende herrlich in die doofmann-ecke gestellt werden können.
Aber mir fehlen manchmal tiefergehende Einblicke und Hintergrundinformationen
eben. deswegen können wir blinden oder halbsehenden eigentlich immer nur verschwörungstheoretiker sein.

wir studieren geschichte, politik, lesen den guten alten Macchiavelli, fragen uns wem nützt es?, und stochern trotzdem immer im nebel (oder doch nicht?).
jedenfalls immer noch besser, finde ich, als sich allzuleicht auf's (politische) glatteis führen zu lassen. das wäre (IST) die totsünde aller am politischen willensbildungsprozess beteiligten bürger und hat katastrophen aller art (nicht nur die hexenverbrennungen des mittelalters) überhaupt erst möglich gemacht.
genaugenommen könnte man jeden, der überhaupt an die existenz von geheimdiensten glaubt, als verschwörungstheoretiker (oder auch als an wahn leidender) bezeichnen. das liegt ganz einfach an der struktur der materie, um die es geht. es heisst ja nicht umsonst geheimdienst .
selbst ganz persönliche erfahrungen lassen sich mE auch von seiten her betrachten, die ganz andere schlüsse nahelegen als die, auf die man aus seinem alltagsdenken heraus kommt.
und so gibt es mäuse, die endlos in den irr-gängen herumlaufen, die man ihnen gebaut hat, und finden den ausgang nie, und es gibt ratten, die einfach ein loch in die wand des ganges bohren und tschüss! sagen.

das gilt für das denken ebenso wie für den umgang mit den immer gleichen (virtuos inszenierten) affekten. und psychologie ist halt leider nicht nur in der psychotherapie verwendbar, sondern ebenso grundbestandteil der werbeindustrie oder eben der politik. und wirklich jede wissenschaft kann zum guten wie auch zum schlechten verwendet werden (ausser vielleicht die wissenschaft, wie man leckeren kartoffelsalat macht ). deshalb bevorzuge ich es, verschwörungstheoretiker zu sein. die verschwörungspraxis überlasse ich gern anderen.
spezialisten wissen zuerst viel über wenig und am ende alles über nichts

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Lilly111
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Beitrag Sa., 07.01.2012, 19:00

Blaubaum hat geschrieben:
Gehörst du (auch) zu den "Verschwörungstheoretikern"?
ein begriff, der, ähnlich wie z.b. "gutmenschentum", zwei seiten hat. eine, wie ich finde, durchaus berechtigte (wenn überzeugungen oder vermutungen auf unlogischen oder wahnhaften prämissen beruhen), und eine, die als totschlag"argument" dienen kann und mit der andersdenkende oder kritisch hinterfragende herrlich in die doofmann-ecke gestellt werden können.
Ich erlebe häufiger die zweite Seite.
Das heißt dann wohl im Umkehrschluß, dass ich (zu) viele Menschen kenne, die gutgläubig oder blauäugig oder beides zusammen sind. Manchmal denke ich, es ist ein absichtliches Wegschauen, ein Augen verschließen vor ganz offensichtlichen Ungereimtheiten. Weil, beim Hinschauen könnte ja die schöne heile Welt einstürzen. (Nein, nicht die von Aldous Huxley. )

Ich bin nicht die Einzigste, die sich mit dieser Frage (Akteneinsicht - ja/nein) beschäftigt.
Akteneinsicht: Spätes Gift oder Balsam für die Seele?
Hildigund Neubert (Thüringer Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen) und Dr. Stefan Trobisch-Lütge (Diplom-Psychologe bei der Beratungsstelle "Gegenwind") über Beratung und Hilfe bei der schwierigen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
http://www.bstu.bund.de/SharedDocs/Vera ... nn=1704206
Quo Vadis?

Lilly
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Tante Käthe
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Beitrag Sa., 07.01.2012, 19:39

Lilly111 hat geschrieben:
Tante Käthe hat geschrieben:Und für mich stand fest, dass ich niemandem, wenn ich jemanden antreffe, den ich kenne, der mir nahe stand, etwas aus der damaligen Zeit übel nehmen wollte....
Solange ich nichts weiß, nehme ich auch Niemanden etwas übel.
Na ich wusste vorher auch nicht, das weiß niemand vorher, aber das war mein Plan vorher und den hielt ich ein
Es ist schwieriger eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom
(Albert Einstein)

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Blaubaum
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Beitrag Sa., 07.01.2012, 20:01

Lilly111 hat geschrieben:Quo Vadis?
also ich weiss es nicht. bin hin und her gerissen zwischen zwei meinungen: 1. der nachwelt (den kindern) zugänglich machen, wie es war (die diktatur), um sie dagegen zu immunisieren. frage: könnte es nicht sein, dass man sie damit erst infiziert?
2. die nachwelt den traum der heilen welt träumen lassen, weil ein konzept, das niemand kennt, später höchstwahrscheinlich nicht als handlungsalternative in frage kommt, es sei denn, die nachwelt erfindet es neu. frage: hält man die kinder damit nicht im zustand potentieller wehrlosigkeit gegenüber potentaten aller art, die es (so vorausgesetzt) eben immer geben wird.

für mich selbst kann ich diese frage beantworten: ich denke, es ist mir möglich, gleichzeitig 1. die welt und die menschen zu sehen, wie sie wirklich sind. zu sehen, wie aus einem unschuldigen baby ein massenmörder werden kann, und aus einem übeltäter ersten ranges wieder ein unschuldiges kind. und dass es letzten endes keinen unterschied zwischen beiden gibt. und 2. mir meine innere heile welt zu erhalten, die sich aus eben diesen erkenntnissen speist und ebenfalls nahrung aus dem erhält, was diesseitige das jenseits nennen.

ich habe heute mal wieder den ganzen tag lang eine so wunderbare erfahrung der mitmenschlichkeit, zärtlichkeit und empathie erfahren dürfen, dass ich im selben moment kaum glauben kann, zu was menschen auf der anderen seite fähig sind. und doch sind sie es...

bleibt die frage, die jeder für sich selbst beantworten muss (je nach persönlicher neigung), ob es den betreffenden weiter bringt, sich in erheblichem maße mit details des geschehens zu befassen, oder ob es besser ist, die struktur als ganzes intensiv wahrzunehmen. was bringt uns der wahrheit näher? oder was bringt uns dem ausgang aus dem irrgarten näher?
ich habe mich für die zweite variante entschieden. wenn ich hier stimmig wahrnehme, ergeben sich alle möglichen details (und es sind unzählig viele möglich) von selbst. alle "unter einem dach" (wobei dieses dach eben verdammt gross ist) .
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Lilly111
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Beitrag Sa., 14.01.2012, 22:28

Danke Blaubaum.
Ich denke man muss die Geschichte den nachfolgenden Generationen zugänglich machen. Nicht nur wegen der historisch sauberen Aufarbeitung. Sondern auch und vor allem um der seelischen Gesundheit willen.
Guckt man eine Generation (und eine Diktatur) weiter zurück, stellt sich doch die Frage: haben es unsere Eltern gut verkraftet, dass ihre Väter nicht über den Krieg gesprochen haben? Ich glaube eher nicht. Oder anders: eine aktive Aufarbeitung hätte ihnen sicherlich mehr geholfen als das Schweigen.
Das beantwortet noch nicht die Frage, ob jeder Einzelne sich zwingend mit Details der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen sollte. Das kann tatsächlich nur jeder für sich selbst klären.

Eine interessante Dissertation zum Thema...

"Auswirkungen politischer Verfolgung der SED-Diktatur auf die Zweite Generation"
http://www.diss.fu-berlin.de/diss/recei ... 0000021630

Lilly
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hawi
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Beitrag So., 15.01.2012, 09:01

Hallo Lilly!

Akteneinsicht (Stasi) – ja oder nein?

Ich hab jetzt nur den ersten und den neusten Beitrag von dir hier gelesen.
Grad den neusten find ich richtig und tendiere deshalb auch für mich dazu die Anfangsfrage mit Ja zu beantworten.

So schwierig das im einzelnen ist, Ziel, Überschrift, Blickwinkel auf „Akteneinsicht“ sollte, wie das Wort schon sagt, die eigene, individuelle Information sein.
Ob so eine Akte dann wirklich „neue Tatsachen“ liefert und wenn, was der einzelne dann für sich draus macht, das ist was ganz anderes.

Grad weil du selbst die Parallele zum Nationalsozialismus und dem langen Schweigen, Leugnen danach ziehst: Dass das niemandem bekommt, auch den Tätern nicht, davon bin ich ganz allgemein ziemlich überzeugt und individuell persönlich weiß ich es.
Ich bin Sohn eines Vaters, der im „dritten Reich“ überzeugter Nazi war, der zur SS gehörte, der am Krieg teilnahm, der aber später mir gegenüber sogar diese Grundfakten weitgehend nicht zugab. Seine Tätergeschichte kannte, kennt niemand aus dem Kreis, in dem er dann bis zu seinem Tod lebte.

Weil ich grad jetzt beim Schreiben mal wieder drüber nachdenke, vielleicht ist die Akteneinsicht selbst gar nicht das, was so bedeutsam ist. Für mich wird jedenfalls eher ein Schuh draus, wenn ich mir vorstelle, so was hätte es nach dem 2. Weltkrieg auch gegeben.
Vor allem auch, um es dem einzelnen, allen, nicht gar so leicht zu machen, zu verdrängen, zu beschönigen, zu verdrehen, zu lügen. Zum Teil wohl am Ende auch sich selbst (bis heute) zu belügen.

Ich bin jedenfalls ziemlich überzeugt davon, dass alle was davon haben, wenn grad Untaten, Verbrechen, Gräuel weitmöglichst offen ins Licht kommen statt im Dunkel versteckt zu bleiben. Dunkel macht all das ja nicht ungeschehen, grad das Versteckte führt oft, meist dazu, dass vermutet wird, dass Geschichten erdacht werden (müssen), die ….. jedenfalls nicht passen. Und jemand wie ich? Im Moment heute würde ich mir entsprechende Akten wohl nur ansehen, wenn ich einfach rankäme, wenn sie mir präsentiert würden.
Find mich dazu selbst etwas kindisch, bockig, stur. Aber …. Ich bin verletzt und nehme schon arg übel! Meinem Vater! Der weitgehend ein klasse Vater für mich war. Der es aber nicht hinkriegte, wenigstens mir, meiner Mutter gegenüber ehrlich zu sein.
Womöglich mach ihn so mehr zu einem flüchtigen Täter, Mörder, als es der Realität entspricht. Vielleicht ändert sich ja meine Sicht noch, aber meine „Vaterakte“ bleibt so quasi offen, unerledigt, es bleibt eine offene Schuld, bliebe wohl auch eine, wenn jetzt noch ne Akte käme.

Deshalb: „Akteneinsicht“?! Stasiarchiv! Für mich ein Baustein, um mit Geschehenem offener, ehrlicher umzugehen, einen Anlass, eine zusätzliche Möglichkeit zu haben, sich damit auseinanderzusetzen statt es unter den Teppich zu kehren, ständig den Unrat unter den Füßen zu haben.

LG hawi
„Das Ärgerlichste in dieser Welt ist, daß die Dummen todsicher
und die Intelligenten voller Zweifel sind.“
Bertrand Russell

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Lilly111
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Beitrag So., 15.01.2012, 10:53

Hallo hawi,

Danke für deinen Beitrag, aus dem ich ganz viel Verständnis für das Thema rauslese.

"Offene Schuld" - ja, das wird es wohl bleiben.
Bleibt trotzdem für Jeden die Frage welcher Weg der richtige ist, damit am besten umzugehen.
Jahrelang habe ich gedacht, gehofft, dass die Zeit die Wunden heilt. Verdrängung, Vergessen, im Hier und Jetzt leben und nicht in der Vergangenheit.

Als ich mir vor Jahren "Das Leben der Anderen" im Kino angesehen habe, wurde die eigene Vergangenheit sehr lebendig. So unangenehm lebendig, dass ich damals beschlossen habe, es wieder ganz weit von mir zu schieben. Ich habe zu Wendezeiten (also Jahre davor und einige danach) in genau so einer Wohnung gewohnt. Vierte Etage, darüber der Dachboden. Nach Jahren habe ich renoviert, die Tapete abgerissen und den darunter liegenden Klingeldraht gleich mit. Ich war bestimmt nicht so wichtig, dass sie mich abgehört haben, aber in dem Moment hatte ich es im wörtlichen Sinne in der Hand wie krank das ganze System war.

Es ist gar nicht so wichtig, ob oder wie viele neue Details möglicherweise durch die Akteneinsicht zu Tage kommen. Kleine, unwichtige Details genügen um alles an die Oberfläche zu schwemmen.

Ich wußte vorher, dass der Tag gestern schwierig werden würde. Dass es so schlimm kommt - Tränen ohne Ende - damit hatte ich nicht gerechnet. Aber es sollte wohl so sein. Für mich ist das ein Signal mir Hilfe zu suchen. Inzwischen gibt es spezielle Beratungsangebote und Selbsthilfegruppen. Ist ein Anfang, ein Begleiten, ein Aufgefangen werden.

O.g. Dissertation trägt den Untertitel "Überwachte Vergangenheit".
Treffender kann man es nicht ausdrücken.

Lilly
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Blaubaum
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Beitrag So., 15.01.2012, 19:47

ja, ich denke auch, wenn der stachel so tief sitzt, dass die gedanken an das, was war und an das, was gewesen sein könnte, verbunden mit den daraus entstehenden gefühlen und dissonanzen, zu einem bestimmenden lebensthema werden, dann ist eine akteneinsicht unter inkaufnahme einer gewissen retraumatisierung und unter fachpsychologischer begleitung sicher das beste, damit das thema bearbeitet werden kann und eines tages seine macht über den betreffenden verliert.
und für die täter gilt sicher eigentlich dasselbe. nur-diese werden es in aller regel wohl nicht so sehen und lieber alles vor anderen und vor dem eigenen erkenntnisfokus versteckt halten. und mit dieser haltung vergeben sie eine chance auf heilung.
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montagne
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Beitrag So., 15.01.2012, 20:07

@Lilly:
Vllt. kannst du es als Weg sehen?
Letzlich geht es doch darum sich und seine Geschichte kennen zu lernen. Das anzunehmen, was da ist und sich auseinanderzusetzen.

Mir hat es vor ein paar Jahren geholfen Akteneinsicht zu beantragen und Infos zu bekommen. Schon allein, dass die Sachbearbeiterin sehr nett war und meine Geschichte ernst genommen hat. Der Gang in das faktische Gebäude, die Schriftwechsel, das Prozedere, regt einen ja nochmal zur Auseinandersetzung und emotionalen Verarbeitung an.
Auch Verarbeitung der Unsicherheit. Bei mir war es so, das einiges geklärt werden konnte, anderes ist weiterhin unklar. Vllt. wird man die fehlenden Infos noch finden, vllt. nicht. Trotzdem konnte ich durch den Prozess irgendwo weiter kommen in der emotionalen bearbeitung dessen was war.

Die Sachbearbeiterin sagte mir auch, das definitiv Akten vernichtet wurden. Tendenziell zwar eher von gravierenden oder brisanten Fällen, aber auch unspektakuläre Akten wurden begonnen zu vernichten. 100% sicher wird man sich also nie sein können. Und dann ist der Erschließungsgrad ja auch nicht gerade hoch. Damals nannte mir die Sachbearbeiterin eine Zahl, will mich nicht festlegen, aber deutlich weniger als die Hälfte.
dh. die Wahrscheinlichkeit, das, wnen es eine Akte gibt, diese im unerschlossenen Teil ist und erstmal nicht gefunden wird ist höher, als das sie gefunden wird. Wenn nichts gefunden wird oder Hinweise auf mehr Material bestehen, das aber nicht gefunden wurde, kriegt man aber mitgeteilt, dass man in 2 jahren oder später nochmal einen Antrag stellen kann.
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Lilly111
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Beitrag So., 15.01.2012, 21:48

@Blaubaum
Danke für die einfühlsamen Worte.
Es wäre schön, wenn die Geschichte (im doppelten Wortsinn) irgendwann ihre Macht verliert. Die sie ja offenbar in meinem Leben immer noch hat. Auch um den Preis der Retraumatisierung. Genau davor bin ich sicherlich (teils unbewußt) auch geflüchtet. Aber jetzt ist der Anfang gemacht, ich weiß wo ich Hilfe erfahre, wo ich Verständnis finde, da traue ich mir den Blick in den Abgrund jetzt auch zu. Ohne die Angst über die Klippe zu stürzen und ins Bodenlose zu fallen.

@montagne
Danke auch an dich.
Ja, es ist ein Weg. So sehe ich es auch. Wie lang, kann niemand wissen und es ist eigentlich auch egal. Vielleicht ein lebenslanger. Wenn er ins Licht führt, soll es mir recht sein.


Ich hatte Anfang der 90er Jahre schon mal beantragt. Damals wurde keine Akte gefunden, also vernichtet oder noch nicht erschlossen. Nur diese Karteikarte und andere sichere Hinweise, dass eine Akte existent ist bzw. war. Das wusste ich allerdings auch schon vorher (ebenso die Sachbearbeiterin), weil ein enges Familienmitglied ausgereist war. Noch dazu unter besonders "staatsfeindlichen" Umständen. Damit war klar, dass der Rest der Familie unter ständiger Observation steht. Von wem genau und wie engmaschig weiß ich (noch) nicht. Aber die Tatsache als solches bezweifelt niemand, der auch nur etwas Einblick in das System des MfS hat.

Die Überwachung ist das eine, die "Sippenhaft" das andere. Diverse Schikanen und Nachteile im beruflichen und privaten Bereich. Teils ganz offen mit Hinweis auf den "Abtrünningen" in der Familie, teils unterschwellig, verdeckt.

Was vielleicht, wenn die Akte tatsächlich vernichtet ist, nicht mehr zu klären sein wird. Damit muss ich dann auch leben.

So schmerzhaft es gestern war, aber es tat auch gut, jemanden zu hören, der versteht und sich in dieses Thema einfühlen kann. Ein für mich wichtiger Punkt war die Aussage, dass man eben nicht alles pathologisieren und etikettieren sollte. (So wie: alle Ossis leiden unter Paranoia. o.ä)
Jeder ist durch seine Vergangenheit geprägt. Zweifellos. Aber niemand sucht sich die Welt aus, in die er hineingeboren wird.

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Beitrag So., 15.01.2012, 22:15

Nicht unbedingt paranoid.
Aber nach meiner Erfahrung wachsamer und bedachter damit wem was erzählt wird, was ja eben verständlich ist aus der Geschichte heraus. Ganz gleich ob es Bespitzung bei dieser Person gab oder ob sie es überhaupt vermutet. Allein das man sich eh schützen musste.
Das geht ja auch irgendwann in die kollektive Psyche über.
So schmerzhaft es gestern war, aber es tat auch gut, jemanden zu hören, der versteht
So ging es mir auch. und das setzt ja schon was in Gang.
Irgendwann habe ich gemerkt, es ist weniger wichtig ob und was da gefunden wird. Das wäre sicher gut, aber wirklich wichtig ist, das ich den Weg zu Ende gehe, um abschließen zu können. Also Antrag stellen, mich dem stellen usw.
Wenn ich getan habe, was mir möglich war, um die Ereignisse aufzuklären, dann reicht mir das, um damit abschießen zu können, egal was an Fakten zu Tage kommt.
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Lilly111
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Beitrag Mo., 23.01.2012, 18:23

Danke montagne.
Verständnis kann ich bei dem Thema gut gebrauchen.

Es gab in den letzten Tagen (auf mein Drängen hin) Gespräche in der Familie. Teils ist ja schon vor Jahren Akteneinsicht erfolgt. Was da jetzt an (für mich) neuen Informationen zu Tage kommt, führt zu neuen Ambivalenzen. Einerseits klärt sich einiges auf und macht Ereignisse verständlicher, und andererseits kocht - wie schon befürchtet - meine Wut hoch. Auf wen oder was kann ich mir aussuchen. Einzelne Beteiligte oder das ganze System.

Neben den neuen Infos werden auch wieder alte Erinnerungen wach, längst vergessen geglaubte kleine, unschöne Geschichten.

Kleine Schritte auf einem langen Weg....

Lilly
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