Austausch mit chronisch Suizidalen

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Möbius
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Beitrag Mo., 18.01.2016, 11:04

(Anschluß an 1. Teil)

Aus der katholischen Dogmatik entnehme ich weitere Versatzstücke für meine Spekulation - auch diese sehe ich wie andere kulturelle Erzeugnisse als vormoderne Beschreibungen innerpsychischer Abläufe an. Und da ist zuförderst die Beichte zu nennen, die der Sterbende nach Möglichkeit noch ablegen soll, und in der er mit der Vergebung seiner Sünden, für die er gegenüber dem Priester als Repräsentant der sozialen Gemeinschaft Bekenntnis ablegt und um Vergebung bittet, noch in einigen kurzen Gebeten ein Bußritual vollzieht, letztendlich Absolution erhält, die den Weg zu Purgatorium und Himmelfahrt ebnet - die Hölle dagegen ist genau der entgegensetzte Weg: der Weg der "ewigen Verdammnis", in dem die unvergebene wie ungesühnte Schuld, die Todsünde, über dem Sterbenden zusammenbricht, und der im Satan personifizierte Trieb zum Tod als äusserster Destruktion - "der Geist, der stets verneint" - die alleinige Herrschaft antritt. By the way: die Anleitung zum Gebrauch kultureller Mythen zur Psychoanalyse habe ich dem kurzen Aufsatz: "Zur Phänomenologie des Geistes im Märchen" von C.G. Jung entnommen, der u.a. in dem schmalen Bändchen "Bewußtes und Unbewußtes" enthalten ist.

Da gab es ein etwas längeres Gespräch mit meinem Hausarzt darüber, der auch Facharzt für Palliativmedizin ist, und regelmässig Sterbeprozesse begleitet - aus professioneller Distanz miterlebt. Immer wieder erlebe er es, daß Sterbende, die sich mitunter Tagelang abquälen bestimmte Personen aus ihrem Umfeld zu sprechen wünschen - meist unter vier Augen. Niemand soll dabei sein. Ist dieses Gespräch dann gelaufen, dann tritt ein friedlicher Tod oft binnen Minuten ein. Und schließlich gab es den Bericht einer Bekannten vom Tode ihre Mutter im Sommer 2015, der sich 22 Stunden hinzog. "Es war, als ob sie Ihr ganzes Leben noch einmal erleben würde."

Unser Bewußtsein nehmen wir für gewöhnlich als den stärksten Teil unserer Psyche wahr - eben weil es "bewußt" ist - präsent, konkret und in sprachlich fassbaren Gedanken. Das Unbewußte nehmen wir oft nur von Zeit zu Zeit und in diffusen Gefühlen - "Befindlichkeiten" - wahr. Und doch zeigt uns gerade die Psychoanalyse, daß das Bewußtsein eines der schwächsten Glieder in der Organisation der Psyche ist, daß wir normalerweise noch nicht einmal für 24 h aufrecht erhalten können. Im Schlaf tritt das Unbewußte die - freilich nicht unumschränkte - Herrschaft über die Psyche an, wofür der Körper vorsorglich in einen handlungsschwachen "ohnmächtigen" Zustand versetzt wird, und in den Alpträumen erleben wir immer wieder, wie die dissoziierten Erinnerungen wieder vor die Augen des Ichs treten.

Auch hirnphysiologisch ist die Cortex, wo das Bewußtsein seinen anatomischen Sitz hat, der schwächste Teil des Gesamtsystems, der als erstes ausfällt, während die subcortalen Hirnschichten, welche u.a. die Vitalfunktionen steuern, noch lange Zeiten voll funktionsfähig bleiben, wie das oft monatelange Koma (heute oft sogar künstlich erzeugt) immer wieder belegt.

Auch wenn es Spekulation bleibt: es besteht die ernstzunehmende Möglichkeit, daß beim Tod, auch wenn er blitzschnell eintreten sollte - "man nicht zu leiden braucht", erst recht aber, wenn sich der Sterbevorgang auch nur schon über einige Sekunden erstreckt, gar Minuten oder Stunden, genau dieser "mega-analytische", meinethalben "para-lytische" Prozeß abspielt, bei dem jener schon mal von mir erwähnte "höllische Hexensabbath" stattfindet: die Abwehrmechanismen erlahmen, die Geister der Finsternis erhalten freien Zugang zum Ich, dessen Kraft zu "bewußten" Bewältigung immer mehr und schneller schwindet, so daß ein Alptraumszenario wie auf den Höllenbildern Breugels entstehen kann.

Und nun kommt ein Gedankengang ins Spiel, der ursprünglich der militärischen Strategie entstammt, aber auch in der Medizin als "Differenzialdiagnose" bekannt ist, in der katholischen Dogmatik in der Form von "Pascals Wette" sogar den Rang eines kanonisierten Gottesbeweises errungen hat:

Wir können diese Spekulation als Ssolche vom Tisch wischen - aber was ist, wenn wir irren ?

Wir können aber auch diese Spekulation als Grundlage unseres Handelns berücksichtigen - dann ist ein Irrtum jedoch nur halb so schlimm.

Denn die Annahme dieser Spekulation als richtig, als zu gegenwärtigendes Szenario und enorm hohem Risiko, dem es zu wehren gilt, führt uns genau dahin: den Tod keinesfalls zu suchen, bevor wir nicht die "Geister der Finsternis" in unserer Seele gebannt haben werden - das Dissoziierte wieder A-soziiert haben.

Und für mich stellt diese Spekulation und die darauf aufbauende strategische Erwägung zumindest derzeit den besten Schutz davor dar, mich Freund Hein vor der Zeit in die Arme werfen zu wollen !

Amen!

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saffiatou
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Beitrag Mo., 18.01.2016, 13:04

Hallo Widow,
Widow hat geschrieben:Das mit den noch zu lesenden Büchern geht mir genauso. (Die "Liste" habe ich allerdings selbst im Kopf erstellt. Und sie wird immer länger ... - was ist dieses Unbewusste doch für ein Shit-Lebensgnom!!!)
Mit meinem Analytiker rede ich auch nur sehr verklausuliert über das Thema. Ich habe gelernt, dass es andere Menschen - auch Therapeuten - einfach nur belastet, wenn man da offen ist. Und das werde ich keinem mehr zumuten.
Klappt das bei Dir mit den zu lesenden Büchern? Ich bin mitunter tage- oder wochenlang nicht imstande, konzentriert zu lesen (und das brauch ich bei Büchern).
Mich frustriert meine eigene Liste also auch (mithin finde ich sie zweischneidig), denn ich stoße da immer wieder auf meine Unfähigkeit
Ich bin regelrecht Büchersüchtig, klar habe ich eine eigene Liste und einen Stapel ungelesener Bücher liegen, nur will meine Freundin so die Gelegenheit haben, mich vom Suizid abzuhalten, ihr geht es selbst genauso. Nein, in den letzten Wochen ist Lesen fast unmöglich geworden, wie bei Dir lässt mich die Konzentration durch chronische Insomnie im Stich. Dann hatte ich mit Absprache meiner Psychiaterin mein AD abgesetzt. Ich war sicher ich würde es nicht mehr brauchen, war aber nach drei Wochen ohne wieder in einer gefährlichen Stimmung.

In den Nächten hilft mir gerade das Stricken, habe das über 20 Jahre nicht mehr gemacht.

Wie Sadshadow schrieb, versuche ich jedem Tag wieder eine neue Chance zu geben, manchmal hilft es, einen Termin zu haben, auf den ich mich freue. Ich warte gerade auf einen Anruf einen besonderen Freundes, der ein paar Monate auf Reisen und nicht erreichbar war, will ihn wiedersehen und das macht es leicht weiterzumachen. Manches ist eben auch gut.

Kennst Du das Lied von Herman van Veen: „Ein Mann der so gerne nicht mehr Leben wollte“

Das trifft es bei mir, es gibt immer wieder Dinge, die mich zurückhalten.

Wie Du habe ich festgestellt, dass auch Therapeuten nur begrenzt belastbar sind und ich möchte nicht, dass sie sich für mich und mein Tun verantwortlich fühlen, daher rede ich möglichst nicht darüber. Meine Psychiaterin erkennt meine Stimmung schon sehr schnell, auch ohne, dass ich nur ein Wort sage. Manchmal bin ich dann froh reden zu dürfen, aber manchmal möchte ich es lieber nicht, und manchmal wünschte ich mir zu reden und schaffe es nicht. Letzte Woche wäre es mir sehr wichtig gewesen, aber da kam keine Reaktion von ihr auf meine Aussage, daher bin ich da nicht tiefer eingestiegen.

Ales Gute, Saffia
never know better than the natives. Kofi Annan


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Widow
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Beitrag Mo., 18.01.2016, 13:46

Möbius, Deine Erfahrungen und Überlegungen in allen Ehren, doch ich bin Agnostikerin mit deutlichem Hang zum Skeptizismus, mir geht also der Glaube an eine wie auch immer geartete Existenz nach dem Tode weitgehend ab (und der ist es doch letztlich, der Dir hier die Feder bzw. die Finger über die Tastatur geführt hat, so will mir scheinen).
Über C.G. Jung bin ich mit meinem Analytiker einig: Für uns ist er ein Spiritist.
Und den Tod habe ich in den Augen meines Mannes gesehen: Die waren irgendwann einfach vollkommen leer an jenem Novembernachmittag da in diesem Provinzkrankenhaus; da war mein Mann fort und der Tod da.

Übrigens: Ich teile auch nicht Deinen Optimismus hinsichtlich einer 'totalen' Analyse, an deren Ende die absolute Durchdringung des Unbewussten stünde. Ich halte das Unbewusste für nur ansatzweise 'aufdeckbar' und vor allem für etwas, das sich ständig mit neuem Material anreichert, also keineswegs nur ein Speicher vergangener Geschehnisse, Empfindungen und Szenen ist, den es nur 'aufzuschließen' gilt.

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Möbius
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Beitrag Mo., 18.01.2016, 14:12

Liebe Widow: Ich glaube, ich habe heute mal meinen ganz besonders boshaften Tag, und rufe Dir deswegen zu:

Deinen Skeptizismus, Deines und Deines Analytikers Meinung zu C.G. Jung in allen Ehren: aber ich lasse mich trotzdem nicht von meinem möglicherweise im Irrationalen, mystischen, ja triebhaftem fußenden Wunsch abbringen, weiterleben zu wollen !

Nix für ungut !

Lieben Gruß
Möbius

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Broken Wing
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Beitrag Mo., 18.01.2016, 18:41

Ich fühle mich angesprochen. Die Gedanken sind ständig da, dennoch habe ich beschlossen, sie erst mal zu ignorieren, solange es geht.

Verschwinden werden sie nie, nehme ich an. Das Leben könnte noch so schön sein, ich könnte trotzdem gut darauf verzichten.

Ich hätte allerdings weder Mitgefühl mit Lokführern noch bin ich der Meinung, dass das Leben mir gegenüber besonders ungerecht wäre. Es ist besch***. Für jeden.
Beginne den Tag mit einem Lächeln, dann hast du es hinter dir. [Nico Semsrott]


mio
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Beitrag Mo., 18.01.2016, 21:17

Meine Antwort auf meine eigene "Suizidalität" war mit 17 die bewusste Entscheidung für "mich". Ich sass in einer wie schon vielen Nächten vorher im Hof meines Elternhauses und wollte das alles so nicht mehr. SO NICHT! Und doch schien ich dem "ausgeliefert" zu sein.

Irgendwann machte es KLICK und ein wesentlicher "Groschen" fiel: Bevor ich mich töte, tue ich das schlimmstmögliche was ich tun kann: Ich verletze meine Mutter zutiefst. Nicht körperlich, nein, emotional indem ich "gehe". Erst dachte ich, ich würde "äußerlich" gehen, sie bestehlen, alle meine Konten leerräumen und abhauen nach Spanien...wäre ja genauso schlimm, als wäre ich tot, aber ich hätte zumindest noch für ein halbes Jahr oder so meinen Spaß am Leben...dann könne ich ja immer noch schauen, die "Konsequenz" wäre ja irgendwie die selbe. Gegangen bin ich innerlich indem ich mich knallhart gegen sie und ihre Erwartungen gestellt habe. Das war die Geburt eines meiner wichtigsten "Schutzteile" von dem ich bis heute profitiere.




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doppelgängerin
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Beiträge: 265

Beitrag Mo., 18.01.2016, 23:03

Ich kann mich hier einreihen. Leider. Seit wann ich suizidal bin, weiß ich nicht, ich wars in der Jugend sehr extrem, seit dem ist es nie mehr so richtig "weg" gegangen.
Auch für mich hat es etwas tröstliches, mir dieses Hintertürchen offen zu halten. Es hat etwas mit einer Sehnsucht nach Ruhe Ruhe Ruhe zu tun, die ich hier, im Leben nicht finde und wohl nie finden werde.

Ich kenne das auch mit der einfahrenden Bahn. Anziehender finde ich aber nach wie vor Hochhäuser, hohe Brücken und Krähne. Der Sprung in die Freiheit.
Hinzu kommen bei mir in emotionalen Stresssituationen eine Art "Zwangsgedanken", die sehr stark suizidal sind - etwas, worunter ich durchaus leide, weil sie mich kalt erwischen, während die Todessehnsucht sich sanfter anschleicht, wenn sie wieder mehr Raum einnimmt. Dafür drückt sie dann aber auch alles zu Boden, was nur geht.
Mich strengt dieses innere gegen mich Kämpfen sehr an.

Warum ich noch lebe:
Mich hat in der Jugend die Musik gerettet, glaube ich. Ich habe Musik (klassische hauptsächlich) gemacht, sehr intensiv und das hat sich lebendig in einer Weise angefühlt, hat mich MICH in dem, was das Leben ist, spüren lassen, dass es aushaltbar(er) war.
Und es gab Ziele: noch jenes Konzert, noch diese Probe.

Jetzt ist es vielleicht immer noch ähnlich.
Und (ich weiß, liebe Widow, dass Du das aus mir durchaus verständlichen Gründen nicht gern liest, aber ich muss es der Vollständigkeit halber schreiben) jetzt habe ich jene, für die ich verantwortlich bin. Kleine Kinder, denen ich es nicht antun darf, nicht mehr zu sein - auch, wenn diese Sehnsucht oft so unendlich groß ist, meine Verantwortung ist viel größer!
Seit dem spüre ich das als extremeren Kampf. Das SICHERE Nicht-können gegen das Wollen. AufgebenWollen gegen DaseinMüssen. Das ist manchmal... chaotisch und schwer.

Es gibt die Tage, an denen es nicht nur ums Überleben geht. Manchmal denke ich, wenn diese Tage MÖGLICH sind, dann ist noch mehr selbstverständliches Leben vielleicht auch irgendwann möglich?


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Widow
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Beitrag Di., 19.01.2016, 01:16

Möbius hat geschrieben:aber ich lasse mich trotzdem nicht von meinem [...] Wunsch abbringen, weiterleben zu wollen !
mio hat geschrieben:Meine Antwort auf meine eigene "Suizidalität" war mit 17 die bewusste Entscheidung für "mich". [...]
Irgendwann machte es KLICK und ein wesentlicher "Groschen" fiel: [...]
meinen Spaß am Leben [...]
Das war die Geburt eines meiner wichtigsten "Schutzteile" von dem ich bis heute profitiere.
In diesem Thread würde ich mich gerne - wie es bereits der von mir gewählte Titel besagt - mit chronisch Suizidalen austauschen.
Nicht mit Menschen, die in ihrer Pubertät oder Adoleszens irgendwann mal suizidal waren, bei denen es dann Klick oder Groschenfall gemacht hat und die seither den Wunsch haben, weiterleben zu wollen.

Wäre schön, wenn das klappte (und: respektiert würde) - mit diesem Austausch. Wenn nicht, dann nehmen hier nämlich all die pubertistisch Suizidalen, nunmehr aber zum Lebenswunsch Geklickten überhand und beglücken den Thread mal wieder mit ihren Groschen.
Fänd ich schade. Weil hier gerade ein zartes Gespräch zwischen chronisch Suizidalen im Entstehen begriffen ist darüber, wie man damit lebt.

w

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blackpower
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Beitrag Di., 19.01.2016, 06:55

Meno Widow,

im großen und ganzen lebe ich nur, weil es hier noch was gibt, dessen Verantwortung in meinen Händen liegt. Sollte sich hier etwas verändern, verschieben bin ich meinem Ziel wieder ein Stück näher gekommen....
Für mich ist der Tod eine Erlösung, endlich Ruhe haben von allem, nichts mehr müssen. Ich kann das hier nicht so schreiben.
Es ist nur aufgeschoben im Moment, verstehst Du..
In meiner Kindheit hatte ich schlimmste Alpträume - ich wollte nur "Tod" sein, darüber reden konnte ich doch nicht...

Nur weil ich im Moment klar komme/kommen muss, heisst das noch lange nicht, das ich geheilt bin, die schwarzen Gedanken kommen wieder. Ja, ich mag den Tod, später vielleicht mehr, nur so nicht.
"Aufgeben bedeutet nicht immer, daß man schwach ist. Oft bedeutet es einfach daß man stark genug ist, etwas loszulassen, was man nicht ändern kann."


Landkärtchen
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Beitrag Di., 19.01.2016, 07:48

Hallo widow,

mich begleiten Selbstmordgedanken seit Kindesbeinen. Ganz schlimm war es im letzten Sommer als ich mit der S-Bahn fahren musste. Die Gleise zogen mich magisch an. Ich war auf dem Weg zur Traumatherapeutin und nur das Wissen das ich zu ihr fuhr half mir es nicht zu tun.

Was mir jetzt / heute hilft? Ganz banal (und mir auch ein wenig peinlich ): mein Pflichtbewusstsein. Mir hilft zu wissen, dass ich morgen, um die und die Zeit, einen Arbeitsauftrag habe, den ich erfüllen "muss". Das Gute daran ist, dass mir meine Arbeit oft viel Freude bereitet und damit auch die Hoffnung verbunden ist das "im Tun" die Gedanken weniger werden oder sogar eine Zeit lang verschwinden.

Oft wünsche ich mir weniger von diesem Pflichtbewusstsein zu haben. “Alle Fünfe gerade sein lassen” zu können. Doch zum Überleben ist es gut es zu haben.

In akuten Momenten hilft mir auch die Musik von J.S. Bach. Insbesondere die Kantaten von ihm beruhigen mich sehr.

LG-Landkärtchen
Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren?

Vincent van Gogh

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Danica
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Beitrag Di., 19.01.2016, 10:03

Da mich die Beiträge hier sehr berühren, möchte ich nun auch über meine Gedanken schreiben. Auch mich begleiten die Todeswünsche schon seit frühester Kindheit. Einer meiner ersten, bewussten Gedanken, an die ich mich erinnern kann war "warum muss ich da sein?". Da war ich noch nicht in der Schule. Etwa ab meinem 10. Lebensjahr denke ich immer wieder konkret über meinen Suizid nach. Mittlerweile habe ich einen ziemlich genauen Plan. Ich werde ich es nur einmal versuchen, der Versuch muss erfolgreich sein. Die schlimmste Vorstellung für mich wäre, einen Suizidversuch zu überleben mit möglicherweise schweren körperlichen oder geistigen Behinderungen und dann auf andere Menschen angewiesen zu sein.

Mit Anfang 20 war ein erster Höhepunkt bzw. Tiefpunkt erreicht und seither wiederholen sich die akuten Phasen ertaunlicherweise ungefähr jede Dekade. Bald ist es wohl wieder soweit. Dazwischen ertrage ich das Leben manchmal besser und manchmal schlechter. Es gibt Phasen, in denen ich die Suizidwünsche als quälend empfinde und dann wieder als eher dumpf bedrückend. Wirklich als tröstend emfinde ich diese letzte Möglichkeit nicht, denn ich habe Angst vor dem Sterben, insbesondere vor dem Sterbevorgang.

Was mich bis jetzt hauptsächlich davon abgehalten hat, ist vermutlich meine verkorkste, erzkonservativ-naive katholische Erziehung. Wenn andere Disziplinierungsmaßnahmen versagten, wurde zur Religion gegriffen. Ich hatte im Alter von 9 Jahren schon so viele Todsünden angehäuft, dass mir die Hölle damals schon sicher war. Rational gehe ich mittlerweile davon aus, dass es kein Leben nach dem Tode geben wird. Ich gehe davon aus, alles wird in's "Nichts" münden. Dennoch habe ich, wie Möbius so treffend beschrieben hat, das Gefühl mit meinem "inneren Saustall" nicht gehen zu können.

Man sucht wohl für sich eine passende Begündung, es nicht tun zu müssen. Offensichtlich handelt es sich um ein genetisch-biologisches Programm, mit aller Gewalt leben zu wollen, das jedem lebendigen Wesen inne wohnt. Das irritiert mich ein wenig in meiner Hoffnung auf das große "Nichts". Woher kommt dieser unfassbar starke Lebenstrieb? Woher kommt dieses seltsame Programm? Ist etwa dieses "Nichts" doch noch schwerer zu ertragen, als das Leben? Drängt uns irgend etwas in dieses Leben?

In jedem Fall möchte ich bewusst und in einem innerlich ruhigen Zustand entscheiden. Diesen Zustand am Ende zu erreichen, ist mein "Lebensziel". Das Bemühen darum äußert sich in vielvältiger Weise und hat mir manchmal sogar schon beglückende Momente beschert. Wie hier schon verschiedentlich beschrieben, stirbt es sich wohl in einem ausgeglichen Zustand leichter.

Wie auch immer, haben mich in letzter Zeit zwei verschiedene Erlebnisse in meiner Ansicht bestärkt, dass Kurzschlussreaktionen zu vermeiden sind. Einmal war es ein Traum, in dem mich ein lang aus meinem Leben verschwundener, lieber Mensch mit der Hand nur kurz berührte und diese winzige Berührung ein so unbeschreibliches Glücksgefühl in mir auslöste, dass ich dachte, ich muss gerade am Sterben sein. Beim Aufwachen war ich völlig verdattert, doch noch da zu sein. Das andere Mal haben nach einer Operation im Krankenhaus die verabreichten Schmerzmittel versagt. Ich hatte über einige Stunden heftigste Schmerzen, in denen mit verschiedenen Medikamenten herumprobiert wurde, bis sich jemand dann doch erbarmte, mir ein Opiat zu geben. Auf diesen "heiter-gelassen-suizidalen" Zustand war ich in der Situation nicht vorbereitet, sonst hätte ich vielleicht trotz der hinderlichen Gerätschaften und Schläuche versucht, das Dach zu erreichen um "herunterzuschweben".

Danke für diesen Thread, liebe Widow und danke allen, die hier schreiben.

P.S.: Wenn ich hier im Forum manchmal so lese, kann ich nicht verstehen, wo manche Menschen ihren Lebensmut und ihre positive Lebenseinstellung hernehmen. Immer wieder Kampf, sich neu aufrappeln, wieder von vorne anfangen... ohne jemals am Leben selbst, an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns zu zweifeln. Ich wünschte, ich könnte das auch.

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blackpower
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Beitrag Di., 19.01.2016, 12:08

Hallo Landkärtchen,

Deine Formulierung trifft haargenau zu "Pflichtgefühl", das ist es. Doch manchmal hasse ich dieses Pflichtgefühl, weil es mich Dinge tun lässt, wozu ich manchmal keine Lust habe und es hilft mir eben jeden verdammten Tag wieder neu abzuspulen. Und wenn man es schafft, dann noch kleine positive Momente - Augenblicke einzubauen, die einm vielleicht helfen, ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern, dann wäre es schön längst geschehen um mich. Zu meinem Pflichtgefühl zählen aber auch mein Mann, den ich durchaus liebe und auch meine Tiere....

Hallo Dancia,
ich kann es nachempfinden aber selbst Du hast etwas, was Dich hält, mag es noch so winzig klein sein, es hält Dich, vielleicht kannst Du da ansetzen und es vielleicht wachsen lassen..? Ich erlebe auch Zeit wo es gut läuft und das versuche ich abzurufen, wenn ich wieder mal down bin. Es gelingt nicht immer alles, das wäre auch zuviel verlangt aber sich daran zu erinnern hilft ungemein, bitte versuche es...
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Beitrag Di., 19.01.2016, 12:15

Ich gebe aber Widow Recht, es wäre durchaus schön, wenn hier Leute schreiben, die das chronische Gefühl der Suizidalität spüren und darüber etwas schreiben könnten.
Ich habe zwar viel bewältigen können aber frei von meinen schwarzen Gedanken bin ich nicht. Ich bin nur sehr vorsichtig, dies zu äussern.
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Beitrag Di., 19.01.2016, 14:18

Diese schwarzen Gedanken und Gefühle äußern sich bei jedem anders. Ich zB sehe keine (Er)Lösung im Tod. Ich hasse schlicht und ergreifend alles, das mit dem Sein zu tun hat, also auch das Sterben. Das sich Zerstören ist eine Ekelhaftigkeit sondergleichen. Und danach gibt es auch keine Ruhe, weil es einfach nichts gibt.
Ich empfinde ein regelrechtes Grauen vor allem und jedem.
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Möbius
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Beitrag Di., 19.01.2016, 17:53

@ Widow

Ich bedauere es ausserordentlich, gestört zu haben und meine Beiträge hier nicht mehr löschen zu können.

Ich ziehe mich zurück.

Gruß
Möbius

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