Brief an die Eltern

Körperliche und seelische Gewalt ebenso wie die verschiedenen Formen von Gewalt (wie etwa der Gewalt gegen sich selbst (SvV) oder Missbrauchserfahrungen) sind in diesem Forumsbereich das Thema.
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Ben35
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Brief an die Eltern

Beitrag Mo., 29.10.2012, 20:32

Liebe Forumsteilnehmer,

vor einiger Zeit habe ich mir ein Herz gefasst und meinen Eltern einen Brief geschrieben. Mittlerweile bin ich 35 Jahre alt und noch immer belasten mich die frühen Erfahrungen aus meiner Kindheit. Den Kontakt habe ich zu ihnen seit ein paar Jahren wieder abgebrochen, nachdem ich ihn für eine Weile wieder aufgenommen hatte. Davor hatte ich über 6 Jahre keinen Kontakt zu meinen Eltern. Ein Auf und ab also. Jedes mal dachte ich, es wird besser werden. Bis wieder etwas passierte und ich wieder in einem emotionalen Loch versank und mich abwendete.

Beruflich habe ich mich relativ gut entwickelt, habe studiert und einen tollen Job der mir Spaß macht und mich auch ausfüllt. Mein Privat und Beziehungsleben ist jedoch das genaue Gegenteil. Lest selbst, was ich meinen Eltern mitgeteilt habe. Was sind Eure Gedanken und Fragen dazu? Habe ich es richtig gemacht? Habe ich übertrieben? Leider habe ich von meinem Vater selbst keine Antwort erhalten.


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Lange wollte ich Euch schon einen solchen Brief schreiben, und habe ihn immer wieder verworfen. Es gab in den letzten Jahren und Monaten unendlich viele Gedanken die ich mir aufgeschrieben hatte, und in einem Brief an Euch aufschreiben wollte. Ich habe mich, wie Ihr wisst, auch ein Jahr lang in einer psychotherapeutischen Behandlung befunden. Im Frühjahr 2010 hatte ich damit begonnen. Mir ging es verdammt schlecht, mal wieder. Mein Arzt hat mir sehr dabei geholfen mich wieder aufzubauen und einige Zusammenhänge zu verstehen. Trotz alledem ist ein Bereich meines Lebens noch unbearbeitet und schmerzlich geblieben. Nämlich die Vergangenheit und mein Verhältnis zu Euch. Ich will versuchen Licht ins Dunkel zu bringen, warum ich so handele und wie es in mir bis zum heutigen Tage aussieht. Gewisse Dinge die lange unausgesprochen waren, muss ich einfach nochmal ansprechen. In einem Brief kann ich meine Gedanken besser ordnen. Auch wenn es keiner mehr hören will. Mir ist das ungemein wichtig, weil es mich als eigenständiger Mensch mit meinen Gefühlen und Bedürfnissen betrifft.

Bis heute spüre ich eine große Wut und tiefen Schmerz in mir. Was damals passiert ist, begleitet mich bis heute und bestimmt nach wie vor mein Leben. Es fällt mir schwer darüber zu schreiben, weil ich die Ereignisse verdrängt habe, und die Gefühle die damit verbunden sind ebenso. Ich habe mich in den letzten Jahren viel damit beschäftigt, habe Bücher gelesen und hab mich doch immer alleine gefühlt bei der Aufarbeitung der Vergangenheit. Einfach nach vorne schauen und verzeihen hat mir nicht geholfen. Mit den Schlägen und verletzenden Worten wurden massiv Grenzen überschritten. Gewalt, die das Band des Vertrauens zerstört, Angst und Verletzlichkeit erzeugt hat. Bis heute habe ich Angst, vor allem vor Dir Vater. Auch als Mann von 34 Jahren kann ich das nicht vergessen. Wie gerne hätte ich Dir damals ins Gesicht geschaut und Dich angefleht: „Ich bin klein, Du bist groß. Bitte tu mir nicht weh!“

Weißt Du noch, wie Du mir damals den vollurinierten Nachttopf übergeschüttet hast, während ich als sehr kleines Kind noch im Gitterbett schlief? Weil ich leider geschrien habe und Du nicht schlafen konntest. Ich weiß, darauf später angesprochen hat Euch diese Begebenheit eher belustigt, oder es war Euch unangenehm darüber zu sprechen. Für mich als kleines Kind muss es aber eine große Demütigung gewesen sein. Oder die Kopfnüsse, man waren die hart. Dein Jähzorn und deine Wut, die Du an mir kleinem Wicht ausgelassen hast, nur damit Du innerlich Befreiung von Deiner eigenen aufgestauten Wut finden konntest. Wer hatte da die Macht und Verantwortung? Ich war Dir körperlich immer unterlegen und ausgeliefert. Ich kann mich bis heute immer noch sehr gut daran erinnern, wenn Du immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend in mein Zimmer gestürmt bist. Dann hast Du mich geschlagen und einmal sogar kann ich mich erinnern hast Du mich zusammengetreten. Dann hast Du mich an den Haaren die Treppe runtergeschleift. Hast Du das Bild noch vor Augen? Das war Wahnsinn!!! Kannst Du Dir vielleicht vorstellen was das für Narben in meiner Seele hinterlassen hat? Ich habe es irgendwann für normal gehalten, wenn Du mich mitten in der Nacht unsanft aus dem Bett geholt hast. Licht an, Decke weg, Befehlston, und mich dann unter die kalte Dusche gejagt hast. Meinst Du nicht, das Bettnässen hatte seine guten Gründe? Oder wie Du mich, damals im Ferienheim, vor allen meinen Freunden, aus dem Fernsehzimmer hinausgebrüllt hast, und auch da wieder handgreiflich wurdest. Und wie habe ich mich damals geschämt. Für mich und meinen Vater. Was hatte ich für eine Angst vor Deinen Gewaltattacken. Jedes Mal ist eine Welt in mir zusammengebrochen und ich habe mich emotional wieder ein Stück weiter von Dir entfernt. Aus Unbeschwertheit und kindlicher Lebensfreude wurde Schmerz und Traurigkeit. Wie gerne hätte ich damals gesagt: „Tu das NIE WIEDER mit mir!“

Doch leider hatte ich an diese Option nie gedacht. Ich habe gehorcht und geschluckt. Das Recht mich selbst zu verteidigen, Unrecht das gegen mich gerichtet war abzuwehren, hattet Ihr mir nicht erlaubt. Es galt: Ich bin schuld, weil ich mich falsch verhalten habe. Widerworte oder auch „das letzte Wort“ wurden als persönlichen Angriff und Untergrabung Eurer Autorität gesehen. Es stand mir einfach nicht zu. Du Mutter, hast mir noch letztes Jahr bei einem Telefonat gesagt: „Das ist doch nur ein paar Mal vorgekommen“. Das hat mich wirklich enttäuscht. Aber es zeigt auch, wie Du, liebe Mutter, vieles verdrängt hast und Dich nicht damit beschäftigen willst. Sonst müsstest Du Dir eingestehen, dass Du dabei zugesehen und nichts dagegen getan hast. Leider hast Du dann oft überkompensiert und dein schlechtes Gewissen oft durch ein zuviel an Liebe und Überbemutterung ausgeglichen.
Die körperlichen Angriffe waren das eine, fast schlimmer waren für mich die extrem verletzenden Worte. Worte können wie Pfeile sein. Oft hast Du Vater damit ganze Arbeit geleistet. Ein Satz, der sich mir bis heute tief ins Gehirn eingebrannt hat: „Hau ab Du Rotfuchs, Dir jehört hier nüscht. Du wohnst hier nur zur Miete!“ Und das mit einer Intensität an Verletzungskraft. So stark hatte ich es selten erlebt. Noch deutlicher kann man nicht zurückgewiesen werden. Da ist sehr viel kaputtgegangen.

Auch diese verdammte Hänselei wegen meiner damals rötlichen Haare. Das hat mich immer sehr tief getroffen. Ich habe mich dann oft einfach nur hässlich gefühlt und gedacht, ich bin nichts wert. Oder diese gemeinen „Triefsack“ Hänseleien von Dir. Was hättest Du gemacht wenn Dir ständig jemand gesagt hätte, dass Du ein Versager bist? Irgendwann glaubst du daran und verhältst dich gestört. So kann Selbstbewusstsein nicht reifen. Man muss Glaubenssätze nur oft genug wiederholen, und man wird genau zu dem was man ständig zu hören bekommt. Hätte man stattdessen nicht auch sagen können: Du machst das gut. Ich glaube an dich. Du bist der Beste. Kann jedem mal passieren. Beim nächsten Mal wird es bestimmt besser. Gar nicht so schlecht für den Anfang, mein Junge. Toll, wie du das gemacht hast. Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Aller Anfang ist schwer. Ich hätte es auch nicht besser hinbekommen. Wir arbeiten dran, ich helfe Dir.
An eine Begebenheit erinnere ich mich heute noch. Wo ich dich damals als kleiner Bub (7-8 Jahre) am Ostseestrand aus den Augen verloren hatte, und als Du mich später heulend bei Strandaufsicht wieder abgeholt hast. Da hast Du mir gefühllos ins Gesicht gesagt, dass ich „mal wieder gepennt hätte“. Keine kleine Umarmung oder Freude mich wiederzusehen. Und wieder hattest Du es geschafft, mit einer Bemerkung mein Selbstvertrauen zu zerstören und mich ganz weit auf Abstand zu halten.

Auch sind mir viele Dinge gar nicht mehr richtig präsent, weil ich sie unterdrückt und verdrängt habe. So kann ich mich nur noch dunkel daran erinnern, dass Du Vater mich oft eingesperrt hast. Oft sogar mehr als 24 Stunden. In meinem Zimmer oder auch im Keller. Ich war dann alleine, es wurde still um mich herum und draußen wurde es dunkel. So muss ich mich oft in den Schlaf geweint haben. Wenn ich mal musste, habe ich irgendwo im Zimmer mein Geschäft verrichtet. Ich weiß noch, dass ich einmal mein großes Geschäft auf einer Kindertrommel aus Blech verrichtet habe. Während ich immer eingesperrt war, hast Du Mutter dann draußen vor meiner Tür gesessen, mich beruhigt und mir „Mut“ zugesprochen. Hast mir aber nicht geholfen. Sicherlich warst du schwach, Mutter. Anders kann ich mir das nicht erklären.


Kannst Du Dir Vater überhaupt vorstellen wie diese Dinge bis heute an meinem Selbstvertrauen nagen? Dass Deine Gewalt und zerstörerischen Worte schon früh meine Selbstachtung gebrochen hat? Sollte das denn die Grundlage sein, für ein liebevolles und vertrauensvolles Miteinander? Eine funktionierende Vater-Sohn Beziehung? Ich denke, keinem würde es einfallen das zu behaupten. Ich hoffe Du merkst und weißt, warum ich mich Dir und gegenüber der Familie so verhalte. Man kann es auch mit zwei Worten sagen: Totale Abwehr.

Eine Bemerkung, ein kleines unbedachtes Wort reicht aus, um mich wieder in die alte Lage versetzt zu fühlen. Bis heute bin ich unter der Oberfläche extrem verletzlich geblieben. Als ich Ostern 2010 bei Euch zu Besuch war, hatte ich jedem von Euch etwas mitgebracht. Eine schicke Flasche Alkohol und Schokolade. Ich hatte mich darauf gefreut und war irgendwie richtig stolz und fühlte mich sogar richtig erwachsen. Ich kam aus Berlin, hatte viel erlebt, beruflich erfolgreich, kannte viel Wertschätzung und Freundlichkeit auf Augenhöhe aus dem Kollegen- und Kundenkreis. In der Küche dann stellte ich die Flaschen stolz auf den Tisch. Wenig später kam ich wieder zurück in die Küche, und sah dass Du Vater die Flaschen in ein Liegeregal weggeräumt hattest. Ich wollte mir dann „mein Geschenk“, das ich ja mitgebracht hatte um Euch eine Freude zu machen, wieder aus dem Regal herausnehmen um einem von Euch mein Ostergeschenk zu überreichen. Dein monotoner Kommentar dazu, Vater: „Komm, lass liegen!“ Ich muss das nochmal etwas genauer ausführen, man könnte leicht darüber hinwegsehen.

Ich habe mich automatisch wieder als kleiner, dummer Triefsack Junge gefühlt. Und konnte damit in dem Moment überhaupt nicht umgehen. Ich bin sofort wieder in die alte hilflose Rolle gefallen, wo ich glaubte diese längst abgeschüttelt zu haben. Dieser eine kurze Satz, transportierte unterschwellig genau das wieder, was mir in der Vergangenheit oft zu schaffen gemacht hatte. Dieses: „Komm Junge, lass es. Finger weg. Du kannst nichts.“ Meine Stimmung war sofort auf dem Nullpunkt. Am nächsten Tag im Auto zurück nach Berlin war ich so wütend und eine Aggression stieg in mir auf. Ich kann es nicht beschreiben. Ich fühlte mich sehr respektlos behandelt. Ab dem Moment muss ich resigniert haben, und das war wohl auch der Grund warum ich mich wieder von Euch zurückgezogen habe. Ich habe in dem Moment aufgegeben und brauchte wieder viel Abstand. Ich bin regelrecht geflüchtet.


Nachts habe ich immer wieder diesen Alptraum: Ich habe Angst und bewege mich unsicher im Haus umher. Ich gehe zur Haustür und bemerke, dass sie offensteht. Jemand ist ins Haus eingebrochen. Manchmal versuche ich noch die Tür wieder zuzudrücken, aber der Einbrecher oder die fremde Person ist stärker als ich. Dann packt mich jemand von hinten und ich kann mich nicht wehren. Die Person hat kein Gesicht. Ich bin der Situation ausgeliefert. Dann wache ich auf. Es sind immer dieselben Orte: Die beiden Häuser in denen wir als Familie zuammen gelebt haben. Nie sind es andere Orte.

Alle diese Ereignisse wirken bis heute nach, und jedes Mal wenn ich dich Vater sehe, schwingen diese ungeklärten Dinge bewusst wie auch unbewusst mit. Selbst wenn Du mich ansiehst oder versuchst Deine Hände von hinten auf meine Schultern zu legen, habe ich ein ungutes, abwehrendes Gefühl. Davor schäme ich mich irgendwie. Will ich mir doch selbst nicht eingestehen, dass ich als erwachsener Mann immer noch vor meinem eigenen Vater Angst habe. Das verträgt sich nicht mit dem Bild das ich von mir habe, und was ich aus mir gemacht habe. Wenn wir aufeinandertreffen, sofort bin ich wieder der kleine Junge, der um Liebe und Anerkennung bettelt. Und es reicht einfach nicht, es nur zu behaupten. Man muss es zeigen und den anderen irgendwie fühlen lassen können. Sonst hat es keinen Wert.
Ich könnte noch vieles erzählen. Das schlimme daran ist, dass vieles nie thematisiert, sondern immer unter den Teppich gekehrt wurde. Eine scheinbare Harmonie und Normalität wurde gepredigt. Unbewusst habe ich immer gespürt, dass das nicht normal sein kann. Doch man kann sich auch irgendwann damit abfinden und sich fügen. Es gibt immer zwei Möglichkeiten. Entweder man begehrt auf, setzt sich durch und rebelliert oder man unterwirft sich.
Was hast Du erlebt, dass du zu so etwas fähig warst? Meinst Du nicht auch, dass ich viele Dinge vielleicht nachvollziehen hätte können, wenn ich gewusst hätte was Dir angetan wurde? Ohne dieses Wissen, habe ich mich immer schuldig gefühlt. Es wäre fair gewesen, auch deine Seite zu kennen. Das wäre eine ehrliche Grundlage für uns beide gewesen. Das hätte aber vorausgesetzt, dass Du dich mit deiner eigenen Vergangenheit auseinandersetzt und an Dir arbeitest. Scheinbar willst du es aber bis heute nicht, oder hast selber Angst vor deiner Vergangenheit. So weiß eigentlich keiner, aus welchen Gründen das alles geschah. Und Du wirst zugeben, diese Gründe gibt es bei Dir. Dir selber hätte es auch gut getan und hätte vielleicht ein ganz anderes Bewusstsein und Verständnis in der Familie geschaffen. Nun könnte es schon fast zu spät sein. Obwohl es eigentlich nie zu spät für irgendwas ist. Vor allem für das, was einem wichtig ist.

Und ich weiß, dass Du das auch zeigen kannst. Es gibt diese Momente. Diese erscheinen mir in meiner Erinnerung aber so einzigartig, dass ich sie wie eine Kostbarkeit aufbewahre. Das letzte sicherlich sehr schöne Erlebnis war, wie Du 2007 mir per Telefon Mut zugesprochen hattest, nachdem diese unschöne Sache passiert ist. Deine Worte: „Das ist schon tausenden anderen Männern vor Dir passiert“ haben mich in dem Moment sehr aufgebaut, während mir alles andere gerade den Boden unter den Füßen wegzog. Dafür bin ich Dir bis heute sehr dankbar. Oder wie Ihr mich aufgenommen habt, mich beruhigt und Mut zugesprochen habt. Das war doch eine sehr beunruhigende Zeit für mich, und das genau am Anfang von meinem Job. Wenn es kommt, dann kommt es faustdick.
Oder als wir einmal abends zu dritt am Tisch gesessen und Wein getrunken haben, und ich plötzlich heftig zu weinen anfing als ich die Vergangenheit ansprach. Da hast Du mitgeweint, und hast Dich auf Knien vor mir für alles entschuldigt. Das war sehr beeindruckend, aber irgendwie konnte ich damit auch gar nicht umgehen. Am nächsten Tag war alles wieder wie immer, die Distanz zwischen uns war spürbar wieder da. Das war ein komisches Gefühl. Schade, dass solche Gefühle nur mit der Hilfe von Wein bei Dir sichtbar werden. In diesem Moment, hast Du für einen kurzen Augenblick deine Mauer geöffnet und einen Einblick in Dein verletztes Seelenleben gegeben.
Woran ich mich auch immer gerne erinnere, eine kleine Begebenheit. Da kam ich mittags von der Schule heim. Du warst alleine und öffnetest mir die Tür. Dann hast Du mich gefragt: „Na Junge, hast Du Hunger mitgebracht?“ Nie hatte ich mich so verstanden und wertgeschätzt gefühlt wie in diesem Moment. Ich war von Stolz erfüllt und spürte so etwas wie Nähe und Anteilnahme an meinem Leben. Eine weitere Begebenheit, die ich sogar auf Foto gebannt habe, war der Flug über Berlin. Ich hatte ein Foto von Dir gemacht, auf dem Du mich angelächelt hast. Auf keinem Foto hast Du mich jemals wieder so angelächelt. Auch wenn es nur ein angedeutetes Lächeln war. Für mich war es aber so viel wert, dass ich es Dir als Foto geschenkt habe. Das Bild hast Du bestimmt noch heute in deinem Arbeitszimmer hängen.
Auch heute suche ich unbewusst immer noch nach einer Vaterfigur. Ich habe einen sehr freundlichen und netten Nachbarn. Der hat ungefähr Dein Alter und weiß vieles von mir. Manchmal lädt er mich in seinen Keller ein. Dann spielen wir Billard, trinken französisches Bier oder lassen einen ferngesteuerten Helikopter aufsteigen und gegen die Wand fliegen. Er hat noch dieses kleine Kind in sich, genau wie ich. Wie oft hätte ich mir damals gewünscht, solche schönen Dinge die verbinden, auch mit Dir zusammen zu machen. Ohne die Angst, wieder etwas falsch gemacht zu haben. Einfach eine schöne unbeschwerte Zeit zusammen haben. Das Leben zusammen zu entdecken. Vor ein paar Wochen habe ich mir meinen Kindheitstraum erfüllt und einen Angelschein gemacht. Du weißt ja, wie ich mich schon damals dafür begeistert habe. Im Frühling werde ich dann fischen gehen.

Ich ertappe mich oft dabei, wie ich eine Vaterfigur in anderen Menschen suche. Aber doch frage ich mich oft, was Du wohl in dieser oder jener Situation machen oder sagen würdest. Und es tut mir weh, wenn ich daran denke, wie Du oft an mir mit dem Auto vorbeigefahren bist ohne mich zu grüßen. Oder so zu tun, als ob du mich nicht siehst. Oder zu Weihnachten in der Kirche, wo wir über eine Stunde nebeneinander gesessen haben und Du kein einziges Wort mit mir gesprochen hast. Ich glaube, Du weißt gar nicht so richtig wie Du mit mir umgehen sollst. Du bist verunsichert, wie auch ich stark verunsichert und immer noch verletzt bin.
Bis heute fällt es mir auch sehr schwer, Bindungen aufzubauen. Ich lasse keinen Menschen wirklich nah an mich heran. Auch mit einem engen Freundeskreis kann ich nicht aufwarten. Ich bin Einzelgänger. Nur so fühle ich mich geschützt und sicher. Wirkliche Nähe empfinde ich als Bedrohung und macht mir Angst. Auch empfinde ich Nähe als etwas sehr Anstrengendes. Ich setze alles daran, Menschen, die die Nähe zu mir suchen, abzuweisen. Ständig bin ich mit Abwehr beschäftigt. Eine große Verschwendung von Lebensenergie. Doch habe ich eine gute Ablenkung gefunden: Die Arbeit. Das ist auch ein Grund, warum ich so erfolgreich geworden bin. In meiner Arbeit kenne ich mich aus, da fühle ich mich sicher. Doch ist mir auch klar, dass ich mich damit auch nur betäube und das Leben so an mir vorbeizieht. Eine große Vermeidungshaltung gegenüber dem Leben. Aber ich will Euch dafür nicht mehr anklagen. Keine ewige Opferrolle. Ich arbeite daran und bin weiterhin auf einem guten Weg. Viel habe ich für mich schon erreicht. Allein die Tatsache, dass Ihr das hier lest ist schon ein Gewinn für mich, und entschädigt ein Stück weit.
Ich weiß nicht, wie Du auf diesen Brief reagierst. Oder auch Du Mutter. Fest steht, dass ich mich schon zu lange mit meiner Vergangenheit beschäftige. Ich habe mich auch in nichts verrannt, wie Ihr es vermutet. Meine Distanziertheit und Abwesenheit hat seine berechtigten Gründe, wie man sieht.
Dir liebe Mutter wünsche ich, dass Du schnell wieder gesund wirst und die Kraft und Lebensfreude wieder zu Dir zurückkehrt. Denk öfter an Dich und Deine Bedürfnisse.
Zum Abschluss noch ein weises Sprichwort, das ich mir für diesen Brief aufgehoben habe:

„Vertrauen kommt zu Fuß und prescht zu Pferde fort.“ (Holländisches Sprichwort)

Euer Sohn

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weidenkatz
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Beitrag Mo., 29.10.2012, 22:04

lieber Ben_Berlin,

ich finde Deinen Brief sehr berührend und in mir lässt er den Wunsch, Dich in den Arm zu nehmen und Dich zu halten. Wie verhärtet muss Dein Vater innerlich sein, dass diese Offenheit und Authentizität ihn nicht erweichen kann. Aber weich sein darf er wohl nicht und Du dann sicher auch nicht.

Was Deinen Vater zu einem solchen Mann gemacht hat, wird vielleicht sein Geheimnis bleiben, aber was Du Dir hart erarbeitet hast, anstatt das selbe Muster zu wiederholen, kann er Dir nicht nehmen, auch wenn er Dir nicht antwortet.

Man kann vielleicht sagen, es wäre besser gewesen, weniger Vorwürfe zu machen, Ich-Botschaften blabla (sorry) ... aber nach dem, was er Dir als Kind angetan hat, kann er halt auch mal die geballte Wucht der Vorwürfe abbekommen ... da muss er eigentlich froh sein über jedes Wort, das Du überhaupt noch an ihn richtest. Ich finde es bewundernswert, dass Du noch Kontakt zu ihm haben willst und zu solcher Offenheit bereit bist.

Das ist jetzt alles nicht hilfreich ... Du scheinst aber selber ganz gut zu wissen, was für Dich als Kind hilfreich gewesen wäre. Warum machst Du die Therapie nicht weiter? Um daran zu arbeiten, Dir selbst das zu geben, was Du brauchst. Und Nähe, Vertrauen, Abhängigkeit, Wut etc. in einer Beziehung auszuhalten, stellvertretend für das, was Du Dir mit Deinem Vater erhoffst. Dass Dein Vater sich (möglicherweise) nicht weiterentwickeln kann in dieser Hinsicht, sollte jedenfalls Dich nicht davon abhalten.

Und das eröffnet dann vielleicht auch Türen für andere nahe (nähere) Beziehungen.

Liebe Grüße
weidenkatz


Vincent
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Beitrag Di., 30.10.2012, 01:40

Auch ich bin sehr gerührt, lieber Ben. Wohl ganz ähnlich läse sich der Brief, den ich schon vor vielen Jahren an meine Eltern habe richten wollen und hätte richten sollen, dies aber bisher nie getan habe. Meine Mutter würde er ohnehin nicht mehr erreichen, da sie inzwischen gestorben ist. Auch sie hat mir nicht geholfen, aus Angst vor den Konsequenzen meines jähzornigen Vaters. Nun ist ihr verhindertes Leben mitsamt ihrer "Schuld" unter der Erde. Mein Vater verdrängt noch immer. Wer weiß, wie lange noch!

Da ist so viel Unausgesprochenes, das das Leben blockiert. Allerseits. Es ist gut, wenn es von Allen Einen gibt, der bewußt und stark den Stein ins Rollen bringt. Und zwar bevor sie alle tot sind!
"Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu." (Horvàth)

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wayward affinity
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Beitrag Di., 30.10.2012, 01:54

Du wirfst vielleicht sensibel verfasste Perlen vor die Säue. Mein Vater hat zumindest auf meine ''Klarstellungen'' mit 200% Ignoranz reagiert. Diese Leute hängen an ihrer Unschuld und tun alles um sie zu wahren, vom Leugnen bis hin zu roher Gewalt. Ich war schockiert und gedemütigt, überhaupt soviel sinnvolle Worte in so einen hirnlosen Penner investiert zu haben. Einsicht erfordert Stärke. Und wer stark ist, der schlägt seine Kinder nicht. Wer weiss was dabei jetzt rauskommt, vielleicht hast du ja Glück.

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leise
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Beitrag Di., 30.10.2012, 07:06

Hochachtung,
vor Dir,
vor Deinen Worten
und all dem was Du erreicht hast.

Hochachtung!

leise

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Tante Käthe
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Beitrag Di., 30.10.2012, 07:19

Hi Ben,

puh, Gänsehaut, Entsetzen.... all das hat mich erfasst, als ich deine vielen Worte las .

Ich finde, du hast das richtig gemacht, richtig für dich und das ist das Entscheidende. Wie deine Eltern damit umgehen können, sollte für dich zweitrangig sein. Du hattest damals auch nicht die Wahl....

Solange dir dein Tun und Handeln gut tun, ist es richtig. Mit Worten in einem persönlichen Gespräch hättest du dies alles sicher nicht rüber bringen können, aber so, wohl sortiert, sachlich und verletzlich geschrieben (deine Gefühle hast du sprechen lassen) kann es fast nur sein, dass dein Vater und auch deine Mutter (sie stellen für mich bei diesen vielen Taten eine Einheit dar!) zutiefst beschämt sein müssten. Da hilft auch nicht der Umstand, dass deine Mutter dir liebevolle Worte durch die Tür sprach, als du eingeschlossen warst.... nein sie hätte auch handeln können und müssen.... daher m. E. die "Tateinheit"....

Ich wünschte dir sehr, dass eine Reaktion kommt, da du sie gern möchtest, aber ich kann es mir irgendwie nicht vorstellen.....

Fühl dich einfach gedrückt und wie geschrieben, meine Meinung, du hast sehr gut geschrieben und richtig gehandelt.

Käthe
Es ist schwieriger eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom
(Albert Einstein)

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Elfchen
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Beitrag Di., 30.10.2012, 09:07

Lieber Ben

Mir geht es wie meinen Vorschreibern, ich bin bis ins Innerste berührt.

Deine Geschichte- ich hab sie aufmerksam gelesen- gleicht wohl derer einiger anderen hier drinnen. Was mich sehr berührt ist, wie sehr du versuchst zu verstehen trotz allem.
Was mich auch zutiefst berührt sind die wenigen guten Momente, diese Brosamen der Liebe, die dein Vater aussandte. Ich könnte mir vorstellen, dass er sich selber ausgeliefert war, dass er nicht anderes konnte. Das möchte ich unbedingt nicht als Entschuldigung verstehen! Aber ich glaube, tief in seinem Inneren liebt er dich sehr und schämt sich ohne Ende. Leider braucht er Alkohol, um dies zu fühlen, wahrzunehmen, zu verbalisieren.
Er wird auch keinen Zugang zu sich selber haben, der ihn reflektieren lässt. So ein Brief vom eigenen Kind müsste ihn zum verzweifeln bringen.

Nun, es geht ja auch in erster Linie um dich.
Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich dich verstehen kann. Ich möchte dich fragen, ob du auch mal wütend wirst. Wütend auf die Situation, wütend auf den Vater in seiner Aggression, wütend auf die Mutter, die dich, ihr Kind nicht beschützt hat, die selber schwach war. Schau, so schön das alles ist mit dem Verstehen- das zeigt, wie gross dein Herz ist- so denke ich doch, dass es eine Stufe überspringt. Damit meine ich, dass du erst mal auch die Wut spüren solltest. Die spüre ich bei dir nicht. Diese Wut, die auch gesund ist, die einem auch zur Heilung führen kann. Es wirkt alles sehr sanft, sehr verstehend, vermittelnd.
Es ist weder verboten noch schlecht, mal wütend zu sein. Du hast jedes Recht dazu! Hey, der hat dich gedemütigt, geschlagen, eingesperrt! Dich, einen kleinen, verängstigten Jungen! Und die Mama hat sich nicht vor dich gestellt! Sie hat dich nicht beschützt, sie hat selber Angst gehabt.
Wenn du durch die Wut hindurchgehen würdest, könntest du darunter Trauer finden, und dann Verstehen, Verzeihen, und dann in die eigene Ruhe, Kraft und Selbstwert finden und dies:
Ben hat geschrieben:Ich lasse keinen Menschen wirklich nah an mich heran.
könnte heilen.
So, wie du schreibst spürt man, dass du ein äusserst liebenswerter, tiefsinniger Mann sein musst der es wert ist, geliebt zu werden. Dafür muss deine Seele aber erst heilen, damit du dich öffnen kannst. Ungeschehen können wir leider unser bisheriges Leben nicht machen, aber wir können versuchen, so heil wie möglich zu werden, um die Liebe zuzulassen, die Menschen, die dich lieben, an dich heranzulassen.
Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben. Epiktet

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Ben35
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Beitrag Di., 30.10.2012, 20:38

Liebe Weidenkatz,

vielen Dank für deine Worte. Was meinen Vater zu diesem Mann gemacht hat, kann ich nur in Ansätzen erraten. Er ist 1945 geboren worden und hat irgendwann einmal davon gesprochen (bzw. meine Mutter) dass er in inmitten einem Konzentrationslager geboren worden ist. Seinen Vater, also meinen Opa habe ich nie kennengelernt. Er war wohl kein guter Vater. Alkohol, Fremdgehen etc. das volle Programm. Zeitlebens kenne ich meinen Vater als extrem introvertierten, nachdenlichen und plötzlich jähzornigen Mann. Deshalb wusste ich nie woran ich bei ihm war, er hat wenig Gefühle nach außen gezeigt. Im Ganzen war er sehr streng und mit Worten sehr verletzend. Das war oft schlimmer als die körperliche Gewalt.

Das Muster wiederhole ich hoffentlich nicht. Ich selbst bin eher aggresionsgehemt, kein Wunder musste ich immer alles schlucken und dagegen auflehnen war nicht vorgesehen. In mir brodelt es daher bis heute, und bin machmal auch latent aggresiv. Man spürt da auch in gewissen Momenten. Vor diesen Gefühlen habe ich Angst, weil ich sie nie richtig zugelassen haben und auch nie gelernt habe damit umzugehen. Ich weiß nicht was dann kommen wird wenn ich es doch mal zulassen würde. Ich bin ein kontrollierender Mensch, der versucht sich und die Umgebung unter Kontrolle zu halten.

Mittlerweile bin ich mir gar nicht mehr so sicher, ob ich überhaupt noch Kontakt zu ihm haben möchte. Ich bin sooft über meinen Schatten gesprungen und habe den ersten Schritt gemacht, er nie. Irgendwann muss Schluss sein, sonst behandle ich mich ja selber würdelos.

Die Therapie habe ich nach einem Jahr selber beendet. Ich fand, dass es nichts weiter zu besprechen gibt. Die Therapie war ja ohnehin nur ein Gegenübersitzen und erzählen. Ich habe oft Momente gehabt, wo es aus mir rausgebrochen ist und ich wie ein kleines Kind geheult habe, ich denke das hat mir geholfen zumindest etwas Druck abzubauen. Wir sind immer wieder an den Punkt gekommen: Ich muss ins Leben hinausgehen und Erfahrungen sammeln, nicht vermeiden (z.B. Beziehungen). Nur fand ich immer, was nützt es wenn du losfahren willst aber die Handbremse sitzt fest. Es gab Zeiten in meinem Leben, da wollte ich nur Erfahrungen sammeln, einfach los und nach vorne ohne nachzudenken. Am Willen sollte es also nicht liegen. Ich habe bis heute das Gefühl, etwas hindert mich…da ist etwas in mir mit dem erst aufgeräumt werden muss bevor ich aufleben kann. Vielleicht ist das ja ein Trugschluß.

Ben

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Beitrag Sa., 03.11.2012, 20:25

Liebe Elfchen,

An diesem Brief habe ich ziemlich lange geschrieben, ich denke es waren einige Wochen. Immer wieder fiel mir eine Bedeutsamkeit ein die ich erwähnen wollte. Natürlich treibt mich im Innersten diese eine Frage an: Warum ich.

Du hast Recht, in dieser Sache bin ich sehr sanft, verstehend und vermittelnd. Komischerweise war das immer irgendwie meine Rolle in der Familie. Ich habe noch 2 Schwestern. Ich bin in der Mitte. Körperliche Gewalt habe nur ich abbekommen. Aber die demütigenden Worte und die psychische Gewalt leider auch meine Schwestern. Der Kontakt ist zu Ihnen mittlerweile auch abgebrochen bzw. eingeschlafen. Wir sind als Geschwister nie richtig zusammengewachsen. Ich habe immer fremde Geschwister beneidet wenn sie sich bei der Begrüßung in den Arm genommen haben als ob es nichts normaleres auf der Welt gäbe. Echte tiefe Gefühle wie Spontaneität, Freude und Nähe waren in der kompletten Familie eher selten. Die Angst vor dem Vater hat dann ab einem gewissen Punkt immer wieder alles überschattet.

Natürlich bin ich innerlich immer noch sehr wütend auf alles, weiss aber bis heute nicht, wie ich das alles kanalisieren soll. Viel Energie habe ich in den letzten Jahren in die Arbeit gesteckt. Mit Anfang 20 habe ich Kickboxen angefangen, um mich auszupowern und Energie rauszulassen. Zuhause bei meinen Eltern war immer alles sehr harmonisch, ich durfte faktisch nie mal "Böse" oder "frech" sein. Zum Mittagessen lief immer Klassische Musik und die Tischkerzen brannten zu Weingläsern und Braten auf ordentlich gedecktem Tisch. Meiner Mutter war das alles sehr wichtig, diese Harmonie. Im Nachhinein weiß ich dass dieses familiäre Verhalten zerstörerisch wirken musste auf Dauer.

Wie kann ich denn durch diese Wut hindurchgehen? Trauer trage ich irgendwie ständig in mir, manchmal kommt sie auch wieder zum Vorschein...meist wenn ich alleine bin. Und alleine bin ich oft.

Ben

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leise
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Beitrag So., 04.11.2012, 08:02

Hallo Ben,

könntest du denn deinen Schwestern schreiben?
Ich denke schon, dass ihr da ein großes Potential an Gemeinsamkeit habt und ich kann mir auch gut vorstellen, dass die beiden sich auch mehr Gemeinsamkeit mit dem Bruder wünschen.

Versuchen solltest du es...
immerhin habt ihr drei ja alle die Gewalt des Vaters erlebt, so etwas kann doch auch zusammenschweißen! Ist vielleicht nicht in der Kindheit passiert, aber jetzt, wo das weiter weg ist, wäre doch machbar oder?
Habt ihr jemals über das, was da passiert ist gesprochen als ihr noch zusammen wart?

Klarheit schaffen, das ist denke ich immer ganz wichtig. Dein Brief war der erste Schritt, ein ganz wichtiger!
Geschwister können auch helfen!

...
leise

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Elfchen
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Beitrag So., 04.11.2012, 09:31

Lieber Ben
Ich selbst bin eher aggresionsgehemt, kein Wunder musste ich immer alles schlucken und dagegen auflehnen war nicht vorgesehen. In mir brodelt es daher bis heute, und bin machmal auch latent aggresiv. Man spürt da auch in gewissen Momenten. Vor diesen Gefühlen habe ich Angst, weil ich sie nie richtig zugelassen haben und auch nie gelernt habe damit umzugehen.


Mensch, du weisst gar nicht, wie gut ich das verstehen kann! Man kann diese Wut auch konstruktiv nutzen, Ben. Das ist mein Ansatz momentan. Diese Wut ist eine Kraft, die uns am Leben gehalten hat in vieler Weise. Wut ist eigentlich verletzte Kraft.
Diese unterschwellige Aggression ist nicht gut, die müssen Menschen wie du und ich lernen, zu kanalisieren. Ich weiss nicht, wie es dir ergeht, aber ich persönlich habe seit meiner Kindheit ein selbstdestruktives Verhalten angefangen. Da die Wut nicht rauskonnte, hab ich sie nach innen geleitet. Ich habe eine chronische Darmerkrankung bekommen, die mich halb ins Jenseits befördert hat, und auch sonst hab ich Aggressionen in verschiedenster Weise immer gegen mich selber gerichtet. Da bin ich momentan sehr daran, das zu ändern, denn jetzt rächt sich mein Körper und meine Psyche auf brutalste Weise.
Das Muster wiederhole ich hoffentlich nicht.
Nicht bewusst, Ben, aber unbewusst vielleicht. Vielleicht sogar im umgekehrten Schluss. Persönlich ist bei mir ab und an eine Heftigkeit meinen Kindern gegenüber zb. hervorgetreten, die ich dann versucht habe zu kompensieren. Das - so denke ich- hat meine Kinder dann eher verwirrt.
All dies geschieht natürlich unbewusst. Bei mir sind es immer Situationen der Überforderung, die mich heftig werden liessen und lassen, und zur Verzweiflung treiben. Leider musste ich einsehen, dass das Unterbewusste in manchen Situationen stärker ist als der Intellekt. Deshalb ist es so wichtig, das anzugehen!

Natürlich bin ich innerlich immer noch sehr wütend auf alles, weiss aber bis heute nicht, wie ich das alles kanalisieren soll. Viel Energie habe ich in den letzten Jahren in die Arbeit gesteckt.
Mensch, auch das kenne ich. Hab mich total fertiggemacht für die Arbeit . Die Arbeitgeber freut es, aber man selber - also ich zumindest- zahle einen sehr, sehr hohen Preis dafür. Ich kenne das Gefühl: "Brav sein", alles 1000%ig machen, dann bekommt man vielleicht mal einen Brösel Anerkennung. Und auch diese löst eher Schamgefühl als was Gutes aus. Bei mir zumindest. Man ist sich ja keine Zuwendung gewöhnt und kann mit Ablehnung besser umgehen..
Zuhause bei meinen Eltern war immer alles sehr harmonisch, ich durfte faktisch nie mal "Böse" oder "frech" sein. Zum Mittagessen lief immer Klassische Musik und die Tischkerzen brannten zu Weingläsern und Braten auf ordentlich gedecktem Tisch. Meiner Mutter war das alles sehr wichtig, diese Harmonie. Im Nachhinein weiß ich dass dieses familiäre Verhalten zerstörerisch wirken musste auf Dauer.
Eigentlich ist es schön, was deine Mutter da versucht hat. Ich kenne das ein wenig, bei mir hat es jetzt auch immer Kerzen beim Essen. Ich glaube, dass sie da ehrlich war und versucht hat, euch was mitzugeben.
Wie kann ich denn durch diese Wut hindurchgehen? Trauer trage ich irgendwie ständig in mir, manchmal kommt sie auch wieder zum Vorschein...meist wenn ich alleine bin. Und alleine bin ich oft.
Ja, jetzt die Frage aller Fragen.
Kann dir nur berichten, was ich versuche.
Zuerst mal: die Wut und die Aggression annehmen, nicht versuchen zu verdrängen. Das hab ich jahrelang gemacht. Wütend? ICH? Sicher nicht!! Eben doch, ich BIN wütend, ich bin traurig.
Die Akzeptanz ist schon ein grosser Schritt. Dann nicht mehr unterdrücken. Gelingt mir auch nicht immer. Sich adäquat wehren. Nachfragen. Nicht auf sich sitzen lassen. Respekt einfordern.
Und dann auch achtsam mit sich selber sein. Mehr auf die Gefühlslagen schauen, dem nachspüren, sich da hineinlassen, nicht verdrängen. Ja zu diesen Gefühlen sagen, sie zulassen.
Letzte Nacht beim Einschlafen kamen mir wild alle Bilder in den Sinn, wo ich gedemütigt wurde. Es war so schrecklich, aber ich konnte mich nicht dagegen wehren. Gut habe ich mir gesagt, das war. Heute kann ich wenigstens versuchen, sowas nicht mehr zu dulden, mich abzugrenzen.
Grenzen setzen ist auch sehr wichtig. Niemand sollte mehr eine Grenze überschreiten dürfen.
Weinen scheinst du zu können, richtig trauern. Vielleicht kickboxt du nochmal, vielleicht versuchst du nochmal eine Therapie, es könnte sich lohnen, va. wenn du zielgerichtet mit dem Thema rangehst.

Gefühle zulassen, und auch annehmen, dass da eine Wunde ist. Aber die kann auch heilen, und es bringt dir nichts, dich der Welt zu verschliessen, bis sie zugewachsen ist. Jeder Mensch hat die seinen.
Wir können die Vergangenheit nicht ändern, nicht ungeschehen machen. Aber wir können versuchen, uns jeden Tag auf's Neue zu finden, und die Zeit sinnvoll zu nutzen, um mit den Spuren so gut zu leben, wie es möglich ist.
Du bist so ein reflektierter Mensch, lieber Ben, du wirst es sicher schaffen!
Es sind nicht die Dinge, die uns beunruhigen, sondern die Meinungen, die wir von den Dingen haben. Epiktet

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Xanthippe
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Beitrag Mo., 05.11.2012, 17:55

Oh, das ist heftig. Ich wurde auch von meinen Eltern missbraucht. Sie haben sich nie entschuldigt. So wie bei dir war mein Kontakt off and on. Im vergangenen Sommer habe ich den Kontakt fuer immer abgebrochen und es fuehlt sich gut an.

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Thread-EröffnerIn
Ben35
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Beitrag Mo., 05.11.2012, 18:21

@ Xanthippe: Fühlt es sich wirklich gut an? Oder machst du dir vielleicht innerlich was vor? Ich kämpfe heute noch damit. War es eine richtige Entscheidung, war es eine falsche Entscheidung? Liebe ich meine Eltern noch? Was machen Sie gerade, manchmal tun sie mir auch noch leid usw. Daran merkt man, wie stark ich innerlich immer noch an Ihnen hänge und dass mich das enorm blockiert und belastet. Da hat die 1 jährige Therapie nicht wirklich etwas bewirkt. Egal was ich tue, irgendwie scheinen sie bis heute sehr stark noch mein Leben zu bestimmen.

Ben

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Xanthippe
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Beitrag Mo., 05.11.2012, 23:51

Ben es erleichtert mich. Sie haben meine Adresse und schicken Karten zu meinem Geburtstag mit lateinischen Spruechen (mein superintelligenter Vater). Zu viele Verletzungen, zu viel Gewalt, alles war zu viel. Sie tun mir nicht leid. Ich will mit ihnen nichts mehr zu tun haben. Ebenso hab ich meine Schwester aus meinem Leben geworfen. Ich habe ihr ein mail geschickt in dem drinnen stand: fuck off, dann habe ich sie geblockt, das wars. Man kann sich ab einem gewissen Alter die Familie aussuchen. Es heisst nicht dass ich den Kontakt zu solchen Kreaturen suchen muss nur weil ich mit ihnen verwandt bin. Ich darf waehlen wer in meinem Leben ist und wer nicht. Verstehst du was ich meine?

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candle.
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Beitrag Di., 06.11.2012, 01:45

Hallo zusammen!

Ben, hast du den Brief abgesendet?
Xanthippe hat geschrieben: Sie haben meine Adresse und schicken Karten zu meinem Geburtstag mit lateinischen Spruechen (mein superintelligenter Vater).
In meinen Augen ist das gar kein Kontaktabbruch Xanthippe und du bist sicher auch (noch längst) nicht durch mit dem Thema- so lese ich das raus. Du willst noch etwas von deinen Eltern und hast da das Hintertor geöffnet.

Egal was Eltern einen angetan haben, sie waren Wegbegleiter, oft schlecht und verkehrt, aber vielleicht auch mal richtig und gut. In rasender Wut zurückzubleiben halte ich nicht für hilfreich.

Ich habe Jahre keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern, es tut mir gut, ABER es war ein jahrelanges Unterfangen sich innerlich zu trennen.

Ben, was ist mit deiner Mutter? Psychologisch ist es natürlich logisch sich einen guten Part der Eltern zu erhalten, weil es einem wahrlich den Boden unter den Füßen wegzieht, wenn auch das Bild zerstört wird. Verständlich! Und umgekehrt wird es auch so sein: Würden Eltern alles zugeben und sehen, dann würden auch sie unter ihrer Last zusammenbrechen. Ob ich das wollte und ob es mir helfen würde? Nein!

Viele Grüsse!
candle
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