Ratlosigkeit hat geschrieben:Hi RehAug,
die christliche Prägung geht so tief, dass es gar nicht so einfach ist, das genau zu beschreiben. Sagen wir mal so: nimm das Christliche weg - was wäre ich für ein Mensch?
Zunächst mal sind meine Werte christlich. Ich befolge die 10 Gebote, ich weiß zumindest, dass ich sie befolgen soll und warum. Verzeihen, Mitgefühl und bis zu einem gewissen Grad Nächstenliebe im Sinne Jesu Christi gehören auch zu meinen Werten, ich kann mich nicht mit dem Gedanken anfreunden, meinem Feind etwas Gutes zu tun, in dem ich ihn durch Tötung ins Paradies befördere, sondern ich verzeihe ihm lieber.
In Notsituationen wende ich mich automatisch irgendwie nach "oben", weil im Christentum der Himmel der Sitz Gottes ist (und nicht vielleicht ein Baum oder Fluß, wo die heidnischen Naturgötter zu sitzen pflegten), ich falte eher die Hände als dass ich mich, wie in östlichen Kulturen, in den Staub werfe, und ich spreche eher ein Stoßgebet, als dass ich darüber nachdächte, ein Tieropfer zu bringen.
Ich weiß was eine Kirche ist, erkenne sie auf anhieb und kenne ihre Funktion und Bedeutung - Kultstätten anderer Religionen bleiben mir vielleicht ganz verborgen und selbst wenn ich sie erkenne, ich wüsste nicht, wie ich mich dort ganz korrekt benehme. Ich weiß was ein Heiliger und was ein Sakrament ist und kenne die emotionale Bedeutung. Es würde mir sehr schwer fallen, eine Heiligen zu beleidigen oder ein Sakrament lächerlich zu machen, weil das Emotionen auslöst, die objektiv zwar nicht begründbar, aber trotzdem sehr stark in mir verankert sind - so wie ein Muslim unwillkürlich Ekel vor Schweinefleisch empfindet, auch wenn er nicht praktiziert und er genau weiß, dass er nach dem Genuß eines Schnitzels garantiert nicht tot umfallen wird.
Und das sind jetzt nur einige wenige Beispiele, aber ich hoffe, Du verstehst, was ich meine. Es sind Dinge, die so sehr zu mir gehören, mich so stark ausmachen, dass ich sie nicht einmal mehr hinterfrage oder genau benennen kann. Sie sind da und werden immer da sein, egal was ich tue. Darum akzeptiere ich mich selbst als Christen, wenn auch nicht praktizierend und agnostisch.
Du magst deine Werte als christliche Werte bezeichnen, letztlich sind es jedoch "nur" deine Werte, die du in der Bibel suchst und findest. Genauso findet ein Kreationist, ein Pius-Bruder - kurz: Jeder noch so liberale oder extremistische Christ - seine Werte in der Bibel wieder. Man kann mit der Bibel so ziemlich alles - und das Gegenteil davon - verargumentieren.
Würdest du deine Werte streng nach der Bibel richten hättest du unter anderem folgende Positionen zu vertreten:
"Einer Frau gestatte ich nicht, dass sie lehre, auch nicht, dass sie über den Mann Herr sei, sondern sie sei still." 1 Tim 2,12
"Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn." Eph 5,22
Und falls du nicht ignorierst dass Jesus laut Bibel
nicht die alten Gesetzte abzuschaffen kam gilt eigentlich auch noch folgendes:
"Verkauft jemand seine Tochter als Sklavin, so darf sie nicht freigelassen werden wie die Sklaven." 2 Mos 21,7
"Wenn jemand bei einem Manne liegt wie bei einer Frau, so haben sie getan, was ein Gräuel ist, und sollen beide des Todes sterben; Blutschuld lastet auf ihnen." 3 Mos 20,13
Ich nehme aber an dass du all das nicht vertrittst. Weil du stattdessen deine eigenen Werte hast.
Falls deine Werte übrigens nicht nur "aus der Bibel" kommen sondern eigentlich von Gott hier eine kleine Denkaufgabe:
Sind deine Werte gut weil sie von Gott kommen oder kommen sie von Gott, weil sie gut sind? Im ersten Fall könnte Gott auch vorgeben dass Vergewaltigungen gut wären, im zweiten Fall bräuchte es Gott nicht für gute Werte.