Ja, Deine Interpretation muss mit der Aussage des Künstlers nicht übereinstimmen. Kommt auch real sehr oft vor. Viele Leute haben Briefe an Thomas Mann geschrieben, was sie alles in seinem Zauberberg entdeckt haben. Mann war erstaunt darüber, hatte er diese Dinge doch gar nicht mit Absicht in den Roman gelegt. Manches bleibt einigen auch verborgen, z.B. daß Mann bestimmte Kapitel des Zauberbergs auf bestimmte Seitenzahlen abgedruckt haben wollte - Zahlenmystik.lichtstrahl hat geschrieben:ich sehe es so: ein bild zu betrachten, löst in mir eine reihe von gefühlen und gedanken aus, die jedoch nicht unbedingt etwas damit zu tun haben, was der künstler sich dabei gedacht hat oder dabei gefühlt hat, als er das bild malte.
Das ist in vielen Fällen so. Ob ein Dialog zustandekommt, hängt von einigen Dingen ab, z.B. Stimmung, Offenheit gegen das Werk, Vorbildung (speziell auch in bezug auf den Künstler) etc.lichtstrahl hat geschrieben:somit findet hier nicht ein dialog statt, sondern ein innerer monolog meiner gedanken, gefühle und phantasien.
Wenn Du Thomas Manns "Tonio Kröger" liest, dann findest Du eine unglückliche Liebesgeschichte zwischen der Titelperson und der blonden Ingeborg und eine zerbrechende Freundschaft zwischen wieder der Titelperson und Hans Hansen. Das wird sicher jeden anrühren, Gefühle kommen auf. Vielleicht legst Du Deine Erfahrung über eine eigene unglückliche Liebesbeziehung und/oder eine zerbrochene Freundschaft hinein. Das ist Dein innerer Monolog, Deine eigene Erfahrung, sie kommt durch die Geschichte wieder hoch.
Irgendwie ist das aber auch schon ein Dialog, ein halber zumindest, denn Du antwortest auf die Geschichte mit Gefühlen, Erinnerungen. Das Manko ist eben, daß Thomas Mann davon nichts wissen kann. Daher ist kein Dialog zwischen zwei lebenden Menschen zu führen. Aber auch in der Realität gibt es die Situation, daß A etwas sagt und B antwortet, worauf A schweigt. Ist das kein Dialog?
Wenn Du darüber hinaus etwa durch das Lesen von Manns Tagebüchern weißt, daß Ingeborg nur eine Wiederholung der Figur Hans Hansens ist und daß letzterer eine literarische Repräsentation ist für Paul Ehrenburg, in den der homoerotisch veranlagte Thomas Mann als junger Mensch verliebt gewesen ist, kann ein imaginärer und engerer Dialog zustande kommen, etwa so:
Mann: Ich wollte, daß die Welt mich und meine Veranlagung kennt. Ich konnte es damals nur chiffriert sagen. Nun weißt Du über mich Bescheid.
Du: Ja, und ich kann Dein Leid nachempfinden.
Dieser imaginäre Dialog findet zwar in Dir statt, ist aber nicht gänzlich durch Dich bestimmt, sondern durch das Wissen, welches Mann Dir über seine Tagebücher mitteilt.
Genug verwirrt?
LG
UncleK