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Fr., 25.12.2015, 22:02
Hallo Fensch !
Ich muß nochmal auf meine obigen Ausführungen zur Verliebtheit zurückkommen. Ich weiß nicht, wie Du sie (wenn überhaupt) aufgenommen hast. Wenn Du gerade 20 Jahre alt bist, nicht gerade den halben Freud gewälzt hast und auch keine ausgesprochene Zynikerin bist, dann ist Verliebtheit für Dich wahrscheinlich etwas Positives, Natürliches und Schönes. Es wird Dich wahrscheinlich genauso befremdet haben, wie die meisten anderen hier und auch mich selbst, wie ich mich der Entdeckung nicht entziehen konnte: daß Verliebtheit nicht anders zu charakerisieren ist, denn als psychotische Episode, die sich sogar zur regelrechten Psychose auswachsen kann. Der Volksmund weiß das schon lange: "liebeskrank", "liebestoll" und "Liebeswahn" beschreiben diesen Zustand ja auch so - und nicht wenige bringen sich immer noch aus "Liebeskummer" um !
Diese psychotische Episode wird nur deswegen nicht als solche bezeichnet und behandelt, weil sie sozialüblich ist. Auch das ist nichts besonderes - unser Leben ist durchtränkt von psychotischen Verhaltensweisen: von kleinsten Alltagsdingen wie dem Haustürschlüssel, den wir nicht finden und nicht aus der Wohnung gehen können, wenn wir zu einer Klausur müssen, über den Massenwahn bei Fußballspielen bis hin zu den größten Grausamkeiten der Menschheitsgeschichte wie dem Holocaust. Der Mensch ist zwar vernunftbegabt, aber nicht vernunftgesteuert !
Im Zustand der Psychose hat der Mensch kein angemessenes Bild mehr von der Realität. Es ist vielmehr geprägt davon, daß er Inhalte seiner Psyche in die Aussenwelt hineinprojiziert, wie ich es versucht habe, zu umschreiben.
Einem Verliebten kann man sagen und zeigen was man will: wenn der Grad der Verliebtheit eine gewisse Grenze überstiegen hat, sein Rest an Verstand immer schwächer wird, dann wird der Verliebte jedes Handeln von Dir so uminterpretieren, daß eine Bestätigung seines unbewußten Gefühles, seiner unbewußten Gewissheit, daß auch Du ihn tief in Deinem Herzen lieben würdest, dabei herauskommt. Sogar seine Vernunft mißbraucht der Verliebte für diese Uminterpretationen. Die Ohrfeige, die Du ihm gibtst, ist für den Verliebten nur eine Ersatzhandlung für die Zärtlichkeit, die Du ihm in Wahrheit geben wolltest. Der Eimer kaltes Wasser, den Du ihm überkippst, wird zum Symbol für diverse, hocherotische Körperflüssigkeiten von Dir. Dein "Nein!" ist Dir von Deinem Freund, Deinen Eltern oder sonst irgendwem aufdiktiert worden, der irgendeine geheimnisvolle Macht über Dich ausübt, Dich womöglich sogar erpresst - undsoweiter undsoweiter. Der Phantasie sind buchstäblich keine Grenzen gesetzt.
Deswegen ist die Überlegung, daß Du Dich vielleicht deutlicher von ihm hättest abgrenzen können, zwar durchaus plausibel - aber letztlich irrelevant. Du hast ihm - nehme ich an - keinen Eimer kalten Wassers übergekippt, und kannst Dir das heute vorwerfen. Aber es hätte mit allergrößter Wahrscheinlichkeit nichts an dem traurigen Verlauf geändert.
Denn der Punkt ist auf jeden Fall die Schwäche der Affektkontrolle bei Deinem Täter. Denn auch wenn wir normalerweise nicht wissen, welchen Charakter es hat, wenn wir verliebt sind - wir wissen, daß wir auch beim Liebeswerben bestimmte Grenzen nicht überschreiten dürfen. Ein Griff nach Deiner Hand, Deiner Hüfte, Deinem Arm - ein auf die Wange, meinethalben sogar noch ein auf den Mund gehauchter Kuß - das alles wäre wohl nicht nur nach meiner eigenen Meinung "durchaus noch ok" gewesen, und, so schätze ich Dich inzwischen ein, auch von Dir nicht sonderlich krumm genommen worden. Aber den anderen in einen Hausflur zu zerren, festzuhalten, unter die Kleidung an Brust und in Richtung Genital zu greifen - das ist ganz eindeutig im roten Bereich. Der Unterschied ist derjenige zwischen behutsamer Zärtlichkeit und brutaler Gewalt. Und genau das ist es auch, was den Vorwurf im rechtlichen Sinne ausmacht.
Gruß
Möbius