Was ist ein emotionales Loch?

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stern
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Beitrag So., 26.05.2019, 09:22

Räbin hat geschrieben: So., 26.05.2019, 08:10 Oder die dritte Möglichkeit ist eben, dass der Patient seine eigenen Bedürfnisse verkennt und überzeugt davon ist, etwas zu brauchen, hinter dem ein ganz anderes Bedürfnis versteckt ist.
Das wird manchmal bei Essstörungen ziemlich genau so vertreten: Der Patient verwechselt emotionalen Hunger (bzw. ein emotionales Loch) mit tatsächlichem Hunger. Und folglich wird er durch Nahrungsaufnahme nicht satt (sondern im ungünstigen Fall immer dicker). Daher wäre hilfreich zu schauen, was eigentlich fehlt.

Ich würde sagen, Schritt 1 ist, dass in der Therapie genau geschaut wird, wie ein Patient tickt (anstelle Anwendungen von Gemeinplätzen wie: Therapie darf keine Bedürfnisse erfüllen). Und je nachdem muss ein Therapeut abstimmen, was er bei welchen Patienten zur Anwendung bringt. Meinetwegen: Bei Patient A werde ich strikter auf Einhaltung div. Grenzen achten. Bei Patient B: Der ist eh sehr rigidie... hier weiche ich das etwas auf.

Außerdem glaube ich, dass jede Therapie (auch) Beziehungsbedürfnisse befriedigt, egal ob man das explizit Reparenting oder sonstwie nennt. Ich meine, idR wird jeder Therapeut versuchen den Patienten wahrzunehmen (anstelle z.B. Zeitung zu lesen). Entscheidend ist mMn eher ein passendes Therapie- bzw. Beziehungsangebot. Ich habe es nicht so erlebt, dass Frustrationen gezielt eingeplant werden (kann es aber auch nicht ausschließen). Aber das passiert... und damit ist umzugehen.

Wenn ein Therapeut sagen würde: Ui, ich habe es hier mit einem sehr gierigen und unersättlichen Patienten zu tun... also enthalte ich Beziehungsangebote lieber vor (und vermittle stattdessen ganz viel Technik), nicht dass das irgendwann ausartet, so würde ich das jedenfalls auch nicht als sonderlich entwicklungsfördernd halten.
Zuletzt geändert von stern am So., 26.05.2019, 09:36, insgesamt 1-mal geändert.
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mio
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Beitrag So., 26.05.2019, 09:23

spirit-cologne hat geschrieben: So., 26.05.2019, 01:41 Ich wollte damit nur ausdrücken, dass das "Fehlen" erstmal eine subjektive Wahrnehmung ist.
Ja, ob es als "Mangel" empfunden wird ist subjektiv beeinflussbar, aber nicht der Mangel an sich.

Dieser Mangel hat ja nicht nur die Komponente des den "anderen brauchens" sondern zeigt sich oft auch auf anderen Ebenen zusätzlich, also zB. wenn es darum geht andere Menschen wirklich zu verstehen/sich wirklich in den anderen einzufühlen und nicht nur das eigene auf ihn drauf zu projizieren oder sich und die eigenen Bedürfnisse nicht andauernd über jemand anders zu stellen. Da greift der Mangel dann sozusagen in die "Denk- und Verhaltensmuster" ein und kann dort schädlich wirken.

So kann jemand der aufgrund seines eigenen Mangels im Grunde überdurchschnittlich viel Kontakt zu anderen Menschen bräuchte um zufrieden leben zu können zB. aufgrund seiner eigenen wenig ausgeprägten sozialen Kompetenz überhaupt erst ein Problem bekommen weil es ihm einfach nicht gelingt nahe und zufriedenstellende dauerhafte zwischenmenschliche Kontakte zu pflegen. Dh. es braucht unter Umständen nicht nur die Akzeptanz des Mangels sondern auch Hilfe in Bezug auf eine Verbesserung der eigenen sozialen Kompetenzen und da ist es mit einer reinen "positiveren Sicht auf den Mangel" ja nicht getan, sondern da muss anders angesetzt werden.

Letztlich beschreibt dieses "Mangelempfinden" ja eine "Kontaktlosigkeit" - also so verstehe ich das zumindest - und diese gefühlte Kontaktlosigkeit rührt meiner Meinung nach daher, dass wenig "Erfahrung" da ist wie "echte Kontakte" funktionieren und aussehen bzw. sich anfühlen. Auch im Sinne von: Ein Kontakt ist nicht dann "echt" wenn er (für den einen) "ideal" ist sondern dann wenn er ZWEI unterschiedliche Menschen beinhaltet die beide gleichberechtigt sein/in ihm vorkommen dürfen und können.

Das was als "nah" und "echt" und "schön" wahrgenommen wird - zumindest in diesen "abhängigen Fällen" - ist oft nichts weiter als der "sich einfühlende und wunschgemäss spiegelnde Andere", also keine "echte" Nähe zu einem anderen Menschen sondern nur ein anderer Mensch der sich "passgenau" auf den Betroffenen einstellt.

Unter dem "Nachnährungsaspekt" kann das denke ich dann funktionieren wenn dadurch gleichzeitig die Bereitschaft entsteht sich selbst auch außerhalb der Therapie weiter zu entwickeln und zu verstehen, dass man auch selbst etwas dazu beitragen muss, dass sich die eigene Situation und die eigenen sozialen Kontakte verbessern kann/können.

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Räbin
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Beitrag So., 26.05.2019, 12:07

stern hat geschrieben: So., 26.05.2019, 09:22Außerdem glaube ich, dass jede Therapie (auch) Beziehungsbedürfnisse befriedigt, egal ob man das explizit Reparenting oder sonstwie nennt.


Das sehe ich auch so.
Wenn ein Therapeut sagen würde: Ui, ich habe es hier mit einem sehr gierigen und unersättlichen Patienten zu tun... also enthalte ich Beziehungsangebote lieber vor (und vermittle stattdessen ganz viel Technik), nicht dass das irgendwann ausartet, so würde ich das jedenfalls auch nicht als sonderlich entwicklungsfördernd halten.
Auf der Ebene bleibt der Patient dann gefangen, auch wenn andere Dinge gelernt werden können. Ich verstehe auch, dass nicht jeder Therapeut das bei jedem Patienten "kann", also wenn dann doch lieber auf der Technikebene gearbeitet wird, aber wenn ein Patient auf der Beziehungsebene (frühe) Probleme hat, kann er manchmal auf allen anderen Ebenen rumdoktern und im Kern bleibt er unfrei. Die Passung zwischen Patient und Therapeut ist für das Arbeiten auf tiefer Ebene noch mal von größerer Bedeutung, finde ich.
mio hat geschrieben: So., 26.05.2019, 09:23Unter dem "Nachnährungsaspekt" kann das denke ich dann funktionieren wenn dadurch gleichzeitig die Bereitschaft entsteht sich selbst auch außerhalb der Therapie weiter zu entwickeln und zu verstehen, dass man auch selbst etwas dazu beitragen muss, dass sich die eigene Situation und die eigenen sozialen Kontakte verbessern kann/können.
Ich finde sogar, dass das eine logische Konsequenz ist, dass wenn man eine heilsame Beziehung (auf "nährender Ebene") in einer Therapie erlebt, dadurch eine große Motivation außerhalb des Settings entsteht, seine Beziehungen positiv(er) zu gestalten.
Ich würde meinen, dass die Haltung des Therapeuten dafür auch mit ausschlaggebend ist. Dass er das auch im Blick behält, dass die therapeutische Beziehung nicht zu einer künstlichen Blase ("wir gegen den Rest der Welt") wird, sondern die Gesamtpersönlichkeit und -entwicklung des Patienten gesehen wird.

Wenn die nährende Erfahrung nicht in diesem Sinn stattfindet, würde ich sie auch nicht als heilsam bezeichnen, dann läuft m.M.n. etwas schief.

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stern
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Beitrag So., 26.05.2019, 12:16

Räbin hat geschrieben: So., 26.05.2019, 08:10 Der andere Fall ist natürlich, wenn ein Therapeut das forciert, vor so einem Mechanismus ist natürlich keiner gefeit, wenn damit quasi gespielt wird.
Ich gehe sogar soweit, dass ich überlege, ob eine (wie soll ich es nennen, tue mir hier auch schwer mit den Begriffen) massivere Abhängigkeit/Symbiose überhaupt herstellbar ist, wenn die Neigung nicht vorhanden ist.

Also ein Patient, der gut reguliert ist, wird wohl (wenn das therapeutische Angebot zu supportiv bzw. "bemutterend" für dessen Geschmack ist) irgendwann sagen: Also nee, das bekomme ich gerade noch selbst hin... oder: ich bin doch kein Kind mehr. Das Problem bei frühen Störungen dürfte sein, dass z.B. diverse Spaltungsmechanismen (z.B. auch in Bezug auf die Näheregulation oder Abhängigkeit/Autonomie) am Werk sein können, die gar nicht bei jedem so zum Tragen kommen.

In jedem Fall sehe ich das bei meinen Baustellen so, dass das etwas ist, was ich (sozusagen als Anlage) bereits mitbringe. Und das könnte gar kein Therapeut "auslösen" bzw. forcieren, wenn mir die Tendenz fremd wäre.

Und gerade bei frühen Störungen kommt hinzu, dass die Mechanismen recht komplex und widersprüchlich sein können. Im Zweifel handelt jeder eben entsprechend seiner Muster/Anlagen. Im günstigen Fall kann dann eine Therapie den Handlungsspielraum erweitern... im ungünstigen Fall ungute Muster verfestigen oder verkennen (bzw. unzutreffend auszulegen).

So zumindest meine Vorstellung...
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Beitrag So., 26.05.2019, 12:43

Räbin hat geschrieben: So., 26.05.2019, 12:07 Ich finde sogar, dass das eine logische Konsequenz ist, dass wenn man eine heilsame Beziehung (auf "nährender Ebene") in einer Therapie erlebt, dadurch eine große Motivation außerhalb des Settings entsteht, seine Beziehungen positiv(er) zu gestalten.
So ist es wohl auch gedacht, aber ich glaube dass es nicht immer - wie gewünscht und gewollt - gelingt.

Ich sehe die Hauptgefahr darin, dass ein Patient der in der Therapie "zu viel" bzw. "ausschließlich" Bestätigung erfährt seine "ungünstigen Muster" eher noch stärker verfestigt, weil sie ja "ok" sind (er ja "ok" ist und da eben nicht gut "trennen" kann, also zwischen "was ist das schädliche Muster und wer bin ich"). Mir sind zumindest Menschen bekannt die nach einer Therapie "schwieriger" im Umgang waren als vorher, weil sie plötzlich auf Dingen bestanden haben, auf die sie nicht bestehen können und die dadurch dann logischerweise eher mehr Probleme im Zwischenmenschlichen bekamen als sie vorher hatten.

So wie ich es verstehe soll der Aufbau einer "positiven Beziehung" ja vor allem bewirken dass der Patient leichter oder gar überhaupt ein "Behandlungsfenster" aufmachen kann. Geht dieses "Behandlungsfenster" nicht auf, dann bringt auch die positive Beziehung nur wenig, also auf lange Sicht gesehen, weil sie dann ihren Zweck verfehlt.

Ich bin was das angeht wie Du der Meinung, dass es zu den Aufgaben des Therapeuten gehört da ein Auge darauf zu haben und wenn der Therapeut bemerkt, dass da etwas in eine "ungünstige" Richtung läuft dann ist es seine Aufgabe einzuschreiten und im negativsten Fall hat er den Patienten an einen Kollegen oder an eine Klinik zu verweisen. Je nachdem was er für geeigneter/notwendiger hält. Tut er es nicht sondern schaut einfach nur zu, dann verhält er sich nicht "sachgerecht", zumindest nicht in dem Rahmen den eine Kassenfinanzierte Therapie vorgibt.

Ich persönlich bin allerdings sogar der Meinung dass sich ein Therapeut auch dann nicht "sachgerecht" verhält wenn er so eine Entwicklung bei einem Selbstzahler mit ansieht ohne etwas zu unternehmen, aber in so einem Fall dürfte es schwer sein eine solche Entwicklung zu verhindern/sanktionieren wenn beide "Vertragspartner" einverstanden sind damit.

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