Wie kommst du dazu, zu behaupten, dies sei ein Stereotyp? Das empfinde ich als übergriffig gegenüber allen Betroffenen, wo es so war. Und da spreche ich auch von meinen eigenen Erfahrungen. Meine Mutter hatte meinen Vater desöfteren bei Übergriffen ertappt und dies gewiss nicht vertuscht. Meine Mutter war aber auch selbst Opfer der körperlichen und sexuellen Gewalt von meinen Vater, Tatraum war also die Ehe und die Familie.Lotosritter hat geschrieben: Dein Einwand, sexuelle Gewalt wäre lange Zeit (welche und wann?) durch ein gesellschaftliches Umfeld vertuscht und diminuiert worden, ist ein Stereotyp, aber entspricht nicht den Tatsachen. Wenn, müsstest du deine Behauptung schon präzisieren. Wenn es um sexuelle Gewalt in Familien geht, dann mag dein Stereotyp gezielter aber gleichwohl nicht richtig sein. Es waren jedoch weniger gesellschaftliche als vielmehr familiäre Strukturen, die hier Vertuschen und Verschweigen ermöglichten. Vor allem aber ist es die maßlose seelische Verletzung des Opfers - deswegen auch der Begriff Seelenmord -, die bedingt, dass eine solche Schändung oft über Jahrzehnte und meistens bis ins Grab verschwiegen wird.
Meine Mutter ist sogar einmal zur Polizeistelle in der nächsten Kleinstadt gegangen, um dort Hilfe zu suchen und meinen Vater anzuzeigen. Sie wurde von dort wieder "nach Hause" geschickt, mit der Bemerkung, sie sei wohl verwirrt. Wohlgemerkt, nach Hause geschickt - psychologische Hilfe bekam sie auch nicht. Einfach nur nach Hause geschickt.
Und so war das im gesamten Umfeld: Man wollte das nicht hören. Probleme in der Familie seien Probleme dort. Spezifische Beratungsstellen gab es damals gar keine vor Ort (ländliche Umgebung).
Obwohl ich als auch meine Mutter durchaus auffällige Symptome zeigten.
Das einzige, was geschah war, dass mich ein Vertrauenslehrer in der 9.Kl fragte, ob ich Drogen nehme, ich sei ab und an "komisch" und hätte in den Leistungen eine Berg- und Talfahrt, zudem war ich gegen die Lehrer rebellisch.
Nein, ich nehme keine Drogen - somit war es von Tisch, keine Hilfsangebote nichts. Auch war mein Vater in Elternsprechstunden durchaus als komisch wahrgenommen, nun, die Lehrer freuten sich, wenn er die Tür von außen zumacht und das war´s.
Aha, sie freut sich sicherlich, dass du das weisst. Ich nehme mal an, sie hat es dir nicht persönlich erzählt.Lotosritter hat geschrieben:Was denkst Du zum Beispiel, warum hat Pola Kinsky so viele Jahre geschwiegen, ehe sie über die sexuelle Gewalt geschrieben hat, die sie durch ihren Vater erlittenen hat? Es waren gewiss keine gesellschaftlichen Strukturen, die sie daran gehindert hatten, sondern ihre ganz persönliche seelische Verletzung.
Es waren die gesellschaftlichen Strukturen, da es keinen Raum gab, wo sie das hätte artikulieren können und mit Ächtung hätte rechnen müssen etc.
Erstaunlich, dass du, wenn du dich nicht auf deine eigene Erfahrung beziehst, Beispiele aus der Prominenz oder aus weit vergangenen Zeiten nimmst. Aber wie die User hier das empfinden, die nicht deine konkreten Erfahrungen teilen, sondern eine andere sexuelle Missbrauchs-Geschichte haben und eventuell von sich sagen, den sexuellen Missbrauch über eine Phase verdrängt zu haben, hat für dich keine Geltung?
Aha, und wenn jemand nicht weiss, dass körperliche Gewalt eine Straftat ist, dann fühlt er keine Schmerzen, die er, wenn er keine ärztliche Hilfe bekommen kann, so abspaltet, dass er für diese Zeit seelisch aus den Körper springt und sie, sobald es "vorbei" ist, verdrängt, um sich nicht mehr komplett hilflos zu fühlen?Lotosritter hat geschrieben:Und dass ein sexueller Übergriff nicht als solcher erkannt wird, liegt vor allem daran, dass er erst als solcher erkannt werden kann, wenn das Wissen, dass es sich dabei um sexuelle Gewalt gehandelt hat, gereift ist. Wenn ich nicht weiß, was sexuelle Gewalt umfasst, kann ich die Tat auch nicht in diesem Spektrum einordnen. Und wenn ich mich aus welchen Gründen auch immer der Wissenserkenntnis entziehe, ordne ich die Tat ebenfalls nicht als das ein, was sie war. Ein Problem, das bekanntermaßen auch die Opfer antiker „Knabenliebe“ hatten. Doch um das Problem nicht unnötig zu abstrahieren eine Sequenz aus meinem Therapietagebuch vom 8. Mai 2015: (Fortsetzung nächster Kasten)
Wie kannst Du es wagen, allen anderen Betroffenen vorzuschreiben, ihr Dilemma exact genauso zu erleben wie Du?
Das deutet für mich wieder auf Opferkonkurrenz hin.
Ist aber extrem übergriffig.
Es ist nicht das Wesentliche für das Insichhineinnehmen, dass es nicht als sexueller Übergriff benannt werden kann, sondern der Gesamtkomplex der Verletzung als auch der extremen Verunsicherung in der beziehung.