Ist Psychotherapie eine Heilmethode? (aus: Emot.Entt.)

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DieNeugierde
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Beitrag Fr., 26.12.2008, 01:28

Gerade dieses "hineininterpretieren" halte ich z.B. bei Depressionen oder Angsterkrankungen für absolut "tödlich" für den Patienten. (...) Wenn ein Klient z.B. nur 5 ganz simple Dinge hat, die ihm ganz konkret weiterhelfen, ...
Ich finde, hier machst du es dir ein bisschen zu einfach. Der Mensch ist keine Maschine, die man aufschraubt, nachsieht, welches Kabel durchgerissen ist, ein neues anschließt und dann läuft er wieder. Insofern kann man für den Menschen wohl auch keine Bedienungsanleitung a la "Funktioniert die Produktion ihrer Glückshormone nur eingeschränkt, überprüfen Sie, ob ... ; kann der Fehler dadurch nicht behoben werden, dann ..." - das funktioniert nicht.
(wohlgemerkt: leider... so eine "nichts geht mehr - runterfahren und neustarten"-Pauschallösung wäre toll.)

Um aber wieder zurück zum Beispiel (ich bestimme jetzt einfach mal kurz, dass das Beispiel Depressionen sind zu kommen:
Weil ich kann nicht antreten mit dem Vorsatz, die Psyche zu heilen, ohne zu wissen, wie das eigentlich genau funktionieren soll.
[/quote]
Richtig. Aber wie ja in jedem Lehrbuch nachzulesen ist, sind Depressionen kein rein genetisches Problem. Man kann die Veranlagung für Depressionen erben - dass es aber wirklich dazu kommt, dass man depressiv wird, müssen die "Rahmenbedingungen" mitspielen - und die sind nunmal bei jedem Menschen anders.
Es gibt keinen Standardauslöser - um wieder den Vergleich zur Medizin zu machen: wenn du jemandem ein Messer in die Hand stichst, wird ihm das wehtun und er wird bluten. Das ist bei jedem Menschen gleich. So funktioniert das mit Depressionen aber nicht. Ein Mensch wird vielleicht depressiv, weil er eine schei*-Kindheit hatte... das bedeutet aber nicht, dass jeder Mensch, der eine schei*-Kindheit hatte, depressiv wird.

STOP! Ich komm hier vom 100. ins 1000. - sorry.
Um eine Depression zu behandeln, muss man den Auslöser herausfinden - und dieser Auslöser liegt nunmal in der Vergangenheit - und weil das immer noch zu einfach wäre, gibt es nicht EINEN Auslöser, sondern ein Zusammenspiel aus vielen Faktoren, die zusammen zu einer Depression führen.
Wie willst du an Hand des Wortes/der Diagnose "Depression" 5 Dinge festmachen, die bei jedem Menschen helfen, wenn du nicht weißt, WARUM es diesem Menschen so geht?
Und um mich vorab schonmal gegen das Argument "Psychopharmaka helfen ja auch bei ALLEN Menschen" zu wehren: ja, schon - aber sie heilen nicht das eigentliche Problem. Sie lindern die Symptome, aber die zaubern die Depression nicht weg. So wie Schmerzmittel nicht die Ursache des Schmerzes beheben, sondern lediglich den Schmerz lindern.

Und jetzt du!

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max35
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Beitrag Fr., 26.12.2008, 01:48

stern hat geschrieben: Auch ich muss mich wohl damit abfinden und es anzunehmen lernen (wobei das halbwegs geht), dass manche meiner Schwierigkeiten (allgemein formuliert) nicht in dem Sinne heilbar sind... d.h. nicht reversibel sind. Oder noch anders formuliert: Manches kann immer wieder passieren... noch eine lange (vielleicht lebenslange?) Zeit... mir wurde das auch begründet. Ich kann nur lernen, damit anders umzugehen, was auch etwas an "Leiden" mindern kann.
Ich weiß zwar nicht, um was es sich hier handelt, aber wenn es Angst ist:
Diesbezüglich erwähne ich gerne wieder jene Klientin, die jahrelang in Therapien war und sich mit ähnlichen Wortmeldungen konfrontiert sah.
Das Wort "austherapiert" steht oftmals auch mehr für die Unfähigkeit oder Hilflosigkeit der Therapeuten sich auf Kritik einzulassen oder Reflexion zu betreiben als für die Unfähigkeit des Klienten, Änderungen herbeizuführen.
Ich finde, hier ist es zweifelsohne besser, sich innerlich nicht damit abzufinden, als das Gesagte als Evangelium hinzunehmen, weil man davon ausgeht, daß die Leute wissen müssen, wovon sie reden.
Seine Probleme oder Ängste zu akzeptieren, ist sowieso Grundbaustein für einen Schritt nach vorne - und da ist es völlig unerheblich, ob diese in 10 oder 20 Jahren noch da sind oder nicht. Das ist reinste Kaffeesudleserei.
Wenn man sie z.B. nach 2 Jahren los ist, dann ist man sie auch nur deshalb los geworden, weil man in der Zeit davor unter anderem irgendwann gelernt hat, sie zu akzeptieren. Davon bin jedenfalls ich aufgrund meiner Erfahrungen fest überzeugt.

Ich habe bei Gott mit unzähligen Angstpatienten zu tun gehabt.
Aber ich kenne nicht einen einzigen, der nicht versucht hätte, irgendetwas zu verändern (und das schon lange vor einer Therapie) und meisten hätten sie sogar die kuriosesten Dinge mitgemacht, wenn sie erfolgsversprechend schienen.

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max35
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Beitrag Fr., 26.12.2008, 02:26

DieNeugierde hat geschrieben: Ich finde, hier machst du es dir ein bisschen zu einfach. Der Mensch ist keine Maschine, die man aufschraubt, nachsieht, welches Kabel durchgerissen ist
Sicher, da gebe ich Dir recht - diese Ansicht teile ich auch überhaupt nicht.
Was allerdings im Umkehrschluß nicht heißt, daß man nicht simple Methodik anwenden kann, die in vielen Fällen hilft.
Gerade die Verhaltenstherapie hat z.B. vielerorts auch den Ruf, daß sie den Menschen als Maschine sieht, denn man einfach nur umprogrammieren braucht.
Da sage ich ja z.B. auch ganz klar: So wird und kann es nicht funktionieren.
DieNeugierde hat geschrieben: Richtig. Aber wie ja in jedem Lehrbuch nachzulesen ist, sind Depressionen kein rein genetisches Problem. Man kann die Veranlagung für Depressionen erben - dass es aber wirklich dazu kommt, dass man depressiv wird, müssen die "Rahmenbedingungen" mitspielen - und die sind nunmal bei jedem Menschen anders.
Naja, ich denke, nach allem, was man weiß, kann man das so pauschal schwer sagen.
Viele Experten streiten sich bis heute darüber, was angeboren und was vererbt ist und speziell, was das Gehirn betrifft, wissen wir eigentlich noch sehr viele Dinge nicht (obwohl die PT eigentlich vielfach den Anspruch erhebt, es zu wissen, weil sonst könnte sie ja eben nicht heilen...)
Auch können zahlreiche körperliche Erkrankungen Depressionen mit sich bringen - hier wird man mit PT sowieso nicht weiterkommen (z.B. Parkinson).
Den von Dir geschilderten Fall (depressive Neigung, Ausbruch bei bestimmten Rahmenbedingungen) gibt es natürlich auch sehr häufig und hier wäre dann eine PT indiziert.
Und da glaube ich dann allerdings schon, daß es einige grundlegende Dinge gibt, die bei jeder Depression hilfreich sind, egal durch welche Rahmenbedinungen sie verursacht sind. Und um Gottes Willen schon gar nicht in der Kindheit herumbohren. Weil die Kindheit an sich kann nämlich nichts dafür bzw. ist es sinnlos darüber zu philosophieren, weil wie Du richtig sagst: der eine bekommt welche, weil er eine schlechte hatte, ein anderer bekommt keine, obwohl er eine schlechte hatte. Dann gibt es welche, die hatten eine gute und bekommen trotzdem eine und dann gibt es welche, die hatten eine gute und bekommen keine. Also welchen Sinn hat das ? Ich finde, gar keinen.
Für völlig kontraproduktiv halte ich es, sich all zu lange mit den Rahmenbedinungen zu beschäftigen, in altem (das man ohnehin nicht mehr ändern kann) herumzuwühlen, anstatt im hier und jetzt eine konkrete Verbesserung zu erreichen.
Es ist unerheblich, was in der Vergangenheit gewesen sein könnte und was in der Zukunft möglicherweise sein wird. Wir leben in erster Linie in der Gegenwart und nicht im Konjunktiv (wobei ja wiederum genau das eines der Probleme solcher Leute ist - wieso soll man das also noch weiter forcieren - da braucht es doch Möglichkeiten im jetzt, aus diesen Konjunktiven herauszufinden)
DieNeugierde hat geschrieben: Um eine Depression zu behandeln, muss man den Auslöser herausfinden - und dieser Auslöser liegt nunmal in der Vergangenheit - und weil das immer noch zu einfach wäre, gibt es nicht EINEN Auslöser, sondern ein Zusammenspiel aus vielen Faktoren, die zusammen zu einer Depression führen.
Wie gesagt - das sehe ich nicht so.
Konkretes Beispiel:
Jemand ist depressiv, weil sein Partner verstorben ist bzw. weil er nach einem Beinbruch nicht mehr so gehen kann wie früher.
Was nützt es ihm da, wenn er weiß, warum er depressiv ist ?
Ich finde das nicht einmal sinnvoll, wenn man den Grund nicht kennt, weil die bloße Erkenntnis ja nicht bedeutet, daß eine Verbesserung eintritt. Sie verstärkt aber die Grübelei, die diese Leute oftmals schon sehr gut "beherrschen". Oder sie zerbrechen sich dann den Kopf darüber, was gewesen wäre, wenn alles GAAANZ anders gekommen wäre und warum alles so gekommen ist. Also in meinen Augen kontraproduktiv.
DieNeugierde hat geschrieben: Und um mich vorab schonmal gegen das Argument "Psychopharmaka helfen ja auch bei ALLEN Menschen" zu wehren:
Habe zumindest ich auch nirgends behauptet, weil es schlicht und einfach nicht so ist.
Ich habe nur gesagt, daß man bei Psychopharmaka genauer sagen kann, wieviel Leuten sie helfen und wievielen nicht.
Bei PT stand ja zuletzt die Aussage im Raum, daß sie angeblich bei 70-80% der Fälle hilft, weil das eine Therapeutin behauptet hat. Ich kann Dir nur sagen, wenn Du mit so einer Argumentation zu einer Zulassungsbehörde für Arzneimittel kommst ("Das Medikament hilft, weil Herr Dr. XY von der Firma XZ das gesagt hat hat"), dann hast Du 0,0% Chance auf eine Zulassung.
Aber nochmals: Ich sage nicht, daß deshalb alle Arzneimittel schlucken sollen. Ich will nur den qualitativen Unterschied hervorstreichen.


Jenny Doe
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Beitrag Mo., 29.12.2008, 06:42

Ich habe eine interessante Studie gefunden, die sehr gut hier zum Thema passt:
Eine interessante Studie mit natürlichem Material stammt von Kim und Ahn (2002). Sie haben klinischen Psychologen die typischen Symptome von Anorexie-Patientinnen und Patienten gegeben und gebeten anzugehen, wie diese Symptome ihrer Meinung nach kausal verknüpft sind. Hier zeigten sich teilweise deutliche interindividuelle Unterschiede in den genannten Theorien. In einer späteren Testphase zeigten die Untersucher den Probanden dann fiktive Patientinnen und Patienten, die nur einzelne dieser Symptome aufwiesen. Die Befunde zeigen, dass die klinischen Psychologen ihre eigene intuitive Krankheitstheorie bei der Diagnose verwendeten. Im Sinne der kausalen Statushypothese wurden Patientinnen und Patienten als typischer für die Krankheit eingeschätzt, die kausal zentrale im Vergleich zu kausal peripheren Merkmalen zeigten. Nicht präsentierte kausal zentrale Symptome wurden auch fälschlicherweise später eher erinnert als periphere. Dies zeigt, dass die klinischen Psychologen nicht nur Symptome im Hinblick auf ihre Anwesenheit checkten, sondern ihre subjektiven Theorien anwendeten.
Quellle: Subjektiven Theorien in der Psychotherapie
Allgemeine Psychologie. Jochen Müsseler. Springer-Verlag 2008. Seite 400
Lerne aus der Vergangenheit, aber mache sie nicht zu deinem Leben. Wut festhalten ist wie Gift trinken und darauf warten, dass der Andere stirbt. Das Gegenstück zum äußeren Lärm ist der innere Lärm des Denkens.

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Jenny Doe
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Beitrag Mo., 29.12.2008, 06:57

Hallo DieNeugierde
Um eine Depression zu behandeln, muss man den Auslöser herausfinden - und dieser Auslöser liegt nunmal in der Vergangenheit
Eine Winterdepression beispielsweise hat nicht ihren Ursprung in der Vergangenheit.

Ich könnte dir zahlreiche Beispiele nennen, wo diese Ursachensuche bei mir zu falschen Ergebnissen führte. Einige Beispiele habe ich bereits in anderen Threads in diesem Forum genannt.

Und selbst wenn man weiß, was die Ursache ist, was ändert das? Was hilft es mir zu wissen, dass z.B. meine Mutter an allem Schuld ist. Ich habe dann zwar einen Sündenbock, dem ich die Schuld in die Schuhe schieben kann, .... Doch dadurch verschwindet die Depression nicht. Sie verschwindet nur, wenn man sich dieser stellt, wenn man sein Leben ändert.

Ich habe ja so manche Therapien hinter mir, die alle eins gemeinsam hatten: Es wurde unendlich nach der Ursache gesucht. Je mehr Therapie ich machte, desto mehr Interpretationen über die Ursache hatte ich zur Auswahl. Gebracht hatte mir das überhaupt nichts. Erst als ich eine Therapeutin fand, die nicht die ganzen Therapiestunden damit verschwendet nach der Ursache zu suchen, sondern die mir konkrete Problembewältigungsstrategien vermittelte, die mir dabei half alternative Verhaltensweisen zu lernen, als die mir bekannten, verschwanden meine Probleme und Symptome.
Es geht somit auch ohne Ursachensuche, und das oftmals viel schneller.

Viele Grüße
Jenny
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Jenny Doe
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Beitrag Mo., 29.12.2008, 07:21

Aber wie ja in jedem Lehrbuch nachzulesen ist, sind Depressionen kein rein genetisches Problem. Man kann die Veranlagung für Depressionen erben - dass es aber wirklich dazu kommt, dass man depressiv wird, müssen die "Rahmenbedingungen" mitspielen - und die sind nunmal bei jedem Menschen anders.
Auch dazu möchte ich gerne etwas zitieren:
(...)Schaut man sich an, in welcher Weise psychiatrische Experten die Kriterien bestimmen, die für eine Diagnose der Depression notwendig sind, so fällt auf, dass die Messlatte immer niedriger gehängt wird. Während in den 50er und 60er Jahren des letzten Jahrhunderts Suizidgedanken als ein entscheidendes Kriterium für das Vorliegen einer Depression galten, reichen heute „Grübelneigung“, „Appetitstörung“, „Libidoverlust“ oder „schnelle Ermüdung“ aus, um als depressiv eingestuft zu werden. In diesem Sinne wäre so gut wie jeder für die Diagnose geeignet. (...)
Quelle: Krankheitsbekämpfung und Persönlichkeitsformung
Interview mit Charlotte Jurk über Antidepressiva und Neoliberalismus
Reinhard Jellen
28.12.2008
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/29/29125/1.html

Wie bei sämtlichen anderen psychischen Störungen, ob nun bei der Multiplen Persönlichkeitsstörung oder bei Depressionen, ... eins ist auffällig: Die Kriterien für eine Diagnosenkategorie werden mit jeder Neuerscheinung des DSM/ICD immer mehr gelockert, so dass immer mehr Menschen in die Kategorie "Krank" und "Therapiebedürftig" reinpassen.
Die Symptomzuordnung zu den einzelnen Diagnosen scheint somit willkürlich zu sein. Was gestern als normal galt, wird heute als behandlungsbedürftig angesehen.
Somit kann man nicht sagen, jemand hätte eine Veranlagung zu z.B. Depressionen, wenn sich Psychologen offensichtlich nicht einig sind, welche Symptome denn eigentlich genau zur Depression gehören und zählen und wenn die Symptomlisten einer gewissen Willkür unterliegen.

viele Grüße
Jenny
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Beitrag Mo., 29.12.2008, 09:05

@ Jenny Doe,

wollt`s loswerden. Zum Link zur Depression. Fand ich einen sehr guten und dazu verständlichen Artikel. *dank*

A.

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Anne1997
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Beitrag Mo., 29.12.2008, 10:02

Möchte mich Anastasius anschließen. Der Artikel ist gut, sehr lesenswert und für die Diskussion hier und die eigene Auseinandersetzung bezüglich Psychotherapie usw. wirklich hilfreich.
Man könnte sehr viel daraus zitieren - deshalb lieber gleich auf Jenny Does Link gehen!
Vielen Dank!

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Gärtnerin
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Beitrag Mo., 29.12.2008, 10:36

Jenny Doe hat geschrieben: Und selbst wenn man weiß, was die Ursache ist, was ändert das?
Das Wissen allein verändert sicher nichts. In der psychosomatischen Klinik habe ich einzelne Menschen kennengelernt, die sich selber perfekt analysieren konnten und genau wussten, woher ihre Probleme kamen (und leider auch nicht müde wurden, das ständig jedem zu erzählen ), die es aber nicht schaffen, mit diesem Wissen etwas Produktives anzufangen. Aber wenn mit dem Wissen auch die damit verbundenen alten, verdrängten Gefühle an die Oberfläche kommen und endlich erlebt werden dürfen, dann kann das sehr viel verändern. Das hat nichts mit Schuldzuweisung zu tun. Gefühle sind nicht immer logisch begründbar. Ich weiß, dass meine Eltern alles so gut gemacht haben wie sie es eben konnten, und dass ich eben trotzdem emotional verhungert bin. Meine Wut ist deshalb berechtigt, aber erst die Therapie gab mir sozusagen die Erlaubnis, sie zu spüren - und die Mittel, sie zu verarbeiten.
Wer etwas will, findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Gründe.

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DieNeugierde
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Beitrag Mo., 29.12.2008, 11:57

Eigentlich wollte ich nicht antworten, aber dann habe ich mir gedacht, das würde vielleicht aussehen, als würde ich beleidigt in eine Ecke gehen und mich ärgern, dass mir jemand widersprochen hat
So ist es aber nicht - Jenny, du hast recht, meine "Begründung" war wohl etwas voreilig. Ich habe in den letzten Jahren gelernt (Schule, Zeitschriften, Bücher, ... ) dass Depressionen eine genetische Ursache habe und zusätzlich bestimmte Umstände sozusagen auf "fruchtbaren Boden" fallen. Ich habe nie etwas wirklich gegenteiliges gelesen, daher dachte ich, diese Meinung wäre allgemein gültig.

Was die Findung der Ursache angeht, schließe ich mich "Gärtnerin" an - auch ich habe die Erfahrung gemacht, dass vieles, was sich bei mir wie Traurigkeit, Verzweiflung, Hilflosigkeit, ... anfühlt, in Wirklichkeit Wut ist, die ich mir aber nicht "erlaube", weil ich finde, sie ist nicht angebracht. Ich will damit nicht sagen, dass ich "nur" wütend bin - aber ein großer Teil in mir war schon wütend, und das habe ich einfach nicht bemerkt und oft nicht verstanden.
Abgesehen davon hilft es mir immer ein bisschen, nicht ganz so streng mit mir zu sein, dass ich weiß, dass mein Verhalten in gewissen Situationen seine Gründe hat - ich gebe dir, Jenny, schon recht, dass es für die Behandlung nicht essenziell ist, aber für mein Empfinden war und ist es (bei mir) durchaus hilfreich.
Vielleicht täusche ich mich in diesem Punkt aber - ich bin immer noch bei meiner ersten - und somit einzigen - Therapeutin in Behandlung, ich habe somit nur eine Interpretation (die mir logisch erscheint und die ich somit ohne große Zweifel erstmal glaube) zur Auswahl.


Jenny Doe
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Beitrag Mo., 29.12.2008, 18:07

Hallo DieNeugierde
Ich habe in den letzten Jahren gelernt (Schule, Zeitschriften, Bücher, ... ) dass Depressionen eine genetische Ursache habe und zusätzlich bestimmte Umstände sozusagen auf "fruchtbaren Boden" fallen.
Ich habe, glaube ich, etwas missverständlich formuliert. Was ich meinte, .. angenommen dem ist so, und der Mensch hat eine Veranlagung zur Entfaltung gewisser Symptome,... die Zuordnung bestimmter Symptome zu Diagnose-Kategorien ist jedoch ein gesellschaftliches Produkt. Früher wurde z.B. Trauer nach einem Todesfall als normal angesehen, heute bekommt diese Trauer das Etikett "Depression" (Kenne ich selbst aus meiner Therapie, da bekam der Tod meiner Mutter, der mich veranlasste, mich in Therapie zu begeben, das Etikett "Instabile Persönlichkeit"). Dass Menschen nach dem Tod eines geliebten Menschen trauern, ist normal, die Fähigkeit zu trauern, bringt man mit auf die Welt. Doch die Bezeichnung "Depression" (für diese Trauer) ist ein gesellschaftliches Produkt (siehe den von mir zitierten Link).
Somit kann man nicht sagen, "Depression an sich hat eine genetische Veranlagung".
Hoffe, es ist etwas verständlicher, was ich meine?

Viele Grüße
Jenny
Lerne aus der Vergangenheit, aber mache sie nicht zu deinem Leben. Wut festhalten ist wie Gift trinken und darauf warten, dass der Andere stirbt. Das Gegenstück zum äußeren Lärm ist der innere Lärm des Denkens.


Jenny Doe
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Beitrag Mo., 29.12.2008, 18:18

Hallo Gärtnerin,
Aber wenn mit dem Wissen auch die damit verbundenen alten, verdrängten Gefühle an die Oberfläche kommen und endlich erlebt werden dürfen, dann kann das sehr viel verändern.
Das ist aber etwas anderes als "Ursachensuche". Das, was Du beschreibst kenne ich selber auch sehr gut. Im Alltag muss man funktionieren und man kann sich negative Gefühle nicht erlauben. In der Therapie nimmt man sich selber dann mal den Raum, um über diese Gefühle zu reden und sie zuzulassen. Das ist wichtig und auch zur Heilung notwendig.

Ich würde das, was ich meine, gerne noch etwas näher erläutern. Nur leider fehlt mir die Zeit dafür.Mmeine nächste Prüfung steht vor der Türe und ich muss dafür noch eine Menge dafür tun. Deshalb belasse ich es erst mal bei dieser Antwort.

viele Grüße
Jenny
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max35
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Beitrag Di., 30.12.2008, 16:57

@Jenny Doe

Danke für die interessanten links .

Also meine Erfahrungen decken sich weitgehend mit Deinen. Auch bei mir wurde Ursachenforschung bis zum Abwinken betrieben. Mit den kuriosesten Ausformungen, wo ich aus heutiger Sicht nur mehr den Kopf schütteln kann.
Ich denke, es war sicher kein Nachteil, daß mein Charakter ein fester war, denn wäre ich da allem unhinterfragt nachgegangen, dann wäre ich wohl übergeschnappt.
Und es ist genauso wie Du sagst: Erstens gab es bei mir nicht den geringsten Beweis dafür, daß die Ursachen wirkliche Ursachen waren (es waren nur Theorien, sonst gar nichts) und zweitens hat es vor allem an der Symptomatik null verändert, obwohl ich mich darauf eingelassen habe (was eigentlich wiederum in Frage stellt, daß die Ursachen auch wirklich Ursachen waren ...).

Aus heutiger Sicht sehe ich das so: Die Vergangenheit hake ich ab, weil die kann ich nicht mehr verändern. Und was in Zukunft sein wird, weiß kein Mensch. Ich kann nur im hier und jetzt agieren und darauf konzentriere ich mich, da gibt es genug, was man bewegen kann.
Angst und Depression ist m.M. nach im Kern ein Kontrollverlust über Gedanken - gerade deshalb müßte die PT alles unternehmen, um das zu unterbinden. Meist tut sie aber genau das Gegenteil und ich werde in diesem Leben sicher nicht mehr verstehen, wie das zu einer Verbesserung führen soll.

Zum Thema Depressionen:
Es gibt sicher vielschichtige Gründe für Depressionen.
Medizinisch ausgedrückt ist es aber m.M. nach bei jeder kontraproduktiv, den Patienten förmlich zum Nachdenken zu animieren, weil das genau sein Kernproblem ist (genauso wie bei Angst).

Zudem gebe ich eines zu bedenken:
Depressionen können auch eine körperliche Ursache haben (im einfachsten Fall eine Mangel eines bestimmten Stoffes, im schlimmsten Fall vielleicht ein Vorbote einer komplexen Krankheit wie Parkinson). In diesem Zusammenhang ist eine PT sowieso vollkommen sinnlos. Therapiert wird aber trotzdem einfach drauf los. Auch dann, wenn sich gar kein Therapieerfolg einstellen kann.

Daß man den Eindruck haben muß, daß heute beinahe jeder psychisch krank ist, diese Feststellung teile ich auch. Wenn es nach Diagnosschemata geht ist die PT Weltmeister im detailierten Beschreiben. Wenn man nur einen Bruchteil dieser Akribie für das Herausfinden von den entsprechenden Lösungen aufbringen würde, dann wäre man einen entscheidenden Schritt weiter. Aber da gibt es ja leider nur - man möge mich wieder steinigen - viel heiße, diffuse und theoretisiernde Luft.

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Aditi
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Beitrag Di., 30.12.2008, 23:06

Jenny Doe hat geschrieben:. Früher wurde z.B. Trauer nach einem Todesfall als normal angesehen, heute bekommt diese Trauer das Etikett "Depression"
ein kleiner, interessanter kirchengeschichtlicher zwischenruf:

traurigkeit galt auch mal als todsünde!

http://www.efg-hohenstaufenstr.de/downl ... enden.html

aditi

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Beitrag Mi., 31.12.2008, 10:42

Aditi hat geschrieben: traurigkeit galt auch mal als todsünde!
Das habe ich auch noch nicht gewusst.

Da möchte ich doch eine Aussage des mongolischen Schriftstellers und Schamanen Galsan Tschinang zitieren:
"In Europa wird das Glück sehr einseitig verstanden. Der Lebenstag soll immer glücklich verlaufen. Es soll immer sehr viel Sonnenschein geben, hell und warm. Der Mensch muss immer satt sein, gut angezogen und immer muss er lachen, lachen, lachen. Das ist die Lach-Manie. Ich frage mich: Ist es denn nur Leben, wenn man lächelt? Was ist, wenn man nachsinnt? Wenn man weint, ist das kein Leben?"

(aus dem Buch "Altes Wissen für eine neue Zeit" von Geseko von Lüpke)
Wer etwas will, findet Wege. Wer etwas nicht will, findet Gründe.

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