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Do., 10.06.2021, 21:14
Hm. Auf mich wirkt das alles schon irgendwie so als ob du ein wenig turbomäßig unterwegs bist.
Du bist seit 3 1/2 Monaten bei der alten Therapeutin gewesen und du hast selbst erwähnt, dass das deine allererste Therapie ist. Dann kam die Therapeutin mit Klinikaufenthalt und Medikamenten um die Ecke, du fühltest dich von ihr und ihren Forderungen überrumpelt und in die Ecke gedrängt und hast die Therapie jetzt quasi abgebrochen und dir jemand neues gesucht, wovon die Therapeutin aber noch gar nichts weiß, weil sie im Urlaub ist.
Anscheinend war es für dich nicht vorstellbar, erstmal zu versuchen, auf der Beziehungsebene zu klären: Wie kommt sie dazu, dir einen Klinikaufenthalt nahezulegen? Warum Medikamente? Man kann da schon nachfragen und nach plausiblen Erklärungen verlangen. Ich finde es aus Sicht der Therapeutin nicht völlig unverständlich, dass sie auf Nummer sicher gehen will, wenn eine für sie neue Patientin, die sie noch nicht oft gesehen hat (das muss ja nach ca. 5-6 Terminen gewesen sein, wenn du danach noch über 5 Wochen mit den ADs herumexperimentiert hast), plötzlich mit Panikattacken und Notfallanrufen bei ihr aufschlägt. Kann gut sein, dass das von ihr überzogen war, und kann auch gut sein, dass sie anders reagiert hätte, wenn sie dich schon länger gekannt hätte und dich besser einschätzen könnte.
Aber ich habe auch das Gefühl, dass du deinen Anteil bzw Beitrag an dieser Dynamik eher ausblendest. Zu so einer Eskalation gehören in den allermeisten Fällen zwei Seiten.
Der neue Therapeut macht jetzt mit dir eine Traumatherapie und hält mit dir dir in weniger als einer Woche mindestens vier Sitzungen ab, wegen der Retraumatisierung durch die alte Therapeutin. Die für dich jetzt umso mehr in der Rolle der "Bösen" festgeschrieben ist. Ja, es kann sein, dass sie dich da angetriggert hat. Gleichzeitig wundere ich mich schon darüber, dass du nach keinem halben Jahr Therapie ganz lockerflockig akzeptierst, dass du retraumatisiert wurdest, denn das heißt ja auch, dass du voll und ganz akzeptierst hast, dass da in deiner Vergangenheit Traumatisierungen stattgefunden haben. Das soll nicht heißen, dass ich diese Traumatisierungen in Frage stelle. Sondern ich bin etwas erstaunt darüber, in wie kurzer Zeit du diese Traumatisierung in dein Selbstbild integriert hast, oder war das vor der Therapie für dich schon akzeptierte Tatsache? Ich glaube, die meisten hier (nach meinem Empfinden) tun sich idR erstmal sehr schwer damit, zu akzeptieren, dass sie überhaupt in irgendeiner Form traumatisiert sein könnten und ringen sehr sehr lange mit dieser Erkenntnis.
Ich habe selbst eine Therapie abgebrochen. Und für mich war das gefühlt auch ein Kampf auf Leben und Tod, um von dieser Therapeutin wegzukommen. Und gleichzeitig hat keine der Therapeutinnen, bei denen ich danach Vorgespräche geführt habe, die Therapeutin als nur "böse" oder traumatisierend hingestellt. Ja, alle haben gesagt: Das muss schlimm für Sie gewesen sein. Alle haben auch ganz klar benannt, dass die alte Therapeutin da absolut aus dem Rahmen gefallen ist und falsch gehandelt hatte, auch dass das auf meine Kosten ging und mir geschadet hat. Und doch, kam von allen Therapeutinnen auch die Frage an mich: Haben Sie sich denn darüber mal Gedanken gemacht, was Ihr Beitrag zu dieser Situation und Eskalation gewesen sein könnte? Von jeder kam auch die Frage, ob es nicht sinnvoll oder für mich vorstellbar sei, mit der alten Therapeutin noch ein Abschlussgespräch zu führen. Als offene Fragen in den Raum gestellt. Und ich fand diese Fragen damals auch nicht unberechtigt.
Wenn du so instabil bist, dass der neue Therapeut mit dir in kürzester Zeit vier Stunden abhält, dann finde ich ehrlich gesagt die Frage der alten Therapeutin nach der Klinik und/oder Medikamenten nicht mehr sooo unberechtigt. Ich gönne dir wirklich alle Hilfe der Welt, die du brauchst. Gleichzeitig frage ich mich auch, ob du da nicht an einen Therapeuten geraten bist, der sich da schon sehr in der Rolle des edlen Retters gefällt? Ich habe schon viele Therapeutinnen gehabt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass keine von denen in einer einzigen Woche vier freie Termine gehabt hätten, die sie kurzfristig hätten vergeben können. Ich finde das schon ziemlich schräg. Und so sehr ich verstehen kann, dass du dich jetzt besser aufgehoben fühlst und auch erstmal voller Erleichterung bist, dass du von der alten Therapeutin weg bist, würde ich dir auch ans Herz legen, dass du bitte weiter gut auf dich aufpasst.
When hope is not pinned wriggling onto a shiny image or expectation, it sometimes floats forth and opens.
― Anne Lamott