Bestimmte Themen erst nach einem Jahr ansprechen?

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.
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Sindy
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Bestimmte Themen erst nach einem Jahr ansprechen?

Beitrag Di., 07.09.2021, 19:17

Hallo zusammen!

Meine Theraphie geht nun schon ein Jahr. Mit meinem Therapeuten habe ich bereits über viel gesprochen und mir tut die Theraphie sehr gut.

Nun ist es so, dass es noch einige Themen gibt, die ich in der ganzen Zeit noch garnicht angesprochen habe, weil sie mir sehr unangenehm sind. Es ist nicht so, dass ich gelogen hätte, ich habe einfach manche Dinge bisher bewusst nicht erzählt.

Erste Frage:
Ist es okay, wenn man Dinge erst so spät anspricht? Weil es wäre ja offensichtlich besser gewesen, wenn ich in den ersten Sitzungen bereits alles erzählt hätte, damit er sich ein vollständiges Bild von mir machen kann.

Zweite Frage:
Manche der Themen haben vielleicht nicht direkt etwas mit der bisher gestellten Diagnose zu tun. Ist es okay wenn ich nun
mit Themen ankommen, welche mich zwar belasten, aber nicht zur bisherigen Diagnose passen?


Danke Euch!

Sindy

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peponi
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Beitrag Di., 07.09.2021, 19:25

Liebe Sindy,

ich habe meinem Therapeuten erst nach vier Monaten ansatzweise erzählt, warum ich ihn überhaupt aufgesucht habe. Und auch jetzt, nach bald zwei Jahren, gibt es noch immer viele Sachen, die ich ihm nicht erzählt habe und einiges, von dem ich nicht weiß, ob ich es ihm überhaupt jemals erzählen will. Ich denke, dass das völlig normal ist. Manches braucht einfach Zeit. Zeit und Vertrauen. Und das ist nicht qua seines Status als Therapeuten gegeben.

Zu deiner zweiten Frage: auf jeden Fall! Ich fände eher das Gegenteil schwierig, wenn man sich so sehr mit einer Diagnose identifiziert, dass man nur noch Sachen thematisiert, die damit verknüpft sind. Du bist doch mehr als nur eine Diagnose.

LG peponi
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Montana
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Beitrag Di., 07.09.2021, 20:03

Ich fänd es im Gegenteil ziemlich merkwürdig, einem völlig fremden Menschen mal eben so sein Innerstes zu offenbaren. Nicht nur, weil man noch gar nicht wissen kann, wie der dann damit umgeht. Um zu verstehen braucht er evtl. auch etwas mehr Kontext als man in wenigen Stunden vermitteln könnte.
Ein "vollständiges Bild" gibt es eh nicht, dafür sind Menschen ein bisschen zu komplex "aufgebaut". Und eine Diagnose ist auch mehr eine Arbeitshypothese und ändert sich im Laufe der Zeit mit großer Wahrscheinlichkeit, wenn mehr Informationen zusammenkommen.
Wie will man z.B. einem Therapeuten alles wichtige über sich mitteilen, selbst wenn man das unbedingt möchte, wenn man noch gar nicht weiß, was denn wichtig sein könnte? Wüsste man schon alles, dann wäre eine Therapie wohl gar nicht nötig.

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metropolis
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Beitrag Di., 07.09.2021, 21:17

Hallo Sindy,

warum sollte das ein Problem sein? Besser spät als nie.

Ich selbst hatte mir schon beim Start meiner Therapie bewusst vorgenommen, dass ich bestimmte Dinge nicht besprechen will. Erst nach über einem Jahr konnte ich meine Geheimnisse Stück für Stück erzählen. Ich habe mich also in der Therapie umentschieden. Zuerst erzählte ich die Missbrauchserfahrungen in meiner Jugend, viel später dann die Suizidgedanken und die Trichotillomanie (drittes Therapiejahr). Es war sehr wichtig, dass ich mich geöffnet habe, sonst wäre mein Therapieerfolg nur kurzfristig gewesen.

Die Therapeuten sollten an sowas gewöhnt sein. Vielleicht fragen sie nach, was es so schwer machte, es zu besprechen. Aber das ist eine legitime und wichtige Frage. Ich z.B. hielt die Trichotillomanie und die Suizidgedanken unter Verschluss, damit man sie mir nicht wegnehmen kann, d.h. damit diese Bewältigungsmechanismen und Hintertüren nicht wegtherapiert werden. Klingt komisch, aber ich musste mich erst sicherer fühlen um diese Sachen in seine Hände zu geben.

LG

Metropolis
"Ja und dann? Weißt du nicht mehr? Wenn ich und du nicht gekommen wären und den kleinen Häwelmann in unser Boot genommen hätten, so hätte er doch leicht ertrinken können!"

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Thread-EröffnerIn
Sindy
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Beitrag Di., 07.09.2021, 22:56

Hallo zusammen,

vielen Dank für eure schnellen Antworten!

Okay gut, ich nehme auf jedenfall von euch mit, dass es normal ist, nicht alles am Anfang zu erzählen. Somit tanze ich nicht aus der Reihe. Ich dachte nur, dass es ein spezielles Problem von mir ist, weil ich auch sehr schüchtern bin. Aber dann ist dem nicht so. Das ist sehr beruhigend.

Dann muss ich auch keine Angst haben, dass er "böse" reagiert, wenn ich plötzlich mit neuen Themen um die Ecke komme? Es wird nämlich sicher überraschend für ihn sein. Wie haben eure Therapeuten bei neuen Themen nach so langer Zeit reagiert? Waren die völlig überrascht? Wurdet ihr ermutigt mehr zu erzählen? Hattet ihr keine Angst, dass er euch vielleicht nicht ernst nimmt?

Viele Grüße

Sindy

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Shukria
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Beitrag Mi., 08.09.2021, 06:31

Angst nicht ernst genommen zu werden, hatte ich auch. Meine Gedanken dazu waren, daß der andere bestimmt denkt : wenn es wirklich wichtig wäre, hätte ich es doch schon längst angesprochen.

Ich hab bisher nur positive Erfahrungen gemacht mit dem spät offenlegen. Und mit spät meine ich hier wirklich viele Jahre.
Also zb bei mehreren ambulanten Therapien bei gleicher Therapeutin erst in der zweiten Therapie Dinge offen zu legen (Übergriffe) und in der dritten dann noch mal andere (Gewalt)...

Es ist ja nicht nur das die Beziehung zum Gegenüber wachsen muss, auch das Vertrauen in Dich selbst das jetzt besprechen/aushalten zu können. Und für manche Themen (Gewalt, Panikattacken) brauchte es bei mir sogar einen Therapeut:innenwechsel weil die Arbeitsbeziehung bei der ersten nicht ausreichte.

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Montana
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Beitrag Mi., 08.09.2021, 07:28

Frag ruhig mal nach, ob es wirklich überraschend ist, was du noch erzählst. Denn dass es noch etwas gibt, was für dich ein sehr wichtiges Thema und noch nicht ansprechbar ist, das ist nicht nur sehr normal, sondern das kann ein Therapeut evtl. auch längst geahnt haben. Nur wird er nicht nachbohren, wenn du nicht selbst den Wunsch hast, darüber zu sprechen. Du bist ja schließlich zur Therapie da und nicht zum Verhör.

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peponi
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Beitrag Mi., 08.09.2021, 08:14

Sindy hat geschrieben: Di., 07.09.2021, 22:56 Dann muss ich auch keine Angst haben, dass er "böse" reagiert, wenn ich plötzlich mit neuen Themen um die Ecke komme? Es wird nämlich sicher überraschend für ihn sein. Wie haben eure Therapeuten bei neuen Themen nach so langer Zeit reagiert? Waren die völlig überrascht? Wurdet ihr ermutigt mehr zu erzählen? Hattet ihr keine Angst, dass er euch vielleicht nicht ernst nimmt?
Hallo Sindy,

nein, sicherlich nicht. Wie Montana schrieb - vielleicht ahnt er es ohnehin. Bei mir war es zumindest so. Therapeut:innen wissen doch, dass manches mehr Zeit braucht, insbesondere dann, wenn es wie bei dir sehr schambesetzte Themen sind.
Ich habe meinem Therapeuten eigentlich fast von Anfang an gesagt, dass es da noch Sachen gibt, die ich ihm nicht erzählt habe bzw. meinte bei bestimmten Fragen von ihm einfach, dass ich darüber nicht reden will. Das wusste er also immer. Manches habe ich ihm inzwischen erzählt, aber bestimmte Sachverhalte weiterhin ausgelassen. Das weiß er und meinte einmal zu mir, dass ich, wenn ich das so handhabe, weiterhin an meinem Narrativ festhalten könne - dass er mit Abwertung und Verachtung darauf reagieren würde, so wie ich selbst, und indem ich dann bestimmte Sachen auslasse, gar nicht die Erfahrung machen könne, dass es möglicherweise anders verlaufen würde als ich mir das vorstelle und mein Selbsthass vielleicht gar nicht so berechtigt sei. Da muss ich sagen, Touché, finde ich ein nachvollziehbares Argument. Den Mut dafür habe ich trotzdem noch nicht gefunden.

Was mir noch zu deiner ursprünglichen Frage wegen der Diagnose noch eingefallen ist: mich hatte neulich jemand auf ein bestimmtes Verhalten aufmerksam gemacht, von dem mir zwar immer bewusst war, dass ich das so mache, was ich aber für völlig normal gehalten habe. Ich hatte das infolgedessen also beim Therapeuten angesprochen und wollte von ihm eigentlich nur hören, dass es normal sei - was es wohl aber nicht ist und was der Therapeut bekräftigt hat. Im Grunde genommen wäre es sogar noch einmal eine weitere Diagnose, die dazu kommen würde.
Von daher, Diagnosen können sich immer erweitern und/oder verändern, sich darauf zu versteifen, hat m.E. nicht so viel Sinn. Ein guter Therapeut oder eine gute Therapeutin behandelt ja auch keine Diagnosen, sondern einen Menschen.

Wieso denkst du denn, dass dein Therapeut dich nicht ernst nehmen würde, wenn du bestimmte Themen jetzt erst ansprichst? Wäre es vielleicht eine Möglichkeit für dich, auf diese Weise mit ihm darüber ins Gespräch zu kommen? Also zu sagen "es gibt da ein paar Sachen, die ich bisher nicht angesprochen habe, aber ich befürchte, dass Sie das nicht ernst nehmen könnten". So würdest du den Raum dafür schon einmal eröffnen, dass es eben mehr gibt, kannst seine Reaktion ausloten, ohne gleich expliziter werden zu müssen.

LG peponi
silence like a cancer grows.

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metropolis
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Beitrag Mi., 08.09.2021, 09:05

peponi hat geschrieben: Mi., 08.09.2021, 08:14 Wäre es vielleicht eine Möglichkeit für dich, auf diese Weise mit ihm darüber ins Gespräch zu kommen? Also zu sagen "es gibt da ein paar Sachen, die ich bisher nicht angesprochen habe, aber ich befürchte, dass Sie das nicht ernst nehmen könnten". So würdest du den Raum dafür schon einmal eröffnen, dass es eben mehr gibt, kannst seine Reaktion ausloten, ohne gleich expliziter werden zu müssen.
So ähnlich habe ich es gemacht. Da ich auch viel Angst und Scham vor dem Offenlegen hatte, brauchte ich den Zwischenschritt darüber zu sprechen, dass es da eine Sache gibt, die ich bisher noch nicht erzählen konnte. So habe ich schon mal sehen können, wie er darauf reagiert. Er war natürlich ganz entspannt und ermutigend. Es gab ein schlechtes Gewissen von meiner Seite, dass ich das zurückgehalten habe, aber immerhin ist es ein Zeichen gewachsenen Vertrauens und einer stabilen therapeutischen Beziehung, wenn schwierige Themen ansprechbar werden. Der Therapeut wird dies auch positiv aufnehmen.

LG

Metropolis
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Theodor Storm

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münchnerkindl
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Beitrag Do., 09.09.2021, 22:17

Kommt drauf an was es ist.

Wenn du ihr zB einen massiveren Drogenkonsum oder Alkoholmissbrauch verheimlicht hast könnte es ggf sein, dass die Therapie nicht so wahnsinnig wirksam ist wenn das nicht Thema ist.

Wenn es aber was traumatisches ist, dann ist es ggf im Moment garnicht sinnvoll, das näher zu beleuchten sondern eher im Hier und Jetzt zu stabilisieren.

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