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Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 11:57
von leberblümchen
"Modeerscheinung" bewertet ja selbst - vielleicht wäre das Wort "kulturell bedingte Erscheinung" passender?
"Wir sollten auch nur die Stunden in Anspruch nehmen, die sie TATSÄCHLICH brauchen. Der Topf ist nicht voll genug für alle, und es gibt so viele Klienten denen es wesentlich schlechter geht als ihnen - auch wenn ich Leid nicht mit Leid aufwiegen möchte
Den ersten Satz finde ich super. Die folgenden haben damit aber nur scheinbar was zu tun. Ohne Kontext möchte ich an diesen Sätzen nicht rumdeuten, zumal du damit ja offenbar zufrieden warst.


In Bezug auf die Kategorisierungen ist es so:

Sie erhöhen die Unterschiede ZWISCHEN den Kategorien und mindern die Unterschied INNERHALB der Kategorien. Menschen, die sich mit einer Kategorie identifizieren, möchten, dass "ihre" Kategorie möglichst eng gefasst wird, um Andere dadurch auszuschließen. Fast schon logisch ist wohl, dass Menschen danach streben, möglichst zunächst in diejenigen Gruppen kategorisiert zu werden, denen man eher positive Eigenschaften zuweist.

Daraus ergibt sich, dass diese Kategorien nichts Natürliches sind, denn sie werden immer wieder - so auch z.B. hier - ausgehandelt.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 12:10
von Entknoten
leberblümchen hat geschrieben: Den ersten Satz finde ich super. Die folgenden haben damit aber nur scheinbar was zu tun. Ohne Kontext möchte ich an diesen Sätzen nicht rumdeuten, zumal du damit ja offenbar zufrieden warst.
Das ist kein O-Ton, das ist meine Zusammenfassung aus dem längeren Gespräch dass wir im Rahmen der Therapieplanung führten! Das ist das, was mir meiner Meinung nach zu verstehen gegeben hat, allerdings nicht mit genau diesen Worten. Aber unter´m Strich weiß ich was sie meint - und wie sie es meint!

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 12:11
von Vincent
leberblümchen hat geschrieben:"Modeerscheinung" bewertet ja selbst - vielleicht wäre das Wort "kulturell bedingte Erscheinung" passender?
Hier, in unserer Kultur/unserer Zivilisation, werden den Phänomenen bloß Namen gegeben: Diagnosen eben. Aber es ist überall nachzulesen, dass 'dissoziative Störungen' in sämtlichen Kulturen der Welt vorkommen, auch in denen, die nicht zivilisatorisch sind (z. B. indigene Völker).

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 12:15
von stern
Na ja, die Forderungen, die Kriterien enger zu fassen, hat damit zu tun, das Borderline wohl eine der heterogensten Störung ist. Ich finde auch: Dann lieber einen weiteren Stempel aufmachen, die in sich nicht (mehr) so heterogen sind. Das hat nichts mit Ausschluss zu tun ("du bist nicht gestört"), sondern damit, das klarer umrissen wird, was das Kästchen ist.
Neuere Langzeitkatamnesen,
welche die Stabilität der Borderline-
Merkmale untersuchten, unterstützen
die Auffassung der Heterogenität der
Merkmale im Hinblick auf ihre zeitliche
Konstanz (vgl. Fonagy u. Luyten 2011).
Ein weiteres Problem, das an der Homogenität
der Borderline-Diagnose zweifeln lässt,
sind die hohen Komorbiditäten. Häufig weisen
Borderline-Patienten vier Diagnosen
und mehr auf,...
https://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q= ... wQ&cad=rja
Und es ist logisch: Je heterogener, desto mehr kann man darunter packen... wird dann schon passen.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 12:16
von leberblümchen
Stimmt, Vincent, so eng gefasst meinte ich das nicht. Aber es sind nicht alle Erscheinungen überall und zu allen Zeiten identisch - und sie werden auch nicht identisch bewertet. So werden Begriffe neu eingeführt, dann enger oder weiter gefasst und schließlich verworfen usw.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 12:33
von Vincent
leberblümchen hat geschrieben:Stimmt, Vincent, so eng gefasst meinte ich das nicht. Aber es sind nicht alle Erscheinungen überall und zu allen Zeiten identisch - und sie werden auch nicht identisch bewertet. So werden Begriffe neu eingeführt, dann enger oder weiter gefasst und schließlich verworfen usw.
Ja, klar.
Ich wollte nur anmerken, dass Gewalt und sex. Missbrauch (auch schon an Kindern und Jugendlichen) als Ursache von 'dissoziativen Störungen' in manchen indigenen Kulturen sogar traditionell und rituell verankert sind. Freilich werden bestimmte Handlungen dort nicht als Gewalt oder Missbrauch begriffen. Dennoch sind die Folgen auch dort (nachgewiesenermaßen) 'traumatisch'.

Borderline und DIS z. B. gibt es also als Symptomatik auch dort, wenngleich ihnen westliche Diagnosen fremd sind.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 12:35
von ziegenkind
sprechen UND wahrnehmen kommt nicht ohne kategorisierung aus. nie. in keiner einzigen lebenssituation.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 12:45
von Widow
ziegenkind hat geschrieben:sprechen UND wahrnehmen kommt nicht ohne kategorisierung aus. nie. in keiner einzigen lebenssituation.
Das heißt aber nicht, dass man sich nicht immer wieder einmal über die diesen Kategorisierungen inhärenten Wertungen verständigen sowie sich ihre historische Wandelbarkeit in Erinnerung rufen sollte ... Klartext: Genau so ein Bewusstsein, das immer wieder bewusst gemacht werden muss, um erhalten zu bleiben, ist erforderlich, um mit Kategorisierungen arbeiten zu können.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 12:48
von stern
Ich glaube auch nicht, dass sich im Zeitverlauf die Erscheinungsformen so sehr geändert haben (wenn überhaupt). Man nannte bzw. kategorisierte es höchstens anderes. Anstelle von PT gab es eben Exorzismus, wenn jemand "besessen" war. Oder was heute dissoziative Störungen sind, war lange Zeit Hysterie, usw. Häufigkeiten... schwer zu sagen, den "traumatische Lebensbedingungen" gab es zu allen Zeiten, eher noch häufiger als heutzutage.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 12:50
von ziegenkind
das zauberwort ist, denke ich, kontingenz- und kontextbewusstsein. kategorien sind wandelbar, historisch und geographisch, dasselbe phänomen kann je nach kontext anders kategorisiert werden. eigentlich alles ganz einfach.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 13:14
von Vincent
stern hat geschrieben: schwer zu sagen, den "traumatische Lebensbedingungen" gab es zu allen Zeiten, eher noch häufiger als heutzutage.
Ein gewaltsamer Übergriff auf Leben und Gesundheit war wohl zu allen Zeiten immer schon dasselbe. Ebenso die 'traumatischen' Auswirkungen, die solche Übergriffe völlig kulturunabhängig wohl immer schon nach sich zogen.

Was damals (und mancherorts auch heute noch!) schlicht als (dämonische) Besessenheit galt und z. B. zu Hexenverbrennungen führte, ist inzwischen ein klinisch fein ausdifferenziertes "F ... soundso".

Gott sei dank sind wir da heute wesentlich fortschrittlicher.

(Die vermeintlichen Hexen von einst waren sicherlich 'so drauf', wie man es heutzutage z. B. 'Borderlinerinnen' bzw. Patientinnen mit dissoziativen Phänomenen zuschreiben würde.)

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 13:22
von leberblümchen
Stern, zu den traumatisierenden Lebensbedingungen:

Das ist spannend (finde ich): Denn auch da gilt, was ich sagte: Nicht jedes Ereignis, das objektiv dasselbe zu sein scheint, wird auch überall und zu allen Zeiten gleichermaßen (= als traumatisierend) bewertet: Gerade neulich sah ich in einer Doku über ein peruanisches Dorf, wie selbstverständlich die Bewohner mit dem Tod umgehen und ihn als etwas annehmen, was zwar traurig ist, was aber niemanden aus der Bahn werfen darf: Eine Mtter berichtete, dass von ihren zehn Kindern fünf im frühen Kindesalter verstarben. Der Tod gehört dort zum Leben - wie hier natürlich auch; aber dort wird er wohl tendenziell eher ins Leben integriert. Die interviewten Leute sagen: "Der Tod ist Teil unseres Alltags".

Das kann man nicht bewerten, von wegen: "Siehste, die stellen sich nicht so an" - es ist eben von vielen Faktoren abhängig, wie etwas wirkt - und auch, wie es bezeichnet wird.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 13:42
von Broken Wing
Interessant der Geschlechterunterschied. Männer sind bekanntlich nicht weniger Gewalt ausgesetzt.
Dennoch leiden mehr Frauen an traumatischen Symptomen als Männer.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 13:57
von stern
Ich würde sagen, ob etwas traumatisch ist, hängt weniger von der Bewertung ab, sondern mehr vom Erleben (also den Folgen). Und das hängt nicht 1:1 vom Ereignis ab, sondern darauf hat vieles Einfluss (also auch die Resilienz, Beziehungsangebote, usw.) Und zur Traumastörung wird es ja auch erst dann mit Chronifzierung (also anders wie bei einer Depression, die man bereits nach wenigen Wochen feststellen kann... theoretisch... i.d.R. dürfte auch hier der Arztbesuch ziemlich lange hinausgezögert werden).

Und zu sagen, das darf niemanden aus der Bahn werfen, dürfte das Leid nicht mindern.... so zumindest meine Vorstellung. So Aussagen wie "man darf nicht alles zum Problem machen und kann nicht wegen jeder Kleinigkeit zum PT gehen" gibt es ja auch hier (z.B. bei älteren Generationen). Nur fürchte ich, einen ernsthafte Störung verschwindet so nicht... sondern vielleicht eher im Gegenteil: Sie wird an nachfolgende Generationen auch noch weiter gegeben. Damit habe ich mich zwar nicht sonderlich befasst, aber es wird ja für möglich gehalten. Nun, manchmal legt es sich mit der Zeit. Trauer/Tod... das wirft nicht jeden dauerhaft aus der Bahn... manche Menschen aber schon... und ich bezweifele, dass dann hilft, wenn man sagt: das darf niemanden aus der Bahn werfen. Die Gemeinschaft ist aber sicherlich etwas, dass man eher als hilfreich ansehen dürfte.

Re: Diagnosen

Verfasst: Di., 06.10.2015, 14:06
von leberblümchen
Konkret in dem peruanischen Dorf darf das die Familie deswegen nicht aus der Bahn werfen, weil da sonst keiner ist, der das Überleben sichert. Da sind weitere Kleinkinder und die zu versorgende Tierherde; oft ist sogar der Partner verstorben - und wenn man dann nicht den Tod in das Leben integrieren kann, dann hat man ein existenzielles Problem.

Das heißt nicht, dass die Leute damit glücklich sind; sie können es sich nur nicht leisten (im wahrsten Wortsinn), sich damit aus der Bahn werfen zu lassen. Insofern wird es diese Kategorie "traumatisierendes Ereignis" in dieser Form in diesem Dorf so nicht geben. Weil diese Kategorie keine Konsequenzen hätte, sie also nicht "hilfreich" ist.

Noch mal: Es geht nicht darum zu propagieren, dass wir uns hier alle mal zusammenreißen müssen, sondern nur darum, dass Bezeichnungen nichts Natürliches sind, sondern dass sie einen Sinn haben. Es geht um die Bezeichnungen, nicht um das Erleben selbst.

(Mein PC macht sich selbständig: Gestern hat "er" sich für einen unsinnigen Beitrag bedankt und eben hat er lauter Smileys gesetzt; wahrscheinlich Tourette... )