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Mi., 02.01.2019, 20:30
Ich finde hier werden mal wieder - passiert übrigens fast immer beim Thema sexueller Missbrauch - ganz verschiedene Dinge wild durcheinandergeworfen und aneinander vorbei geschrieben. Ich finde es sinnvoll das zu trennen:
1. Der Vorfall und seine Einordnung, 2. die Frage nach der richtigen Diagnose, 3. die Reaktion der Umwelt und 4. die Frage der passenden therapeutischen Interventionen.
So lange man das in einen Topf wirft, halte ich es für unmöglich, sich konstruktiv darüber auszutauschen.
Ich würde das wie folgt sehen:
zu 1: Der Vorfall ist auf jeden Fall ernst zu nehmen und dürfte in einem kleinen Mädchen zwangsläufig große Verunsicherung und auch Schamgefühle auslösen. Wenn man von einem Trauma spricht, sollte man sich aber darüber einig sein, was man darunter versteht. In der "offiziellen" Definition muss bei einem Trauma eine umittelbare Bedrohung von Leib und Leben (bei sich selbst oder anderen anwesenden Personen) vorliegen. Demnach wäre dieser Vorfall also nicht als Trauma zu bezeichnen, was aber im Umkehrschluss nicht heißt, dass es sich nicht um ein verstörendes, prägendes Erlebnis gehandelt hat. Das ist Irrtum Nummer 1: Nicht nur Traumata können sich destruktiv auf die Psyche auswirken, auch andere Erlebnisse, aber was ein Trauma ist, dazu gibt es nun mal Definitionen und darunter fällt dieses Erlebnis nun mal nicht.
zu 2: Ähnliches gilt für die Diagnose PTBS, auch hier gibt es konkrete Kriterien bzgl. der Symptome und des zeitlichen Zusammenhangs zwischen Ereignis und Symptomen, die hier ganz offensichtlich nicht vorliegen, was aber nicht bedeutet, dass das Ereignis keine Bedeutung für die Symptomatik hat oder deshalb weniger schlimm ist. Die meisten Depressiven oder Angstpatienten haben auch stark prägende negative Erfahrungen gemacht, die für die Entstehung der Krankheit zumindest mitbedingend waren. Ich habe manchmal das Gefühl, bei manchen Menschen besteht unbewusst so eine Vorstellung, nur wenn man eine PTBS habe, habe man auch einen "Grund", warum es einem schlecht gehe, so als wäre man bei einer PTBS quasi "unverschuldet" krank, während man z.B. an einer Depression eine Art "Mitverantwortung" trägt. Das ist natürlich totaler Quatsch, weder ist man an einer Depression oder Persönlichkeitsstörung "Schuld", noch ist eine PTBS unabhängig von der eigenen Persönlichkeit, schließlich bekommen ja 70 % aller Menschen nach einem durchlebten Trauma keine PTBS, das hat also auch was mit der eigenen Persönlichkeit und Vulnerabilität zu tun. Ich denke daher, wenn man sich nach Jahren, wo es einen wenig beschäftigt hat, auf einmal verstärkt mit einem Ereignis aus der eigenen Vergangenheit beschäftigt, hat es oft damit zu tun, dass man nach diesem "Grund" für die eigene Erkrankung sucht und damit nach einer Art "Absolution", dass man selbst nicht Schuld ist. Wenn das der Fall ist, finde ich es elementar wichtig, mal das eigene Krankheitsverständnis auf den Prüfstand zu stellen, denn wenn man sich bewusst macht, dass niemand sich seine Krankheit "aussucht", dann kann man vielleicht auch auf die Suche nach einem "Grund" im außen verzichten und damit vermeiden, negativen Erlebnissen mehr Bedeutung zu verleihen, als sie eigentlich bisher in der Lebensgeschichte gehabt haben.
zu 3: Erschwert wird diese Korrektur des eigenen Krankheitsverständnisses allerdings dadurch, dass man im außen oft genau mit so einem Krankheitsverständnis konfrontiert wird, also in eine Art "Rechtfertigungszwang" gerät, warum es einem denn bitte schön immer noch nicht besser geht... Da ist so ein "Grund" im außen natürlich hilfreich für die Argumentation, weshalb man dann auch nicht gerne darauf verzichten mag. Andererseits ist da aber auch die Tendenz der Umwelt, Erlebnisse, die sexuell missbräuchlich sind - und umso mehr, je mehr sie auch noch inzestuösen Charakter haben - zu bagatellisieren nach dem Motto: "Es kann nicht sein, was nicht sein darf." Da finde ich es vollkommen legitim, dass man da gesehen werden will, als jemand, dem etwas angetan wurde und das gerne gewürdigt wissen möchte - auch wenn es sich nicht um ein Trauma nach der klassischen Definition handelt, denn es hat einen u.U. über lange Jahre geprägt und beeinträchtigt.
It is better to have tried in vain, than never tried at all...