Rabenmutter

Manchen Menschen fällt es leichter, über ihre Gefühle und Gedanken zu schreiben oder zu malen, als sie auszusprechen. Hier ist Platz dafür: Bilder, Gedichte, Erfahrungsberichte und andere Texte (bitte nur eigene).
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Rabenmutter

Beitrag Fr., 07.11.2008, 03:26

RABENMUTTER
(aus dem Jahr 2001, aber heute noch genauso aktuell wie damals)


„Mutter?“
„Ja?“
„Was ist da draußen vor den Fenster? Was ist da hinter den Hügeln?“
„Krieg, mein Schatz, es ist Krieg!“
„Das sagt Ihr immer!“
„Aber es ist so!“

„Weshalb plagt Dich diese Unruhe, Kind?“
„Es muss doch mehr geben als nur den Krieg. Ich spüre es, da ist noch mehr!“
„Was soll denn sonst sein, mein Kind? Da ist nichts!“
„Und wenn der Krieg vielleicht schon lange vorbei ist?“
“Du redest wirr, mein Kind!“
„Woher wollt Ihr es denn wissen? Ward Ihr dort? Nein, ward Ihr nicht!“
„Man hätte mich unterrichtet, und nachts, wenn Du wohl behütet ruhst, dann höre ich noch immer die Trommeln...“
„Was Ihr hört, Mutter, das wird Euer Herzschlag sein!“

„Irgendwo da draußen, da draußen vor dem Fenster, da muss das Leben sein. Ich fühle es. Ich weiß es ganz genau!“
„So hoffte und glaubte auch ich vor langer Zeit. Doch glaube mir, da ist nichts außer Krieg!“
„Mutter, warum lügt Ihr mich an?“
„Du wagst es mich eine Lügnerin zu schimpfen?! Hinfort! Geh mir aus den Augen bis Du zur Vernunft gekommen bist!“

„Mutter?“
"Ja?“
„Heute morgen als ich erwachte, da kam ein Rabe und setzte sich zu mir ans Fenster...“
„Ein Rabe, sagst Du? Ach, ich habe so lang schon keine Raben mehr fliegen sehen. Vielleicht war es eine Krähe...?“
“Nein! Es war ein Rabe, Mutter! Ich kenne ihn wohl, aus meinen Träumen, aus frühster Kindheit. Ich bin ihm sehr verbunden!“

„Der Rabe erzählte mir von früheren Zeiten, als Ihr mit ihm durch die Lande zogt... Ihr ward mal dort! Drum bitte, - bitte, Mutter – sagt mir, was ist dort? Was war dort vor dem Krieg?“
„Es ist schon lange, lange her, ich kann mich kaum erinnern!“
„Versucht es, bitte, mir zu liebe!“
“Nur Leere, mein Kind, nur Leere und das Nichts, eine sinnlose Welt!“

„Wieso gehst Du nicht mit mir dorthin, wo der Mond den Horizont küsst, damit ich mich selbst davon überzeugen kann?“
„Das geht nicht! Ich muss die Burg hüten, die Dinge in Ordnung halten bis Dein Vater wieder kommt. Was wird er denken, wenn er nach hause kommt, und wir sind nicht da und alles ist schmutzig?“

„Wo ist Vater?“
„Er ist im Krieg! Das habe ich Dir wohl schon tausend mal gesagt! Das weißt Du doch!“
„Woher soll ich es denn wissen, Mutter? Ich war nie dort!“

„Komm, wir nähen Dir ein neues Kleid, damit Du hübsch bist, wenn Dein Vater wiederkehrt!“
„Ich habe schon dutzend Kleider, ich brauche kein weiteres!“

„Was mag an diesem schönen Tag nur in mein Kind gefahren sein?!!“
„Wißt Ihr, Mutter, der Rabe brachte Kunde ... Vater ist schon viele Jahre tot!“
"Wer das hier liest, ist selber doof."

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Xanny
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Beitrag Fr., 07.11.2008, 07:17

Eine sehr schöne und zugleich sehr traurige Geschichte. Vor allem der letzte Satz ist einer, den ich wohl schon lange ausgesprochen haben sollte...
Xanny
*Ein Freund ist jemand, der Deine Vergangenheit versteht, an Deine Zukunft glaubt und Dich so akzeptiert, wie Du bist*

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