Die Sprachlosigkeit der anderen

Körperliche und seelische Gewalt ebenso wie die verschiedenen Formen von Gewalt (wie etwa der Gewalt gegen sich selbst (SvV) oder Missbrauchserfahrungen) sind in diesem Forumsbereich das Thema.
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Thread-EröffnerIn
Lianaline
sporadischer Gast
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weiblich/female, 40
Beiträge: 13

Die Sprachlosigkeit der anderen

Beitrag Sa., 17.09.2022, 23:02

Ich ziehe es meistens vor zu schweigen. Da wo ich es nicht muss, in der Therapie, wo man sich in einem geschützten und nicht wertendem Bereich befindet, geht es flüssig zu reden.
Im privaten Umfeld ist es schwieriger.
Die Frage, wie geht es dir, ist in den letzten Monaten, auch wenn aus Höflichkeit gestellt, wie ein Dolchstoß.
Ich sehe meinem gegenüber in die Augen, was soll ich antworten? Ich habe zwei Nächte schlecht geschlafen, weil ich versucht habe, herauszufinden, was in den Sekunden oder Minuten meines Blackouts passiert ist?
Soll ich antworten, schlecht? Soll ich lügen, gut? Neutral?
Das Gegenüber erwartet ein gut, mit einem, es geht mir schlecht ist es sehr wahrscheinlich überfordert.
Ich hatte beim Sex mit einer vertrauten Person, eine Panikattacke, da die Stellung, die gleiche war, wie beim Übergriff.
Er war irritiert, ich war irritiert. Er fragte mich, was los sei und ich habe geantwortet, ich wurde im Jänner vergewaltigt in dieser Stellung. Es war trocken, sachlich und wahrheitsgetreu ausgesprochen.
In seinen Augen sah ich, Schock und Unruhe. Er war sprachlos und völlig verunsichert.
Ich ärgerte mich nur still, mein Maul aufgerissen zu haben.
Es war wieder da, die Sprachlosigkeit. Die Unsicherheit bei mir war da, kann er jetzt noch unbeschwert mit mir schlafen? Oder sagen seine Augen jedes mal, sie wurde vergewaltigt, kann ich sie überhaupt noch angreifen oder mit ihr schlafen?
Meine Seele wurde verletzt, ja mein Stolz auch, ich stand etwa eine Woche unter Schock, ich habe Lücken am Tag danach, aber meine Libido hat er nicht umgebracht, sie ist da und absolut funktionstüchtig.
Was erwartet man von einer Geschädigten eines Sexualdeliktes?
Das Leben einer Nonne oder eine traumatisierte Libido?
Ist es etwas so furchtbar unaussprechliches, nach einem sexuellen Übergriff Sex zu haben?
Dann gibt es die Menschen, die dich wochenlang mit mitleidigen Augen ansehen. Willst du darüber reden?
Bei der Frage geht mir die Galle hoch. Worüber? Willst du jedes Detail hören, jeden unterdrückten und wütenden Schrei, beim Versuch der Situation zu entkommen?
Warum bist du überhaupt mit ihm ins Bett gegangen?
Das erinnert mich immer an Sätze, wie, ihr Rock war zu kurz, sie war angetrunken, sie ist mitgegangen.
Ich habe es oft vorgezogen einfach zu schweigen und zu lächeln.
Wenn sich die Türe zu Hause schließt, du durchatmest und den Schmerz fühlst, der sich durch dein Gehirn bohrt und du am Ende weißt, dass du ihn aushalten musst, es alleine dein Schmerz ist, dann spürst du die Einsamkeit und deine eigene Unfähigkeit, aus der Situation zu entkommen.
Der Übergriff ist hunderte Male durch meinen Kopf gegangen, ich komme klar.
Bei ein paar Menschen, die am Anfang alles richtig gemacht haben, sah ich nach einigen Wochen den Vorwurf, warum ich noch nicht über den Berg bin.
Wie lange darf man traumatisiert sein, hat das ein Ablaufdatum?
Es geht mir meistens gut, ich glaube, dass ich unter anderem auch durch die Therapie, relativ gut zurecht komme.
Dennoch ist es bedenklich, dass oft Schwiegen sinnvoller ist, als reden.
Man ist am Ende meistens alleine, mit dem Aushalten, mit den Tränen und der Verarbeitung.
Zuletzt geändert von Pauline am So., 18.09.2022, 04:39, insgesamt 1-mal geändert.
Grund: "Triggergefahr"aus dem Titel entfernt. Diese nutzen wir im Forum- siehe Netiquette- nicht.

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Gespensterkind
[nicht mehr wegzudenken]
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weiblich/female, 33
Beiträge: 1454

Beitrag So., 18.09.2022, 08:14

Ich möchte Dir antworten - weil ich nicht sprachlos sein will.
Auch wenn ich vielleicht gar keine richtige Antwort habe.
Aber ich habe Dich gelesen - und kann das soooooooo gut nachvollziehen. Und bin Dir in gewisser Weise dankbar dafür, dass Du Worte für etwas findest, was mir selbst sehr schwer fällt, in passende Worte zu fassen.
Damit hast Du - zumindest für mich - Sprache gefunden.
Ich finde das wichtig.
Und trotzdem ist es so hoffnungslos, wütend, hilflos machend - dieses: wenn ich die Wahrheit sage, wer geht dann mit mir noch "normal" um. Ich möchte eben nicht in Watte gepackt auf einen Stuhl gestellt und mitleidig beobachtet werden.
Wenn ich schweige - dann ist es trotzdem da. Immer.
Nichts scheint richtig zu sein.
Nichts was man sagt.
Und trotzdem ist es in einem.
Ich will Dir damit nur sagen: ich habe Dich gelesen.

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Scars
[nicht mehr wegzudenken]
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anderes/other, 27
Beiträge: 1555

Beitrag So., 18.09.2022, 11:13

Was erwartest du von deinem Gegenüber? Auch wenn das hart klingt und sicherlich nichts ist, was du hören willst, auf mich wirkt es eher so, als würdest du mit den Reaktionen nicht klar kommen. Ich kann in deiner Schilderung der Anderen nichts „unnormales“ erkennen. Es gibt Gesprächsangebote, es gibt Rücksichtnahme deines Sexualpartners. Wie soll er denn reagieren, wenn er von einer Gewalttat erfährt? Ich kann völlig nachvollziehen, dass es dich wahnsinnig wütend macht, wenn das oberflächliche Floskeln sind. Das habe ich in der Vergangenheit fast ausschließlich erlebt, hilflose Hilfsangebote, Wegschauen, Ablehnung. Aber wenn die Anteilnahme der Anderen echt ist, dann liegt es an dir, was du daraus machst.
Remember to leave pawprints on hearts.

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Lawendelblüte
Helferlein
Helferlein
anderes/other, 60
Beiträge: 37

Beitrag Mi., 05.10.2022, 12:37

Hallo,
genau so wie du das beschreibst fühle ich auch schon lange. Ich habe mir dann doch mal überlegt, was ich gerne hören würde. Und da ist der Haken... ich möchte auf der einen Seite nicht bemitleidet werden und auf der anderen Seite wünsche ich mir ein Verständnis für diverse Verhaltensweisen die wahrscheinlich aufgrund meiner Bio da sind. Also denke ich mir, es kann gar keiner recht machen. Sobald ich Mitgefühl bekomme, beschwichtige ich ja selbst wieder alles. ..
Kennst du das auch?

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peppermint patty
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weiblich/female, 80
Beiträge: 1931

Beitrag Mi., 05.10.2022, 13:30

Für mich steckt in deinem Beitrag eine sehr heftige Wut, ein regelrechter Zornesausbruch.
Ich kann verstehen, das nach so einer schlimmen Tat sehr viel Wut, Schmerz und Ohnmachtsgefühle vorhanden sind. Das finde ich vollkommen angemessen und jede braucht ihre eigene Zeit dies zu verarbeiten.

Ich finde aber, dass du deine riesige Wut gegen alle Menschen richtest, auch gegen die, die dir was bedeuten, und das kann nach hinten losgehen. Zum einen wissen „Nicht-Opfer“ oft tatsächlich nicht wie sie sich verhalten sollen. Das ist ja auch nicht eindeutig und von Mensch zu Mensch unterschiedlich was er/sie beim Offenbaren von Unfassbaren braucht. Insofern ist es auch wichtig Ihnen Zeit zum Verstehen einzuräumen. Ich kann das Geschocktsein des Mannes jedenfalls verstehen. Das was einem Menschen angetan wird, beeinflusst ja auch immer sein nahes Umfeld, insofern tut man es indirekt auch den Angehörigen mit an.
Andererseits, und das finde ich besonders tragisch stößt du diese Menschen von dir, wenn du deine Wut auf sie ablädst- da wo sie NICHT hingehört. Denn dann werden diese Menschen durch dich zu Tätern stilisiert, die sie nicht sind. Im Gegenteil sie wollen Dir ja Gutes tun, wissen vielleicht nur nicht wie sie dies umsetzen können.

Die Sprachlosigkeit zu überwinden ist sicher schwer, doch man kann sich herantasten, Stück für Stück. Da geht es dir vermutlich ebenso wie deinem Gegenüber.

Ich denke, hilfreich wäre es, wenn du mitteilen könntest was du brauchst: zB
- Einfach nur zuhören
- Dich nicht bemitleiden
- Deinen Schmerz sehen und dir Zeit geben
- Dich als normales Wesen betrachten und nicht immer mit Samthandschuhen anfassen
- und gerade mit deinem Sexualpartner absprechen was für euch beide möglich ist, und was eher pausieren sollte

So bitter es auch klingt, da solltest du mehr Verantwortung für dein Wohlergehen übernehmen, ansonsten kann der Heilungsprozess schwieriger werden.

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Charlie Foxtrott
Forums-Insider
Forums-Insider
weiblich/female, 45
Beiträge: 428

Beitrag Mi., 05.10.2022, 14:15

Hey, ich hatte vor einiger Zeit einen Thread zu einem ähnlichen Thema, aber nicht so gut auf den Punkt gebracht. Dieses Einsamkeitsgefühl (Du nennst es Sprachlosigkeit) kennen wohl viele, ich auch. Da die Mitmenschen Verhalten meist an denen messen, die keine Gewalt erlebt haben und denken, normale Reaktionen sind irrationale Ängste.
Im Laufe meiner Therapie habe ich mehr Verständnis für Nichtbetroffene entwickelt. Die wissen ja nicht, welcher Film bei mir abgeht, wenn ein Trigger kommt.
Die Freude am Sex (oder was auch immer) mußt Du Deinem Partner/Deiner Umwelt schon selbst vermitteln, da schließe ich mich den Vorredner*innen an. Andererseits erwartest Du Rücksicht bei Flashbacks, bekommst sie auch, als Gesprächsangebot. Da müsstest Du nun die FÜhrung übernehmen und ganz genau sagen, was Du willst: zwischen jedes Detail auswalzen und "ja, dies und jenes triggert, ich bin immer noch wütend auf den Typen...." gibt es ganz viele Zwischenstufen, die es zu kommunizieren gilt. Du sagst Du kommst klar, fragst aber gleichzeitig, wie lange es dauert.
Solidarische Grüsse

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Lawendelblüte
Helferlein
Helferlein
anderes/other, 60
Beiträge: 37

Beitrag Mi., 05.10.2022, 16:16

Aber was mit bei deinen Ausführungen geholfen hat, bzw. einen Denkanstoß gab, war, dass man nach einem sexuellen Gewalterfahrung (egal ob körperlich oder psychische) auch Lust auf Sex haben kann, bzw. darf.
Bei mir ist das ja auch so, dass ich ein erfülltes Sexleben habe. Aber unterschwellig wurde dadurch das Muster, "dann kann es nicht so schlimm sein" total bedient-und zwar ausschließlich von mir. Anderherum gesagt, könnte es auch heißen, "stell dich nicht so an, es haut eh noch alles ganz gut hin" , "hab dich nicht so"
Und auch wenn ich von dem Übergriff mal was andeute, z.b. bei einer guten Freundin, merke ich wie die dann ähnliches denkt oder zumindest darüber verwundert ist, dass ich ein scheinbar normales Sexleben hinbringe...

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