Diagnosen

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.

Jenny Doe
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Beitrag Di., 06.10.2015, 08:31

@ leberblümchen
Womit alles beim alten bleibt.
Ich denke, dass es egal wäre, wie mans macht, alles was man macht ist für irgendwen richtig und für irgendwen falsch.
Verwendet man Diagnosen, dann verspüren die einen Erleichterung und Beruhigung, empfinden es als "endlich weiß ich was ich habe", ... während die anderen sagen "Stigmatisierung", "Schubladendenken", "Krankmacher", "Manipulation", ...
Würde man auf Diagnosen verzichten, dann würden die einen darunter leider, dass ihnen nicht gesagt wird, worauf ihre Symptome hindeuten, welche Störung sie haben, ... die anderen würden sich freuen, endlich nicht mehr in Schubladen geschoben zu werden. Und Therapeuten stünden vor dem Problem, dass sie nicht wissen würden, wie sie den Klienten therapieren sollen, weil sie nur die Symptome kennen würden, aber nicht wissen würden, welche Störung vorliegt. Ist in der Medizin ja nicht anders. Wenn ich mir die Seele aus dem Leib kotze, dann kanns dafür ja viele Ursachen und Erklärungen geben. Eine richtige Behandlung kann nur dann erfolgen, wenn man die Diagnose kennt, also weiß, ob ich Magenkrebs habe oder was Falsches gegessen habe, ... Ohne richtige Diagnose kann keine richtige Behandlung erfolgen.

In dieser Diagnosen-Problematik gibts dann noch die Besonderheiten: Klienten, die sich mit ihren Diagnosen identifizieren, Klienten, die sich durch Diagnosen was einreden lassen, Klienten, die durch Diagnosen einen sekundären Krankheitsgewinn haben, Klienten, die sich freuen, was Besonderes zu sein, Klienten, die aufgrund der Diagnosen Stigmatisierungen erfahren, Klienten, die durch Diagnosen Schaden erleiden, Klienten, die falsche Diagnosen kriegen, ....
Aber all diese "Besonderheiten" sind indiviudelle Probleme, die man - meiner Meinung nach - unabhängig von der Frage "Diagnosen abschaffen oder nicht" betrachten muss.
Anstatt zu fordern, Diagnosen abzuschaffen, würde ich eher fragen "Wie kann man mit den möglichen Problemen einer Diagnose umgehen?". Ein Therapeut könnte eine Zweitmeinung einholen, dann wäre die Gefahr der Fehldiagnose minimiert. Ein Therapeut könnte die Familienmitglieder zur Therapie einladen und ihnen erklären, wie sie am besten mit dem Klienten umgehen sollen, damit kein sekundärer Krankheitsgewinn entsteht. Therapeuten könnten es zum Gegenstand der Therapie machen, warum sich der Klient in seiner Störung häuslich eingerichtet hat. Usw. usw. Für alle Probleme, die durch Diagnosen entstehen, gäbe es mögliche Lösungen.
Lerne aus der Vergangenheit, aber mache sie nicht zu deinem Leben. Wut festhalten ist wie Gift trinken und darauf warten, dass der Andere stirbt. Das Gegenstück zum äußeren Lärm ist der innere Lärm des Denkens.

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stern
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Beitrag Di., 06.10.2015, 08:33

leberblümchen hat geschrieben:Ich wüsste nicht, in welche Selbsthilfegruppe ich gehen könnte: Den Angsterkrankten würde ich noch mehr Angst einjagen; den Schizoiden würde ich ständig erklären wollen, was sie besser machen könnten; die Depressiven würde ich auch nicht verstehen. Dabei weiß ich, dass ich von allem etwas in mir habe. Aber nichts passt halt richtig. Wie das überhaupt mit der Identität bei mir ist. Aber nein, Borderline passt auch nicht. Ich bin keine "richtige" Frau und kein Mann. Irgendwie überträgt sich das Wissen um das Nichtwissen auch auf die Frage nach einer eventuell passenden Diagnose, und es macht wirklich ruhig. Ich sehe mich irgendwie außen.
Das ist bei mir auch so, dass es nicht DIE Diagnose gibt, von der ich behaupten könnte, DIE ist es und damit ist alles abgedeckt. Sondern ohne die Diagnose zu haben, kann ich bei manchem sagen: Ein bisschen passt das auf mich auch. Insofern würde mir "offiziell" (für die Kasse) tatsächlich eine Diagnose langen, die nicht aus de Luft gegriffen, sondern irgendeine Schwierigkeit aufgreift - sofern sorgfältig abgeklärt und klar ist, was meine Störung ist. Man braucht ja nicht unbedingt die Benennung der Diagnose, um zu sagen, was fehlt... wichtig ist, dass der Behandler etwas damit anfangen kann (sowohl Körperärzte als auch Seelenklempner)... und nicht ein Beinbruch für ein Raucherbein gehalten wird.

Bei dem, was ich oben erwähnt hatte, war es hingegen durchaus so, dass ich fand, dass das, was ich dann dazu gelesen habe, wie die Faust aufs Auge passte... fühlte mich dann sozusagen etwas verstanden. Vorher schlägt man sich damit herum (hehe, genau genommen stellte auch ein Hausarzt mal eine Fehldiagnose, die aber zumindest in die Richtung ging, die ich aber damals nicht annehmen konnte ohne weitere Erklärung)... wäre das vielmehr eher klar gewesen, was Sache ist, hätte ich ganz anders ansetzen könnte. Und daher würde ich sagen: Im Optimalfall ist der Unterschied zwischen Diagnose und Störung eben nicht so groß... sondern die Diagnose soll ja einigermaßen die Störung charakterisieren. Im Fall von Fehldiagnosen oder unpassenden Diagnosen ist die Diskrepanz umso größer. Und selbst wenn ein Diagnose nicht so passt, gibt es ja oft die Kategorie Sonstige-Irgendetwas.
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leberblümchen
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Beitrag Di., 06.10.2015, 08:47

Jenny, Diagnosen abzuschaffen, ist tatsächlich erst mal nur eine extreme Phantasie dessen, was ich sagen will. Der Arzt / Therapeut braucht die Diagnose, um effizienter (juchu!) arbeiten zu können. Ob der Patient die Diagnose braucht, ist schon eine andere Frage, weil eben klar ist, dass diese Zuschreibung was mit ihm macht. Hier möchte ich dir auch klar widersprechen: Ich halte das keinesfalls für ein individuelles Thema, das nur Einzelne betreffen würde! Die Diagnose macht immer was mit einem - wobei das auch positive Auswirkungen haben kann, natürlich. Mir geht's erst mal nur darum, dass wir (alle / man / die Patienten usw.) erkennen, DASS Diagnosen keine Beschreibungen sind, sondern dass sie den MENSCHEN zum PATIENTEN und damit zum Vertreter eines Störungsbildes machen. Vielleicht kann man daran auch gar nichts ändern. Aber es abzustreiten, halte ich für wenig hilfreich. Und im Extremfall wirkt es sich ungünstig auf den Patienten aus (wenn er stigmatisiert wird oder die Behandlung stagniert).

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stern
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Beitrag Di., 06.10.2015, 08:51

leberblümchen hat geschrieben:Mein Fazit für diesen Thread lautet also: Es gibt beruhigende und beunruhigende psychische Diagnosen.
Körperlich aber doch auch... ein Schnupfen beunruhigt mich weniger als meinetwegen eine Diagnose einer aus heutiger Sicht unheilbaren Krankheit.

Beruhigend fand ich eine Diagnose noch nie... höchstens wenn das, worunter man eh leidet, auch einen Namen bekommen hat und dann auch eine gezielten Behandlung zugänglich ist. Auch körperlich ist es kein Spaß, wenn jemand z.B. mit unklaren körperlichen Schmerzen von Arzt zu Arzt wandert.

Und Stichwort Krankheitsgewinn...:
Warum sollte also nicht auch der Kranke selbst aus seinem Leiden Nutzen ziehen? Manche Kranken tun dies und sogar mit Stolz, etwa indem sie ein Buch über ihren Umgang mit der Krankheit schreiben (Beispiel „Wie ich meinen Krebs besiegte“). Psychotherapeutisch Tätige ermutigen in diesem Sinne sogar häufig ihre Patienten, die jeweilige Krankheit regelrecht zu „nutzen“ (der psychologische Fachausdruck heißt „Utilisieren“). Sie leiten die Kranken etwa an, aus ihrer Krankheit wichtige Lehren zu ziehen oder Krankheitssymptome als Warnsignale vor noch Schlimmerem zu verstehen (Beispiel: „Wenn ich mich weiter diesem Stress aussetze, droht mir wieder ein Hörsturz“). Bewusst angestrebter „Krankheitsgewinn“ hat mitunter sogar einen heilenden Effekt: Denn wer seine Krankheit nutzt, wird aktiv. Man verlässt also zumindest teilweise die „Opferrolle“. Künftig ist es dann nicht mehr nur die Krankheit, die mit dem Kranken etwas macht. Ab jetzt kann auch der Kranke aus oder mit der Krankheit etwas machen. Und die damit verbundenen Gefühle (etwas bewirken zu können, dem Schicksal nicht nur ausgeliefert zu sein) haben zweifellos eine gesundheitsfördernde Kraft.

Letztendlich „problematisch“ sind somit wohl nur solche Situationen, in denen ein Kranker sein Leiden in erkennbarer und gezielter Weise für Zwecke benutzt, die krankheitsfern erscheinen. Die „Helfer“ des Kranken haben dann rasch das Gefühl „missbraucht“ oder „manipuliert“ zu werden, was bei vielen über kurz oder lang Ärger und Ablehnung des Kranken hervorruft. Beispiele hierfür sind Patienten, die sich mehr bedienen lassen, als es ihr Zustand zu erfordern scheint, oder Patienten, die sich weiterhin krank schreiben lassen, obwohl sie gleichzeitig erstaunlich normal am Alltag teilnehmen.
http://www.dr-mueck.de/HM_FAQ/sekundaer ... gewinn.htm
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Beitrag Di., 06.10.2015, 08:56

Die beste Lösung aus diesem Dilemma wäre es, den Kranken zu einem Verständnis seiner ihm noch verborgenen Probleme und Bedürfnisse zu verhelfen, die bislang durch „sekundären Krankheitsgewinn“ bedient werden mussten. Im Weiteren gilt es, sie in die Lage zu versetzen, sich auf direkterem Weg für eine Lösung und Befriedigung dieser Probleme und Bedürfnisse einzusetzen. Der Umweg über Krankheiten, Schmerzen oder andere Symptome wäre fortan entbehrlich.

Wer schnell den Verdacht hegt, ein Kranker würde sich einen „sekundären Krankheitsgewinn“ verschaffen, sollte sich immer fragen, ob er dem Kranken diesen Gewinn nicht neidet. Möglicherweise wird das Thema „sekundärer Krankheitsgewinn“ von solchen Personen besonders heftig und scharf diskutiert, die sich selbst einen „sekundären Krankheitsgewinn“ nie zugestehen würden (obwohl sie ihn eigentlich besonders nötig hätten).
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leberblümchen
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Beitrag Di., 06.10.2015, 09:00

Körperlich aber doch auch... ein Schnupfen beunruhigt mich weniger als meinetwegen eine Diagnose einer aus heutiger Sicht unheilbaren Krankheit.
Menno! Ich meine nicht, dass es harmlose und ernste Krankheiten gibt. Sondern dass die Bezeichnung "Störung Alpha" als beruhigender empfunden wird als "Störug Beta" - und das, das ist der springende Punkt, obwohl der Mensch, der Beschwerden xy hat, diese Beschwerden schon vor der Diagnose hatte. Es dürfte ihm - sollte es sich um reine Beschreibungen handeln - also nicht besser gehen, wenn er das Wort "Alpha" hört. Wir haben hier aber nicht gelesen: "Nach der Therapie ging es mir besser", sondern: "Nach der Zuschreibung ging es mir besser".

Natürlich hängt das AUCH mit der Prognose zusammen - nur ist die halt bei psychischen Störungen nicht wirklich zuverlässig. Und die Frage ist tatsächlich, ob die Aussicht, dass die Störung als weniger gravierend eingestuft wird, als so positiv empfunden wird... Ich hab dazu gestern einen alten Faden hier gefunden, in dem eine Patientin fragt: "Nimmt mich der Therpaeut nicht ernst? Ich fühle mich, als würde er mir etwas wegnehmen" - nur weil sie eine Diagnose erhielt, die nicht "hoffnungslos" erschien...


Jenny Doe
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Beitrag Di., 06.10.2015, 09:05

@ leberblümchen
sondern dass sie den MENSCHEN zum PATIENTEN und damit zum Vertreter eines Störungsbildes machen.
Machen Diagnosen einen Menschen zu einem Patienten oder nicht vielmehr die Symptome, unter denen der Mensch leidet und mit denen er zum Arzt/Therapeuten geht? Der Klient wird doch nicht erst dann zu einem kranken behandlungsbedürftigen Menschen, wenn er eine Diagnose hat. Er begibt sich doch in Therapie, eben weil er sich krank und behandlungsbedürftig fühlt und leidet. Selbst wenn ein Therapeut den Klienten ohne Diagnose behandeln würde, also sich nur auf die Symptome beschränken würde, so wäre der Klient auch dann Patient - und in diesem Fall "Vertreter eines Symptoms".
Grundsätzlich finde ich es nicht schlimm "Vertreter eines Störungsbildes" zu sein. Ich bin ja auch Vertreter des Störungsbildes "chronische Darmerkrankung". Das finde ich nicht schlimm, denn jeder Mensch kann krank werden und wird im Lauf seines Lebens krank und stirbt irgendwann daran. Das ist menschlich. Was ich eher beklagungswürdig ansehe ist, dass manche Störungen mit negativeren Etiketten versehen werden. Hier kann Aufklärung über die Störung Abhilfe leisten.
Bsp. Was die negativere Etikettierung mancher Störungen angeht, da bilde ich keine Ausnahme. Ich dachte bis vor einer Woche z.B. Borderliner seien vor Gericht schlechte Zeugen, wegen ihrer Problematik Fantasie von Realität zu trennen, wegen ihren Manipulationen, ... Doch dann las ich das Buch "Nichts als die Wahrheit? Warum jeder unschuldig verurteilt werden kann" von Steller und wurde durch dieses Buch eines Besseren belehrt. Steller räumt mit Mythen über Borderliner auf. Durch diese Aufklärung hat sich meine Einstellung Borderliner positiver verändert.
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Beitrag Di., 06.10.2015, 09:08

leberblümchen hat geschrieben:Mir geht's erst mal nur darum, dass wir (alle / man / die Patienten usw.) erkennen, DASS Diagnosen keine Beschreibungen sind, sondern dass sie den MENSCHEN zum PATIENTEN und damit zum Vertreter eines Störungsbildes machen.
Aber du weiß doch nicht, wie alle Menschen Diagnosen wahrnehmen... für viele ist es vielleicht doch "nur" eine Beschreibung ihrer Schwierigkeiten, die sie vielleicht nicht einmal mit sich als Person in Verbindung bringen (Stichwort: ich-synton, ich-dyston).
Menno! Ich meine nicht, dass es harmlose und ernste Krankheiten gibt. Sondern dass die Bezeichnung "Störung Alpha" als beruhigender empfunden wird als "Störug Beta" - und das, das ist der springende Punkt, obwohl der Mensch, der Beschwerden xy hat, diese Beschwerden schon vor der Diagnose hatte.
Und das wäre wohl ein völlig realitätsferner Versuch Empfindungen normieren zu wollen... dass die Kenntnis einer Diagnose auch negative Effekte haben kann (nocebo) ist schon klar, aber das muss ja nicht so sein. Nur wenn man das befürchtet sollte man sich vielleicht mit seinem Behandler verständigen, dass die Diagnose nicht mitgeteilt wird. Hellsehen kann ja der Arzt auch nicht, wie etwas auf den Patienten wirkt - offiziell ist er sogar zur Mitteilung VERPFLICHTET (und meine Behandler nahmen das offensichtlich auch ernst... klärt er nicht auf, nimmt er aus Haftungssicht evtl. sogar erhebliche Risiken in Kauf).. aber evtl. kann man das etwas individuell handhaben. So war es mir auch schon mal lieber, über eine obligatorische Aufklärung etwas zu huschen (Komplettverzicht ging nicht).
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leberblümchen
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Beitrag Di., 06.10.2015, 09:10

Jenny: Naja, natürlich ist der Patient vor der Diagnose kein unbeschriebenes Blatt. Aber gerade Diagnosen (wie auch andere Zuschreibungen und Kategorisierungen) bewirken, dass der Betroffene sich damit identifiziert und sich entsprechend verhält. So, wie ein Junge sich "wie ein Junge" verhält, weil man ihm gesagt hat, dass er ein Junge ist. Das macht der Junge nicht aus Spaß und nicht absichtlich, sondern er macht das, weil er in einem Umfeld aufwächst, wo diese Kategorisierung wichtig ist. Dass der Junge bestimmte körperliche Merkmale aufweist, das ist so. Aber der ganze Rattenschwanz, der daraus folgt, ist nicht in diesen Merkmalen begründet, sondern darin, was man diesen Merkmalen zuschreibt.


Jenny Doe
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Beitrag Di., 06.10.2015, 09:18

@ leberblümchen
So, wie ein Junge sich "wie ein Junge" verhält, weil man ihm gesagt hat, dass er ein Junge ist. Das macht der Junge nicht aus Spaß und nicht absichtlich, sondern er macht das, weil er in einem Umfeld aufwächst, wo diese Kategorisierung wichtig ist.
Dann hat meine Mutter wohl vergessen mir zu sagen, dass ich ein Mädchen bin Ich habe mich noch nie mit meiner Weiblichkeit identifiziert und mich nur selten so verhalten, wie man sich als Frau zu verhalten hat. Will damit sagen: Diagnosen KÖNNEN etwas mit dem Klienten machen, Diagnosen KÖNNEN dazu führen, dass sich ein Klient damit identifiziert. Muss aber nicht zwangsläufig so sein. Wenn sich jemand mit seinem Störungsbild identifiziert, dann hat das ja auch etwas mit demenigen zu tun, der sich identifiziert. Ich denke, es wird einen Grund haben, warum sich die einen mit einer Störung identifizieren, die anderen nicht, so wie es einen Grund geben wird, warum es Menschen gibt, die sich nicht mit ihrem Geschlecht identifizieren. Ich wollte immer ein Neutrum sein; ich kann mich mit gar keinem Geschlecht wirklich identifizieren
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Lena
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Beitrag Di., 06.10.2015, 09:20

Wird es vielleicht auch dann schwierig, wenn man eine Diagnose bekommt, die zwar am Menschen an sich erstmal nichts ändert, aber die bekannt ist als "chronisch" oder vielleicht sogar "unheilbar"? Und dann gibt es Patienten die dadurch Hoffnung verlieren bzw. den Glauben daran, dass es noch mal anders wird. Und welche, die sich nicht damit zufrieden geben und sagen "jetzt erst recht".
Ich werde zum Beispiel wütend, wenn ich Leute treffe (in Kliniken schon erlebt), die zwar sichtbar Leidensdruck haben, aber gleichzeitig sagen "aber Borderline ist nicht heilbar. Ich bin eben oft aggressiv. Dafür kann ich nichts". So was macht mich wütend. Das ist für mich auch sekundärer Krankheitsgewinn.
Was würden die - als Beispiel für viele andere Diagnosen - machen, wenn plötzlich einer käme und sagen würde "die Forschung hat sich getäuscht, das ist sehr wohl heilbar und man kann sehr wohl daran arbeiten und Impulse steuern oder abschwächen".
Ich nehme mich da selbst nicht aus. Auch für mich hatte eine Diagnose schon mal Entschuldigungscharakter im Sinne von "dafür übernehme ich keine Verantwortung, das ist ja meine Krankheit".

Ich glaube, dass es nicht so sehr das Problem ist, welche Diagnose jemand bekommt, warum er sie bekommt etc. - sondern wie der Mensch selbst damit umgeht und was er daraus macht.

(Gibt ja auch organisch schwer kranke Menschen, die entgegen jeder Prognose den Mut nicht verlieren. Und sich sagen "jetzt erst recht". Und welche, die sagen, es ist eh aussichtslos, was soll ich also noch kämpfen). Wenn man sich leicht von äußeren Meinungen / Ansichten abhängig macht und davon beeinflussen lässt, dann wird man natürlich auch größere Probleme bekommen, wenn das "Problem" einen Namen bekommt, der bestimmte statistische Werte mit sich bringt oder Erfahrungen oder Klischees.

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stern
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Beitrag Di., 06.10.2015, 09:21

leberblümchen hat geschrieben:Sondern dass die Bezeichnung "Störung Alpha" als beruhigender empfunden wird als "Störug Beta" - und das, das ist der springende Punkt, obwohl der Mensch, der Beschwerden xy hat, diese Beschwerden schon vor der Diagnose hatte.
Ich glaube, im Thread wurde z.B. Borderline-kptbs als Beispiel diskutiert. Ich glaube, die kptbs ist offiziell noch gar nicht im ICD als F-Diagnose... aber ich finde, es spricht nichts dagegen, wenn der Therapeut von Traumafolgestörung spricht anstelle von borderline, wenn das für den Patienten bekömmlicher ist... das macht man beim Narzissten u.U.. auch, dass man nicht dauernd das Wort Störung in den Mund nimmt, wenn das als hochgradig kränkend empfunden wird... und beim Hypochonder ist es vielleicht auch nicht sinnvoll in epische Breite auszuführen, dass Symptome xy auch einen tödlichen Verlauf nehmen können, usw. Ändert aber nichts daran, dass eine Störung natürlich möglichst zutreffend erkannt und benannt werden sollte. Mehr geht doch nicht, wenn sich der Therapeut sogar etwas darauf einstellt, wie eine Diagnose möglicher auf den Patienten wirkt.
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ziegenkind
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Beitrag Di., 06.10.2015, 09:27

nur mal so zur info: manche störungen machen sich durch bestimmte lebensumstände/veränderungen/krisen etc. erst sehr spät bemerkbar.

ich habe meine probleme/sympthome vierzig jahre lang durch arbeiten wie verrückt, anerkennung kriegen usw. gut deckeln können). ich hab die diagnose bekommen als der damm brach. mit der diagnose verband sich eine nüchterne prognose, dass da noch einiges auf mich zukommen werde. ein guter grund also nervös und auch fürchterlich verzagt zu werden, statt sich nun des lebens und der diagnose zu freuen. das war dann auch so. es kam vieles von dem vorhergesagten. gott sei dank nicht alles. ich wurde nicht wirklich für lange zeit arbeitsunfähig. ich glaube übrigens auch mit blick auf das, was ich mir trotz diagnose und prognose an aufrechterhaltung von freiheitsspielraum erkämpft habe NICHT, dass das self fullfilling prophecy war. es war ein damm gebrochen, den ich errichtet hatte, um meine inneren monster in schach zu halten, dann sind die ein paar jahre lang vagabundiert, ich und die ziege habe viel zeit damit verbracht, sie - diesmal nicht wegzusperren - sondern handzahm zu machen und ihnen ein bisschen sanftheit einzupusten. sie sind immer noch da. aber wir haben ein gutes wg-klima. oft halten sich alle an die regel sich nicht wehzutun.

zu guterletzt: ich mach auch mal einen keil sichtbar. außer einer userin habe ich hier noch nie die unterscheidung zwischen guten, weil anerkennungsfähigen und schlechten, weil auf charakterliche defizite hinweisenden störungen/diagnosen gelesen. was widow formuliert ist etwas ganz anderes und in der tat sehr verbreitetes: die angst, ich stelle mich nur an, die anderen haben wenigstens einen grund. das kenne ich auch von mir. das lese ich bei ganz vielen leuten. das hat aber aus meiner perspektive nicht wirklich was mit gesellschaftlichen diskursen zu tun, sondern mit tiefer INNERER verunsicherung, mit mechanismen des sich selber fertig machens, die zu vielen störungen dazu gehören, mit Introjekten. woran man das aus meiner sicht gerade in den letzten tagen und wochen gut beobachten kann, ist. dass nicht nur sogar die, sondern v.a. die, die in lb augen so viel grund hätten, sich beruhigt zurückzulehnen, weil sie ein gesellschaftlich anerkanntes mehrfachtrauma haben, ganz besonders dazu neigen, sich die berechtigung auf Schlechtgehen, auf Therapie usw. abzusprechen,

was hier also über weite strecken geschieht, ist, dass jemand etwas auslagert und auf äußere bedingungen zurückführt, was er bei sich nicht aushält. da gibt es auch einen schönen fachterminus für und den gibt es deshalb, weil das ganz viele menschen immer wieder machen, der eine wegen der, die andere wegen jener sache. irgendwann kapiert man das dann schon. die eine früher, der andere später.

sorry, ist ein bisschen polemisch. aber da musste mal was raus.

ach so, ich habe übrigens eindeutig diagnostizierte (zu recht diagnostizierte ) oral-narzistische anteile UND ptbs. zu glauben, das eine schließe das andere aus, zeugt von herrlicher unkenntnis. denn ptbs alleine sagt ja nicht über die erscheinungsformen, die typischen störungsmuster, die bei traumatsierten extrem unterschiedlich sein können.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.


ziegenkind
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Beitrag Di., 06.10.2015, 09:29

mich hat übrigens niemand nach meiner diagnose kategorisiert und behandelt. mein umfeld nicht, weil es nichts davon wusste, meine therapeuten und ärzte nicht, weil sie gut waren.
Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs. Auf der Haut darf ich, wenn ich Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was ich spüren will. Mit dem ersten Schlag bricht dieses Weltvertrauen zusammen.


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Beitrag Di., 06.10.2015, 09:31

Ziegenkind, brauchst dich nicht zu entschulidgen - ich weiß ja, von wem es kommt...

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