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Sa., 12.12.2015, 08:59
Landkärtchen, ich denke, dass Psychoanalytiker bestimmte Worte vielleicht anders verwenden, als "normale" Menschen oder z.B. Juristen das tun würden, wenn sie einen Sachverhalt erfassen und beurteilen wollen.
Analytiker gehen dabei vom Erleben des Patienten aus, nicht so sehr von objektiven Tatbeständen. Es geht also mehr darum, wie du dich gefühlt hast und nicht darum, ob die Argumenation xy habe dich "verraten", hieb- und stichfest ist. Das ist ein Unterschied, aber in diesem Fall, in der Therapie, geht es nur um dein Erleben und nicht darum, ob xy den Titel "Verräter" zu Recht trägt oder nicht. Wenn es sich für dich nicht so anfühlt wie ein Verrat und wenn du darüber nachdenkst und immer noch meinst, es sei kein Verrat, dann passte diese Deutung wohl nicht. Wenn du hier danach fragst (ohne genau zu beschreiben, was vorgefallen ist bzw. wie die Vorgeschichte war (womöglich war xy krank oder seinerseits überfordert (Männer regredieren oft in die Müdigkeit oder Krankheit, wenn Frauen sie mal WIRKLICH brauchen...)), ob es ein Verrat war, dann erinnert mich das an die Fragen: "Ist es ein Trauma? Ist es Missbrauch?" usw: Es ist letztlich egal, wie andere, unbeteiligte Menschen über einen Sachverhalt denken. Es ist immer nur ein Versuch, den Anderen zu verstehen Manchmal gelingt es besser und manchmal weniger gut.
Also, die "richtige" Frage wäre meiner Meinung nach nicht: "Ist es ein Verrat?", sondern eher: "Fühl(t)e ich mich verraten?" Dabei, so denke ich, wollte dir die Analytikerin helfen.
Ein Verrat - ohne das irgendwo nachgeschlagen zu haben - beinhaltet für mich immer auch eine emotionale Komponente bei dem, der verrät. Während ein Verlassen nichts aussagt über die Motivation des Verlassenden. Also, wenn du Schmerzen hast und xy dich verlässt, dann weiß man nicht, ob du ihm egal warst oder ob er schlicht dachte, etwas Anderes sei gerade wichtiger. Er hat dich einfach verlassen und ist weggegangen. Die Auswirkung für dich ist deshalb nicht weniger schlimm, natürlich. Ein Verraten würde m.E. beinhalten, dass der Andere damit einen eigenen Nachteil abwehren will oder einen eigenen Vorteil bekommen will. Es wird dabei also deutlich, dass ihm bewusst war, dass er dich verlassen würde mit seiner Tat - und er tat es trotzdem. Beim Verlassen ist nicht klar, ob ihm die Dramatik bewusst war.
OB das bei dir so war, weiß ich nicht. Kann dir aber sagen, dass Geburten für viele Frauen wirklich höchst dramatische Wendepunkte im Leben sind, die auch am "Partner" nicht spurlos vorbeigehen (wenn auch vielleicht aus anderen Gründen). Wenn also der "Partner" die Frau während der Geburt verlässt, ist das aus ihrer Sicht schlimm; aus seiner Sicht mag es wieder andere Gründe geben. Wichtig ist hier also nicht so sehr die Frage: "Was genau ist in beiden vorgegangen und wer hatte Recht?", sondern nur: "Wie hast du dich dmait gefühlt und was sagt das über die Beziehung zu xy aus?"