Autonomie fördern (bei Langzeittherapien)?

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.

montagne
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 99
Beiträge: 4600

Beitrag So., 08.01.2017, 19:57

sandrin hat geschrieben:Kann es nicht sein, dass wir hier alle von verschiedenen Graden und Formen der Abhängigkeit sprechen? Das ist ja doch ein sehr weiter Begriff.
Es gibt ja auch verschiedene Grade...

Die Frage ist, was ist gesund, was nicht mehr?
Was du beschreibst, sich gedanklich nur noch um die Therapeutin drehen, usw. am Rande des wirklichen Nervenzusammenbruchs zu sein, wenn es eine Pause gibt, ist wohl ehe rnicht gut, aber na ja... deswegen ist man ja (auch) in Therapie.

Ebenso finde ich es aber nicht gut so zu leben, als sei man von nichts und niemandem abhängig. Ist ne Illusion, denke ich. So ging es mir früher und diese Illusion wird zum einen immer mal wieder gestört, zum anderen führt es zu einem Lebensstil, der über die eigenen Kräfte hinaus geht und der es fast unmöglich macht, sich "Hilfe" zu holen, bei Freunden, Dienstleistern usw. Und wenn man sie holt geht ein Kopfkarusell los, was nur schwer aushaltbar ist. Insgesamt ein mehr als anstrengendes Leben.
Auch das lässt sich ja therapeutisch bearbeiten.

Wieder mal die Tatsache, dass man für Therapie das können muss, was man eigentlich erst Ziel der Therapie sein soll. Kann man sich nicht ausreichend einlassen, wird einem so manches verschlossen bleiben. Macht man sich zu sehr abhängig, kann das Erwachen böse sein und es bleibt einem ohnehin auch so manches verschlossen.
amor fati

Werbung


mio
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 44
Beiträge: 9268

Beitrag So., 08.01.2017, 20:12

MariJane hat geschrieben:eine weiße Wand entwickelt, kann ich mir kaum vorstellen. In der gesunden kindlichen Entwicklung sind deine Eltern ja eben keine weißen Wände, sondern reagieren auf dich (im besten Falle angemessen).
Die "weisse Wand" wird als "Projektionsfläche" verstanden auf der die ehemals im Kind vorhandenen Gefühle und Konflikte den Eltern gegenüber "reinszeniert" werden. Solche "Reinszenierungen" hast Du ja auch in anderen Therapieformen, nur dass sie da nicht so "hochgehängt" werden und der Therapeut sich aktiver einbringt, um sowas "abzuschwächen". Der Hintergrundgedanke dabei ist, dass es gerade die "weisse Wand" (und das Regressionsfördernde Setting) ist, die diese Gefühle und Konflikte überhaupt erst deutlich sichtbar werden lässt. Denn sehr frühe oder gut abgespaltene/verdrängte Inhalte sind dem Bewusstsein ja nicht so einfach zugänglich. Dh. Du bedienst Dich eigentlich der "Abwehr" des Patienten um diese "auszuhebeln".

Das ist mit ein Grund, warum Analyse auch retraumatisierend sein kann, wenn der Patient darüber in "der alten" Situation (also im Trauma) landet und sich genauso allein gelassen fühlt vom Therapeuten wie er es in der traumatischen Situation war. Dann schadet es mehr, als dass es was bringt.

Im besten Falle werden die ehemals vorhandenen/gemachten Gefühle/Erfahrung darüber "dem Bewusstsein zugänglich" und damit bearbeit- und veränderbar. Im schlechtesten Falle retraumatisiert es.

Ich kenne solche "Übertragungen" auch aus der TfP, wo Kindteile von mir eine höllische Angst vor der Thera haben zB.. Ich weiss zwar, dass das Käse ist, aber für die Anteile ist das "echt" (und für mich fühlt es sich auch körperlich genau so an). Darüber lässt sich ja zB. auch was erfahren, also dass da eine Angst ist, die wohl "Autoritäten" bzw. "meiner Mutter" gilt. Würde ich sie dann noch nicht mal sehen, dann würde ich zB. durchdrehen oder eben dissoziieren (merke ich immer, wenn sie hinter mir am Schreibtisch ist, dass das dann "stärker" wird), weil ich sie "noch weniger" einschätzen könnte und sie damit noch "gefährlicher" wird. Ist natürlich kompletter "Unsinn" so aus der Erwachsenenperspektive heraus, aber es ist da emotional. Und damit eben auch wichtig.

Benutzeravatar

sandrin
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 33
Beiträge: 3313

Beitrag So., 08.01.2017, 20:31

Wobei ja gerade in der TfP die Zeit recht knapp ist, um wirklich tief zu gehen.


mio
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 44
Beiträge: 9268

Beitrag So., 08.01.2017, 20:36

sandrin hat geschrieben:Wobei ja gerade in der TfP die Zeit recht knapp ist, um wirklich tief zu gehen.
Ja, das ist durchaus ein Problem. Allerdings gibt es zumindest bisher da noch "Möglichkeiten". Kommt halt auf den Thera an und dessen Einstellung.

Werbung


MariJane
Forums-Gruftie
Forums-Gruftie
weiblich/female, 28
Beiträge: 998

Beitrag So., 08.01.2017, 20:38

@mio
Ok, so wie du es beschreibst, habe ich mir das vorgestellt. Ich hatte für 12 Wochen in der Tagesklinik ne Therapeutin, die für mich unter "Miss Superneutral" lief, meine persönliche weiße Wand und ich konnte da absolut keine Gefühle entwickeln. Ich war ebenfalls gefühlt neutral, hatte keine Meinung, außer das mich das alles irgendwie genervt hat. Ich hatte nicht das Gefühl in nem Dialog zu stehen und fand das ätzend. Deshalb ist die Frage aufgekommen. Was isabe schrieb, hat mir in dem Sinne erläutert, wie da trotzdem Gefühle entstehen können. Ich nehme mal an, die Therapeutin und ich hatten uns quasi wirklich nichts zu sagen- auf allen Ebenen.

Benutzeravatar

Lockenkopf
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 52
Beiträge: 2400

Beitrag So., 08.01.2017, 20:56

sandrin hat geschrieben:Wobei ja gerade in der TfP die Zeit recht knapp ist, um wirklich tief zu gehen.
Sehe ich nicht so.
Die Übertragungen finden sehr wohl auch in der TfP statt, wie Mio ja so schön geschildert hat. Und bearbeiten kann man sie auch, wenn man bei einem fähigen Psychotherapeuten ist.
Liebe Grüße
Lockenkopf

Benutzeravatar

sandrin
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 33
Beiträge: 3313

Beitrag So., 08.01.2017, 21:10

Bin ich, ändert aber nichts an der Komplexität und Breite der Problematik und der Tatsache, dass nun einmal in der begrenzten Zeit nicht alles geht.


mio
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 44
Beiträge: 9268

Beitrag So., 08.01.2017, 21:16

MariJane hat geschrieben:@mio
Ich hatte für 12 Wochen in der Tagesklinik ne Therapeutin, die für mich unter "Miss Superneutral" lief, meine persönliche weiße Wand und ich konnte da absolut keine Gefühle entwickeln. Ich war ebenfalls gefühlt neutral, hatte keine Meinung, außer das mich das alles irgendwie genervt hat. Ich hatte nicht das Gefühl in nem Dialog zu stehen und fand das ätzend.
Mir würde es damit genauso gehen. Mir wäre es einfach zu wenig "spürbarer" Kontakt.

Aber ich kann auch nachvollziehen, dass es für manche Menschen scheinbar "mehr" Kontakt zu sich selbst bedeutet, wenn da kein anderer "wirklich spürbar" ist. (Ich hab da mal mit einer Freundin drüber gesprochen, als ich mit der Thera anfing. Also wie das bei ihr so läuft und was sie sich so wünscht und so. Und da kam die klare Aussage: Ich will reden. Ab und zu frage ich nach der Zeit. Aber im Prinzip weiss ich ja schon alles und die muss gar nix sagen dazu. Soll sie auch gar nicht... Fand ich damals erst mal cool, aber im zweiten Moment dachte ich mir: Moment? Was soll ich denn dann da? Dann kann ich doch auch mit der Wand in meiner Küche reden....Aus ihrer Warte heraus ging es wohl darum, dass sie überhaupt mal "RAUM" bekam. Das kann ich so für sich nicht nachvollziehen, da mir das "zu wenig" wäre.).

Für mich wäre es nach wie vor nix, allenfalls modifiziert. Weil ich mir ungefähr ausmalen kann, wie ich darauf reagieren würde. Eben mit: Nichts. Und ich habe da öfters mal drüber nachgedacht und auch mit meiner Thera (die da nicht anti ist oder so) drüber gesprochen.

Ich denke es muss einfach "individuell" passen. Tut es das nicht, dann bringt es auch nicht viel.


MariJane
Forums-Gruftie
Forums-Gruftie
weiblich/female, 28
Beiträge: 998

Beitrag So., 08.01.2017, 21:35

@mio: Doch, dass kann ich schon irgendwie verstehen, was deine Freundin meint. Mein Therapeut hat mir auch sehr viel Raum dafür gegeben, erstmal wieder zu mir zu kommen- so würde ich das beschreiben. Manchmal kann es schon sehr helfen, wenn man jemandem erstmal seinen ganzen Mist vor die Füße klatscht und der maximal bestätigt, dass das wirklich alles ne Katastrophe war. Er hat mir sozusagen den seelischen Mülleimer gemacht und das war sehr befreiend. Allerdings war er nicht neutral, sondern bei mir, wenn auch distanziert. Ich hab einfach mal jemanden gebraucht, der nichts von mir erwartet und dem ich alles erzählen kann. Mittlerweile ist er schon therapeutischer geworden, erzählt mir auch mal, wie ich etwas besser handhaben könnte- das darf er aber nur, weil er mal mein Mülleimer war, weil ich in dieser Phase gemerkt habe, der versucht wirklich mich zu verstehen, ist bei mir, fragt auch mal nach, um wirklich zu verstehen. Das Gefühl könnte ich bei einer weißen Wand nicht entwickeln.


mio
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 44
Beiträge: 9268

Beitrag So., 08.01.2017, 21:41

MariJane hat geschrieben:Das Gefühl könnte ich bei einer weißen Wand nicht entwickeln.
Das meinte ich. Mir gibt das "spüren" und "sehen" und "hören" des anderen diesen Raum. Also die "spürbare Anwesenheit", das "Feedback" eines anderen Menschen. Für meine Freundin wäre es wohl eher so gewesen, dass ihr das den genommen hätte, wenn ich sie da richtig verstanden habe.


MariJane
Forums-Gruftie
Forums-Gruftie
weiblich/female, 28
Beiträge: 998

Beitrag So., 08.01.2017, 21:49

mio hat geschrieben:
MariJane hat geschrieben:Das Gefühl könnte ich bei einer weißen Wand nicht entwickeln.
Das meinte ich. Mir gibt das "spüren" und "sehen" und "hören" des anderen diesen Raum. Also die "spürbare Anwesenheit", das "Feedback" eines anderen Menschen. Für meine Freundin wäre es wohl eher so gewesen, dass ihr das den genommen hätte, wenn ich sie da richtig verstanden habe.
Ah, ok. Kann ich mir aber auch vorstellen, nicht selber, aber ganz abstrakt: Das gibt dir natürlich den Freiraum einfach du selbst zu sein, weil du nicht mit irgendwelchen Reaktionen umgehen musst. Das ist wahrscheinlich echt Geschmackssache und vielleicht eine Frage des eigenen Störungsbildes. Weiß ich nicht, bin kein Psychologe.


Thread-EröffnerIn
isabe
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
anderes/other, 39
Beiträge: 3066

Beitrag So., 08.01.2017, 21:51

Es ist nicht nur so, dass man es sich "erspart", sich mit Reaktionen auseinandersetzen zu müssen; wichtiger erscheint mir die Lücke, die durch die ausbleibenden Reaktionen entsteht und die gefüllt wird mit eigenen Phantasien.


mio
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 44
Beiträge: 9268

Beitrag So., 08.01.2017, 21:55

isabe hat geschrieben:und die gefüllt wird mit eigenen Phantasien.
Und das was Du so dezent Phantasien nennst ist eben Projektion. Die Grundlage jeder Analyse. Das Grundprinzip der "Leinwand".

http://www.zeitzuleben.de/sind-sie-ein-projektor/


MariJane
Forums-Gruftie
Forums-Gruftie
weiblich/female, 28
Beiträge: 998

Beitrag So., 08.01.2017, 22:05

isabe hat geschrieben:Es ist nicht nur so, dass man es sich "erspart", sich mit Reaktionen auseinandersetzen zu müssen; wichtiger erscheint mir die Lücke, die durch die ausbleibenden Reaktionen entsteht und die gefüllt wird mit eigenen Phantasien.
Hat bei mir damals gar nicht funktioniert. Ich hab keine Phantasien oder sonstwas entwickelt, Oder vielleicht doch? Bei mir löste die Haltung aus, dass die Frau mir vollkommen egal war. Ich schien es ihr ja auch zu sein. Also bin ich artig hingegangen, hab erzählt, was mich gerade beschäftigt und bin wieder gegangen. Und fragte mich, was das soll...


Thread-EröffnerIn
isabe
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
anderes/other, 39
Beiträge: 3066

Beitrag So., 08.01.2017, 22:09

Das funktioniert auch nicht auf Knopfdruck, sondern es muss so etwas wie eine Beziehung geben, also Sympathie und Interesse am Anderen und am Gegenstand. Es ist gar nicht denkbar, dass jeder bei jedem eine Analyse machen kann. Wenn du also in einer Klinik jemanden vorgesetzt bekommst, dann ist das ja nicht deine Entscheidung: "Ich würde gerne eine Analyse machen", sondern du wirst von einer Institution dazu aufgefordert, irgendwie zu funktionieren. Das könnte ich auch nicht. Ganz sicher nicht.

Es muss so was wie ein "Arbeitsbündnis" entstehen, das dafür sorgt, dass beide am selben Projekt arbeiten wollen.

Werbung

Antworten
  • Vergleichbare Themen
    Antworten
    Zugriffe
    Letzter Beitrag