Nutzen/Sinn der Diagnosestellung

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hawi
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 12:35

Jepp stern, titus und Yamaha!!!!

Soweit zum doch sehr Verfälschenden, eigentlich schon Falschem bzgl. des Therapiebedarfs.
Von mir noch was zur ebenso missratenen Sicht auf Therapeuten, ihr Leistungsangebot.
Es fehlt z.B. völlig, dass Therapeut ja nicht gleich Therapeut ist. Es mag absolute Allrounder gaben, aber soweit mir bekannt, zumindest nicht unbegrenzt.
Weil im Artikel borderline genannt wird, das angeblich im Vergleich zu Born Out vom Therapeuten lieber gar nicht erst therapiert wird. Keine Ahnung wer da sonst noch mitbestimmt, aber wenn so was passiert, dann wohl oft eher vor dem Hintergrund, dass sich Therapeuten für diese Störung schlicht nicht für ausreichend qualifiziert halten. Weniger Born Out Therapien würden also nicht automatisch zu mehr Therapien von z.B. borderline führen. Behauptet der Artikel zwar auch nicht, aber er legte es schon drauf an, so gelesen zu werden, finde ich.

Klar dürfte auch sein, dass manch ein Klient mehr Arbeit macht als andere, womöglich auch eine ganze Gruppe von Klienten mit ähnlicher Diagnose. Wenn das so ist, wenn aber umgekehrt so was vergütungstechnisch eher nicht berücksichtigt wird, auch dann könnte gut verstehen, wenn Therapeuten solche Fälle eher ungern annehmen.

Zwar ist das Gebiet wohl ziemlich reguliert, aber Therapeut ist ja ein meist frei ausgeübter Beruf. Therapeuten sind nun mal nicht Angestellte des Staates oder der Allgemeinheit. So gesehen können Therapeuten gar nicht vorwerfbar faul sein, allenfalls jeweils in ihren eigenen Augen.

Wo nun wirklich Fehlentwicklungen sind, welche Ursachen sie haben und wie es womöglich besser ginge? Immerhin findet sich ein wenig dazu auch im Artikel. Aber doch sehr versteckt hinter der Entrüstung, der schwarz/weiß Meinungsmache
„Das Ärgerlichste in dieser Welt ist, daß die Dummen todsicher
und die Intelligenten voller Zweifel sind.“
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stern
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 15:18

titus2 hat geschrieben:
Spiegel hat geschrieben:Viele vergleichsweise leichte Probleme, die in den Praxen manchmal über Jahre aufgearbeitet würden, ließen sich nach Melchingers Meinung anders lösen - durch Selbsthilfegruppen, Sport oder autogenes Training.
Auch das ist so unsinnig: Natürlich hilft Sport und niemand sagt was gegen Selbsthilfegruppen und autogenes Training.

Aber letztlich ist doch die rhetorische Botschaft dieses Satzes: "Man soll sich nicht so anstellen". Was, bitte, ist ein 'leichtes Problem'?
Das frage ich mich auch, wie sich hier "leichtes Problem" präzisieren liese, das man mit Hilfe von Selbsthilfe, Sport bzw. autogenes Training angeblich lösen könne. Diese Aussage kann nämlich gut und gerne auch implizieren, es liegt gar keine Erkrankung vor (sondern ein Problem, das zudem nichtmal mittel oder schwer, sondern ganz einfach sein soll. Fragt sich nur, was damit gemeint ist).

Und natürlich kann Sport nützliche Effekte haben (manche hat es sogar erwiesenermaßen, autogenes Training ebenfalls). Nur muss man auch klar sagen, Sport oder auch autogenes Training ist nicht unbedingt Auseinandersetzung mit dem Problem bzw. unmittelbarer Problemlöser (halt je nach Problem... also bei Übergewichtsproblemen hat Sport evtl. eine andere Wirkung als bei einer Eifersuchtsproblematik)... beides kann auch schlichtweg als Ablenkung von eigenen Problemen sein, die dann trotz Sport bestehen bleiben. Und bei einer ernsthaften Erkrankung kommt auch in der Medizin niemand auf die Idee, Selbsthilfe reiche aus... auch in der PT nicht (wobei natürlich positive Effekte davon ausgehen können). Selbst der verantwortungsvolle Apotheker schickt mitunter zum Arzt zwecks Abklärung anstelle irgendwelche freiverkäuflichen Mittelchen an den Mann bzw. Frau zu bringen.

Und das schwingt ja in dem ganzen Artikel mit: Pöse vermeintlich kranke nehmen ernsthaft kranken die Therapieplätze weg... und sind schuld, wenn Behandler keine borderline Patienten behandeln, vgl. z.B.
echte oder vermeintliche Burnout-Opfer blockieren die Praxen.
Die Schwemme von vermeintlich kranken Opfern halte ich für ein Gerücht. Würde es eher so sehen, dass der Journalist hier ein paar Zitate kontextlos zusammengeschnitten hat... um den Artikel eine gewünschte Aussage zu geben oder schlichtweg wenig Erfahrung bzw. Bezug zu psychischen Erkrankungen hat oder selbst voreigenommen ist. Dass es etwas reißerisch sein muss, gehört wohl auch zum Geschäft. In anderen Worten: Manche Leute bilden sich nur ein krank zu sein bzw. stellenweise Bagatellisierung von Depressionen, die nun wirklich nicht unbedingt als einfache bzw. leichte Erkrankung gesehen werden, geschweige denn als Problem, bei dem ein bisschen Selbsthilfe ausreicht. Und das eigentlich noch schlimmere daran: Solche Aussage tragen nun wirklich nicht dazu bei, psychische Erkrankungen/Diagnosen in der Öffentlichkeit zu ent-stigmatisieren... sondern füttern in gewisser Weise noch manche Bilder, wie sie eh bereits existieren. Vgl. Titus: Der leicht kranke müsse sich nur etwas zusammenreißen, etwas Sport machen, vielleicht noch eine Selbsthilfegruppe besuchen... reicht aus. Für was braucht er noch ein Therapie. Dass er eine Therapie macht sei sogar asozial, weil er damit denen, die es wirklich brauchen, den Platz raubt. Etwas überspitzt... aber soweit entfernt davon liegt die Aussage des Artikels gar nicht. Man hätte es auch anders aufziehen können, weswegen ein borderline Patient nicht unbedingt leicht einen ambulanten Therapieplatz erhält (was durchaus so sein soll), wenn man sich dieser Fragestellungen ernsthaft hätte widmen wollen. O.k. manche Anhaltspunkte gibt es ja: Z.B. Fehlende Fortbildung... aber leider wird die Problematik mMn in eine verzerrtes Licht (von vielen eingebildeten kranken) gerückt.
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 16:21

Mit schwerem oder leichtem Problem ist nun nicht gemeint, ob ein schweres oder leichtes (bekanntes) Trauma vorliegt. Man kann auch ohne schwere Traumen in der Kindheit einen erheblichen Dachschaden haben, wenn eben die Beziehung zu den Bezugspersonen nicht ausreichend haltend und sicher war.

Ansonsten ist es schon so.. je kränker jemand ist, umso schwieriger hat sie/er es einen Platzt zu finden. Schwere Borderline-Pathologien oder gar Psychosen, das ist schon schwer selbst mit Insiderwissen und Kontakten für solche Leute ambulante Therapien zu organisieren.
Und das Akademiker eher Plätze erhalten als Menschen aus bildungsfernen Schichten stimmt ja auch. Trotzdem hilft das Fitnessstudio-Abo nicht gegen die Depression, zu schön wärs.

Selbstzahler hat auch nur bedingt was damit zu tun, ob jemand ein schwerer oder leichter Fall ist. Wenn das Stundenkontingent ausgeschöpft ist und noch keine ausreichende Heilung erreicht wurde, was häufig vorkommen dürfte, da insbesondere Verhaltenstherapie heute eine andere ist, als damals, als die Kontigente mit den Kassen verhandelt wurden. Dann sagt die Kasse: Okay, wenn es ihnen nach 60-80 Stunden noch nicht gut genug geht, dann Klinik. Klinik wäre viel teurer, als ambulant weiter zu amchen, aber die Kassen zahlen ja auch eher Operationen als Krankengymnastik.
Ich persönlich greife dann lieber in die eigene Tasche und zahle auch mal selbst, statt mir eine so unnötig invasive Behandlungsform anzutun. Egal ob nun psychisch oder körperlich.

Abgesehen davon ist der vergleich von schwer und leicht unsinnig. Auch unter vermeindlich leichten Störungen, vgl. Zwang versus Persönlichkeitsstörung oder Phobie versus Psychose kann man ziemlich fies leiden und im Alltag sehr eingeschränkt sein, bis hin zur Arbeitsunfähigkeit.
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stern
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 16:26

Mich hätte interessiert, was der Autor mit einfachem Problem meint, auf das er sich bezieht (und für was Selbsthilfe ausreichen soll) ohne es zu präzisieren (und was verantwortlich dafür sein soll, das schwer kranke keinen Therrapieplatz erhalten)... so ist mir unklar wovon er spricht, z.B. auch ob damit überhaupt eine Erkrankung gemeint ist.
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 17:15

Und man muss (bzw. besser gesagt: kann) auch beachten, auf wen sich der Autor bezieht, der hier als Experte für psychiatrische Versorgung angepriesen wird (ohne dass der Autor selbst kritisch Stellung bezieht, sondern einfach die umstrittenen These von Melchinger übernimmt, der PT wohl nicht so freundlich gegenüber steht, mitunter für Vergleiche von Äpfel und Birnen oder fehlenden Präzisierungen kritisiert wird. Kann man ja bei Bedarf recherchieren, vgl. z.B. http://data.aerzteblatt.org/pdf/PP/8/1/s15.pdf .

Dass es für borderline Patienten nicht leicht ist, einen Therapieplatz zu finden, ist unbestritten... nur die Kausalitäten sind mMn fragwürdig (z.B. dass Patienten ohne nennenswertes Problem, auf die sich PT mit jahrelangen Therapien stürzen, daran schuld sein sollen). Ist halt alles auch Darstellungssache... man kann mMn vieles in das Licht rücken, in das man es sehen will. Seine Thesen kann man aber durchaus kontrovers sehen.
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 19:01

Also eigentlich meinte ich mit "leichte Fälle" in erster Linie solche Patienten/Klienten, die gar keinen oder nur einen geringen Leidensdruck verspüren und sogar von sich selbst sagen, dass sie eigentlich gar nichts mehr in der Therapie bearbeiten. Auf diesen Leidensdruck wollte ich wiederum hinweisen, weil nur daraus verständlich wird, warum viele Patienten - eben mit ausreichend großem Leidensdruck - nicht nur nichts gegen die Diagnosestellung haben, sondern sogar froh sind, etwas Greifbares (eben die Diagnose) zu erhalten, um sich aus ihrem Leid herausarbeiten zu können und ihr Problem überhaupt zu erkennen und als greifbares, formuliertes Problem umrissen und anerkannt zu sehen. Darum ging es ja auch im Thread, der Frage nach dem Sinn und Nutzen der Diagnosestellung.

Oder einfacher ausgedrückt: Wenn es einem wirklich schlecht geht, verändern sich die Relationen und der Stolz des Normalsein-Wollens nimmt mit zunehmendem Leidensdruck ab. Dann will ein Patient in der Regel einfach nur noch wissen, was nicht in Ordnung ist und wo sich etwas an der Lebensqualität verbessern lässt. Dafür braucht es aber eine Diagnose, um nicht im Dunkeln zu tappen. Eine Diagnose ist zwar eine künstliche Konstruktion (sagt auch mein Thera), aber mehr soll sie auch nicht sein als ein Verständnismodul, um die unbewussten Mechanismen besser durchschauen zu können. Natürlich relativiert sich das dann während der Therapie. Das Konstrukt wird individualisiert, so wie ein Konfektionskleid oft nicht sofort sitzt, sondern angepasst werden muss. Irgendwo braucht es eben ein Grundschnittmuster.
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 20:45

@elena: Der Anteil der Klienten die Therapie machen und wirklich -keinen- Leidensdruck haben, dürfte derart gering sein, bitte sollen sie es doch tun. Die Versorgungslage der schweren Fälle würde wohl kaum besser sein.

Abgesehen davon glaube ich nicht, das es irgend jemanden gibt der nicht am Leben an sich leidet. Leid gehört zum Leben, auch bei psychisch guter Verfassung. Warum soll man sich dann nicht auch mal punktuell Unterstützung holen? Es sagt doch auch kaum jemand was dagegen, dass sich fast jeder mal wegen harmlosen, ordinären Rückenschmerzen von ner Physiotherapeutin (auf Kassenkosten!) massieren lässt, obwohl es sehr wohl orthopädisch schwerst eingeschränke oder verletzte Menschen gibt, für die Physiotherapie überlebenswichtig ist.

Dann will ein Patient in der Regel einfach nur noch wissen, was nicht in Ordnung ist und wo sich etwas an der Lebensqualität verbessern lässt. Dafür braucht es aber eine Diagnose,
Nö. Nicht jeder fährt so auf (s)eine Diagnose ab, wie du.
Die Diagnose braucht in erster Linie die Therapeutin, weil nur mit dem Zauberwort psychische Störung Leistungen von Krankenkasse und Versorgungsämtern abrufbar sind. Dafür ist eine Diagnose sicher berechtigt. Ohne Diagnse keine Leistungen.

Alles andere sehe ich individuell. Manch ein Klient möchte seine Diganose auch als ICD Schlüssel wisen, ein anderer möchte das nicht. Ich zum Beispiel habe meine Diagnose nie erfragt. habe mit der Therapeutin verabredet, dass sie mir die nur sagt, wenn ich frage und das habe ich bisher nicht. Wohl aber kann ich mein Problem in, was mit mir "nicht in Ordnung" war oder ist in Worte fassen. Ebenso wie ich in Worte fassen kann, was bei mir stimmt und wo ich Stärken habe.
Das mal als Beispiel.


Ich finde Diagnosen haben schon Sinn für unterschiedliche Dinge. Aber man braucht sie nicht zwingend um sich kennen zu lernen. ich sehe auch eher die Gefahr, dass eine Diagnose einem im Weg stehen kann sich kennen zu lernen, weil sie eben den Fokus schon einengt. Und damit vielleicht auch Entwicklungsmöglichkeiten einengt. Muss nicht sein, kann aber.
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 21:43

elana hat geschrieben:Dafür braucht es aber eine Diagnose, um nicht im Dunkeln zu tappen.
Meinst du, für die meisten Menschen, ist die Diagnose eine riesige Überraschung? Glaube ich jetzt eher weniger. Wenn jemand mit einem Essproblem in die Therapie geht, hat der vielleicht eine Ahnung, dass eine ES vorliegen könnte. Jemand dessen Stimmung mies ist, ahnt evtl. hingegen eine Depression. Jemand der täglich stundenlang duscht, der ahnt, wenn er eine Therapie aufsucht, dass das Waschverhalten vermutlich nicht üblich ist und Probleme bereitet... und denkt evtl. bereits selbst in Richtung Zwang. Jemand der täglich trinkt und deswegen eine Therapie aufsucht, der wundert sich vermutlich nicht, wenn eine Sucht in Erwägung gezogen wird. Und doch hatte das Bewusstsein nicht oder nicht bedingt geholfen, sich selbst zu helfen. Also in anderen Worten: Für nicht jeden dürfte die Diagnose das Aha-Erlebnis schlechthin sein... und selbst wenn man den offiziellen Namen nicht weiß: Das was in Therapie führte und Schwierigkeiten bereitet, können die meisten benennen, behaupte ich. So dass man darüber auch einen Konsens herstellen kann, worum es geht. Klar gibt es Patienten, bei denen es nicht so eindeutig ist oder komorbide Störungen bestehen, aber es ist nicht so, dass es für jeden ein Tappen im Dunkeln ist, wenn er die Diagnose nicht weiß, die erstmal nicht mehr besagt als bestimmten Defiziten einen Namen zu geben.
Also eigentlich meinte ich mit "leichte Fälle" in erster Linie solche Patienten/Klienten, die gar keinen oder nur einen geringen Leidensdruck verspüren und sogar von sich selbst sagen, dass sie eigentlich gar nichts mehr in der Therapie bearbeiten.
Denke ich auch, dass der Anteil marginal ist... denn wieso einen finanziellen und zeitlichen Aufwand auf sich nehmen, wenn man kein Anliegen hat bzw. sich nichts davon verspricht.

Melchinger (den du zur Untermauerung deiner Thesen herangezogen hast) ist für mich schlichtweg ein Psychiater, der befindet, dass es PT im Vergleich zu Psychiatern finanziell besser ergeht (was er ungerecht findet)... und sich für den Geldbeutel der Psychiater engagiert. Und argumentiert auch gerne, dass PT die leichten Patienten nehmen... und die Psychiater die schweren Fälle für weniger Vergütung. Wie er das ableitet, ist echt fraglich. Das ist das, worum es ihm nach meinem Verständnis geht... er formuliert das bestenfalls etwas elaborierter als Fehlallokation von Ressourcen (platter gesagt: Die Mittel erhalten die falschen, also die PT und nicht die Psychiater), um seinen gebetsmühlenartigen Behauptungen noch etwas mehr Gewicht zu verleihen. Geht also wieder mal ums Budget.

Wie gesagt: Dass es nicht für jeden leicht ist, eine PT-Platz zu erhalten ist unbestritten... z.B. wenn jemand borderline oder eine Psychose hat (aber nur die Diagnose ist da auch nicht der einzige Indikator). Dass er nicht argumentiert, es gibt eine Untervorgung als PT (als einen kausalen Grund für die Versorgungslage) ist auch klar, da er eh befindet, es gibt sogar zuviel Psychotherapeuten... noch mehr wären gar kontroproduktiv. Manche Thesen, die er in den Raum setzt tragen mMn eher noch dazu bei, das psychische Diagnosen noch weiter stigmatisiert werden. Vgl. auch hier eine kritische Sicht zu Melchinger: http://www.dgvt-bv.de/fileadmin/user_up ... ik__1_.pdf
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 22:37

Also eigentlich habe ich mich nur auf den Spiegel-Artikel bezogen. Melchinger wurde dort am Ende zitiert, aber ich habe mich nicht speziell auf ihn bezogen, sondern auf den Artikel und eigentlich eher den Borderline-Experten im Auge gehabt, der auch zitiert wurde, weil ich das eben nicht in Ordnung finde, wenn wirklich leidende Borderliner und vergleichbare schwierige Fälle so ausgebootet werden bzw. sie weniger gut einen Therapieplatz finden. Und ich finde es auch nicht in Ordnung, wenn Klienten ohne echten Leidensdruck jahrelang Therapie für sich in Anspruch nehmen, nur weil sie sich das leisten können. Ich denke, das sind mehr als hier postuliert. So müssen ihre Theras gar keine neuen Klienten anstelle ihrer suchen, weil sie ja versorgt sind.
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 23:26

Die schwierigen Fälle werden wohl eher tendentiell ausgebootet, weil sie eben schwierig sind. Liegt in der Natur der Sache.
Letzlich kann man niemanden, auch Therapeuten nicht zwingen mit Menschen zu arbeiten, mit denen sie fachlich oder persönlich nicht klar kommen. Auh da sist Berufsethik. Wäre schadhaft für den Klienten.

Abgesehen davon, wie genau definiert ich echtes Leid? Was unterscheidet es von.. ja was.. unechtem Leid?
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 23:31

Deshalb müssten eben die Theras Weiterbildung machen, damit sie mit schwierigen Fällen besser klarkämen. Und gerade die Berufsethik sollte doch eigentlich dazu verpflichten, schwierige Fälle nicht abzulehnen. Da wäre ich für eine Quotenregelung. Das Thema gibt´s auch bei den Arztpraxen, wo chronisch Kranke mit großem Medikamentenverbrauch auch benachteiligt werden. Weiß ich sogar von einem Arzt persönlich, den ich privat kenne und der sich für sozial Schwache politisch engagiert. Seine Praxis lohnt sich fast nicht für ihn, weil er im Gegenzug zu den anderen Ärzten so viele chronisch Kranke übernimmt, dass er sogar in unserer Region bekannt dafür ist.
Lieben Gruß
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stern
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Beitrag Fr., 19.04.2013, 23:52

elana hat geschrieben:Melchinger wurde dort am Ende zitiert, aber ich habe mich nicht speziell auf ihn bezogen, ...
oben wurde er nochmals zitiert mit der These, dass Psychotherapeuten in Deutschland von Menschen überflutet werden, die (evtl. auch fälschlicherweise) glauben ein burnout zu haben, so dass Menschen mit viel schweren Problemen noch weniger Chanche auf einen Platz haben sollen. Finde ich schon krass, was er von sich gibt... aber habe ich ja ausgeführt.
sondern auf den Artikel und eigentlich eher den Borderline-Experten im Auge gehabt, der auch zitiert wurde, weil ich das eben nicht in Ordnung finde, wenn wirklich leidende Borderliner und vergleichbare schwierige Fälle so ausgebootet werden bzw. sie weniger gut einen Therapieplatz finden.
und eben diese Differenzierung: xy ist leicht und schuld daran, wenn schwierige Fälle wie borderline keinen Platz erhalten, finde ich bedenklich... hatte ich ja auch begründet. Jede Störung erzeugt ihr Leid auf ihre Art und Weise. Hier auch noch ein Zitat aus dem vorangegangenem Link:
Er muss für sein krudes Urteil, dass nur leichte Depressionen und neurotische Störungen zunähmen, eine Menge Literatur einfach nicht zur Kenntnis nehmen. Wo sortiert Melchinger den Tod durch Essstörung oder den Suizid bei Borderlinestörungen ein und wie sortiert er ADHS ein?
Kann er hier eine Zunahme zum bloßen Gerücht erklären? Könnte es sein, dass er mit „leichten“ und „schweren Störungen“ eine ungeeignete Kategorie verwendet - zudem eine Kategorie, die von der alten katastrophenmedizinischen Rationierungslogik der Triage ausgeht? Könnte es auch sein, dass die medizinische Verachtung für die
„bloße Befindensstörung“ hier als recyceltes Gespenst für psychische Störungen fungiert? Melchinger verrät uns leider nicht, was er mit den „leichten Störungen“ versorgungsmäßig vorhat. ...
Wie aber bemisst der mitfühlende Melchinger Leid, wenn er sich für die benachteiligten Schwerkra
nken einsetzt? Sollen nach seiner Logik jetzt andere, die sog. Leichtkranken benachteiligt werden?
Ist deren Leid eher hinnehmbar oder ist es gar nur eine psychotherapeutengemachte Illusion?
http://www.dgvt-bv.de/fileadmin/user_up ... ik__1_.pdf
Was soll den eine einfache bzw. leichte Störung ausmachen? Oder soll die Ressourceneinteilung danach erfolgen, wer am meisten leidet (sofern man diese insbes. auch subjektiven Parameter überhaupt oeprationalisieren kann)? Mir erschließt sich das wirklich nicht. Auch Melchinger verschweigt galant, wovon er eigentlich spricht, wenn er sich auf "einfache Probleme" bezieht.
Und ich finde es auch nicht in Ordnung, wenn Klienten ohne echten Leidensdruck jahrelang Therapie für sich in Anspruch nehmen, nur weil sie sich das leisten können. Ich denke, das sind mehr als hier postuliert.
Zahlen kann man evtl. heraussuchen... ich meine, ich hatte neulich sogar mal etwas verlinkt, was Selbsterfahrungen angeht (wobei das über den Leidensdruck unmittelbar nichts aussagt) müsste ich aber selbst suchen, wozu ich gerade keinen Humor habe. Nur: Was was heißt "ohne echten Leidensdruck"... also was nimmst du dann für Motivationen an, wenn jemand jahrelang zu einem Therapeuten geht? Also irgendeinen Sinn wird man sich ja versprechen, wenn man Zeit und Geld investiert... so nach meinem unmaßgeblichen Menschenbild angenommen. Also ich finde Selbsterfahrung legitim (und da sind bestimmt auch einige bei Therapeuten der verschiedensten Richtungen, die gar keine Zulassungen haben). Und wer ausreichend Geld hat, kann sich meinetwegen auch 17 Kühlschränke in die Wohnung pflastern, für die er gar keinen Bedarf hat (und muss das nicht für bedürftige spenden, was sicherlich edel wäre)... nur gehe ich davon aus: Wenn man partout keinen Sinn darin sieht und auch nicht einer Kaufsucht erliegt, macht man das "normal" nicht. Sondern irgendetwas dürfte sich derjenige vermutlich erhoffen.
Zuletzt geändert von stern am Sa., 20.04.2013, 00:04, insgesamt 1-mal geändert.
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Beitrag Sa., 20.04.2013, 00:03

@stern

Ich verstehe nicht, warum Du immer so tust, als wäre ich Melchinger. Ich habe meine eigenen Gedanken dazu geäußert und meine eigenen Schlüsse gezogen, die sich hauptsächlich im Kontext zu Yamaha entwickelten, die ja öfter schrieb, dass sie eigentlich die Therapie nicht mehr bräuchte, sie aber trotzdem weitermacht. Darauf nahm ich Bezug, dass sie dann wohl zu wenig Leidensdruck habe und als Selbstzahler sowieso nicht darauf angewiesen sei, durch Diagnosestellung und Krankenkassenunterstützung weiterzukommen. Ich hab das eben kritisch hinterfragt, warum sie das alles so leicht nimmt, während andere mit sehr großem Leidensdruck geradezu happy sind, endlich die Diagnose zu kennen und Hilfe zu erhalten.

Das ist für mich eben schon ein großer Unterschied, was den Nutzen und Sinn der Diagnosestellung angeht. Manche sind eben darauf angewiesen und möchten das auch genau wissen, um an sich arbeiten zu können und nicht weiter betriebsblind zu bleiben in ihrer Störung. Ich verstehe nicht, dass dies gleich so abgewertet wird. Manche brauchen das eben, um weiterzukommen. Schön, wenn andere ohne auskommen. Nur haben sich bereits einige hier gemeldet, denen es ähnlich ergeht wie mir und welche die Diagnose auch wissen wollten aus besagten Gründen.
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Beitrag Sa., 20.04.2013, 00:11

Nochmal die Frage, was unterschiedet echtes Leid von solchen das nicht echt ist?

Abgesehen davon.. wer sagt, dass das Leben fair ist?
Und .. wäre ja noch schöner, wenn Therapeuten sich mit Weiterbildungen beliebig verändern könnten. Die Beziehung ist ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Wirkfaktor.

Schon ein Körperarzt, kann nicht auf jede Krankheit spezialisiert sein. Es gibt so viele Fachärzte und slebst unter denen noch Spezialisten: Internisten, die nur Leber machen, Orthopäden, die nur Kreuzbänder machen...

Die Seele ist noch komplexer. Und Beziehung ist immer zweigleisig, was wohl die Schwierigkeit von schwer gestörten Menschen, wie Psychotikern ist. Der beste Therapeut kann nicht helfen,w enn der Klient nicht mitarbeitet. Fairness ist wohl nicht die richtige Kategorie dafür, eher Konsequenz.
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Beitrag Sa., 20.04.2013, 00:19

Das ist der Punkt, ich erwarte eben schon, dass die Berufsethikkommission/-vereinigung etc. der Psychotherapeuten eine gewisse Fairness herstellt und gewährleistet. Eine Weiterbildungs- und Quotenregelung wäre durchaus umsetzbar. Das würde eine Spezialisierung auf gewisse Fälle nicht tangieren.
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