Fortschritte in der Therapie ohne sich zu verlieben?

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.
Benutzeravatar

Thread-EröffnerIn
Sindy
Helferlein
Helferlein
weiblich/female, 20
Beiträge: 80

Fortschritte in der Therapie ohne sich zu verlieben?

Beitrag Sa., 21.08.2021, 20:09

Hallo zusammen,

Ich lese schon seit einiger Zeit mit und habe mich nun entschlossen auch etwas zu schreiben.

Ich bin 20 Jahre alt und seit einem Jahr bei einem Therapeuten. Ich habe mich in dieser Zeit nur sehr, sehr langsam geöffnet, obwohl der Therapeut sehr nett und verständnisvoll ist. Es lag also nicht an ihm, ich bin sehr zufrieden wie er mit mir umgeht. Ich bin nur sehr schüchtern.

In den letzten beiden Sitzungen konnte ich mich mehr öffnen und habe von selbst und ohne Nachfrage einige traumatischen Erlebnisse aus meiner Kindheit erzählt, welche mich belasten. Dabei wurde ich sehr emotional, womit ich nicht gerechnet habe (konnte das Weinen gerade so unterdrücken). Ich dachte ich könnte es "souveräner" erzählen. Wie dem auch sei, er hat das gemerkt, hat mich mit seinen Worten getröstet und mich nicht gedrängt weiterzuerzählen. Das hat mir sehr gut getan.

Bisher habe ich es als Last gesehen, dass ich zur Theraphie gehe, aber nun freue ich mich zum ersten mal auf die nächste Sitzung. Von daher mache ich fortschritte (auch wenn ich so für mich denke "hättest besser mal in den ersten Sitzungen angefangen dich zu öffnen, dann hätte ich kein Jahr verschwendet").

Wenn ich so in mich reinfühle, bemerke ich, dass je mehr ich ihm erzähle und mich öffne, ich mich auch zu ihm hingezgen fühe (das ist wohl das, was hier im Forum immer als "Übertragung" bezeichnet wird, oder?). Wenn ich es richtig verstehe, ist das zu einem gewissen Grad auch "normal".

Ich gehe stark davon aus, dass wenn ich in den nächsten Sitzungen weiter erzähle und er mich tröstet/auffängt, werden meine Gefühle für ihn erneut stärker. Deshalb weiß ich nicht ob ich mich nicht besser wieder etwas zurücknehme um es nicht unnötig zu verstärken.

Nun zu meiner Frage:
Ist es ZWANGSLÄUFIG so, dass wenn man sich in der Sitzung öffnet, es zu einer "Übertragung" kommt? Gibt es nicht auch einen Weg, wie ich ihm meine traumatischen Erlebnisse erzählen kann OHNE Gefühle für ihn zu entwickeln? Weil das wäre ja eigentlich ideal, oder nicht?

Ich hoffe, meine Beschreibung und Frage ist nachvollziehbar. Ich suche einfach nach einem Weg, die Theraphie erfolgreich voranzubringen (wofür ich mich öffnen muss), aber gleichzeitig will ich vermeiden, dass ich mich in ihn verliebe. Wie macht ihr das am besten?

Vielen Dank!

Sindy

Werbung

Benutzeravatar

Solage
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 48
Beiträge: 2884

Beitrag Sa., 21.08.2021, 22:45

Hallo Sindy,

nach meiner Erfahrung ist es so, dass eine Zuneigung /Liebe sprich Vertrauen zum Therapeuten sehr hilfreich ist, um sich zu öffnen.
Ich finde es schön, dass du dich jetzt auf die Sitzungen freust.

Benutzeravatar

Montana
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 44
Beiträge: 3360

Beitrag Sa., 21.08.2021, 22:53

Das ist keine Übertragung, sondern die ganz normale Reaktion darauf, dass jemand freundlich mit dir umgeht, obwohl er Dinge über dich weiß, die dich verletzlich machen. Es ist, was Menschen brauchen und sich ersehnen. Wir sind ja schließlich soziale Wesen.
Übertragung wäre, wenn du ihn gar nicht so wahrnehmen würdest, wie er ist, sondern wie jemanden, den du mal kanntest. Wenn du also völlig unabhängig von seinem realen Verhalten z.B. ständig dieselbe Angst vor ihm hättest wie vor einem Elternteil und der festen Überzeugung wärst, er wäre wirklich genauso fies.
Das scheint mir aber nicht der Fall zu sein. Du beschreibst ihn ja so, wie man sich einen Therapeuten vorstellt.

Benutzeravatar

Thread-EröffnerIn
Sindy
Helferlein
Helferlein
weiblich/female, 20
Beiträge: 80

Beitrag Sa., 21.08.2021, 23:10

Solage hat geschrieben: Sa., 21.08.2021, 22:45 Hallo Sindy,

nach meiner Erfahrung ist es so, dass eine Zuneigung /Liebe sprich Vertrauen zum Therapeuten sehr hilfreich ist, um sich zu öffnen.
Ich finde es schön, dass du dich jetzt auf die Sitzungen freust.
Hallo Solage,

danke für deine Antwort.

Genau, ich denke auch, dass die Zuneigung enorm hilfreich ist um sich zu öffnen. Aber ist es nicht gleichzeitig ein Problem, weil dann das Risiko besteht, dass man sich eben zu sehr nach dem Therapeuten sehnt? Sich ein bisschen in die Person verguckt?
Und irgendwie gehe ich davon aus, dass dieses Risiko sehr hoch ist.

Viele Grüße

Werbung

Benutzeravatar

Thread-EröffnerIn
Sindy
Helferlein
Helferlein
weiblich/female, 20
Beiträge: 80

Beitrag Sa., 21.08.2021, 23:16

Montana hat geschrieben: Sa., 21.08.2021, 22:53 Das ist keine Übertragung, sondern die ganz normale Reaktion darauf, dass jemand freundlich mit dir umgeht, obwohl er Dinge über dich weiß, die dich verletzlich machen. Es ist, was Menschen brauchen und sich ersehnen. Wir sind ja schließlich soziale Wesen.
............
Hallo Montana,

danke für die ausführliche Erklärung. Ich stimme dir zu, dass es sich in meinem Fall somit nicht um Übertragung handelt. Ich sehe in meinem Therapeut nicht jemanden den ich schonmal kannte.

Aber ist es wirklich OK wenn sich aufgrund der intensiven Gespräche Gefühle für den Therapeuten vertärken? Sollte man das nicht unterbinden oder irgendwie anders handhaben?
Zuletzt geändert von Pauline am So., 22.08.2021, 06:16, insgesamt 1-mal geändert.
Grund: Bitte keine Fullquoten (Komplettzitate) verwenden, siehe Netiquette. Danke.

Benutzeravatar

alatan
Forums-Gruftie
Forums-Gruftie
weiblich/female, 48
Beiträge: 997

Beitrag So., 22.08.2021, 07:48

Sindy hat geschrieben: Sa., 21.08.2021, 20:09 Ist es ZWANGSLÄUFIG so, dass wenn man sich in der Sitzung öffnet, es zu einer "Übertragung" kommt?
Selbstverständlich. In jeder zwischenmenschlichen Begegnung kommt es zu Übertragungen, um so mehr, je intensiver sie sind.
Ungünstig bis destruktiv sind dagegen Übertragungsneurosen, die leider in vielen therapeutischen Beziehungen entstehen, zu Verwicklungen führen und daher unbedingt zu vermeiden sind, was Aufgabe des Therapeuten ist.

Benutzeravatar

Hasenmaus123
Forums-Insider
Forums-Insider
weiblich/female, 35
Beiträge: 214

Beitrag So., 22.08.2021, 08:44

Das darf man nicht verallgemeinern.
Meine Übertragungsneurose (Liebe) hat mir Flügel gegeben. Weil ich meiner Thera beweisen wollte, was ich alles kann, habe ich mich angestrengt und mich entwickelt, wie ich es nie geglaubt hätte.

Benutzeravatar

Solage
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 48
Beiträge: 2884

Beitrag So., 22.08.2021, 18:34

Hallo Sindy,

machst du eine tiefenpsychologische bzw. analytische Therapie?
Weil da sind Liebesgefühle willkommen. Manche sagen Liebesübertragung, andere echte Liebe.

Mein Analytiker sagte einmal, dass sich seine Patienten in ihn verlieben, wenn er ihnen verständig und wertschätzend begegnet. Gehört irgendwie schon dazu. Es wäre nachdenkenswert, wenn dies nicht passiert. Wenn man den Therapeuten nicht vermisst bei Urlaubspausen usw.

Wenn dein Therapeut deine Liebesgefühle annimmt und dir nicht vermiest, dann brauchst du dich meiner Meinung nach nicht zurücknehmen.

Benutzeravatar

Ungestümes Pferd
Helferlein
Helferlein
weiblich/female, 29
Beiträge: 102

Beitrag So., 22.08.2021, 19:54

Hm, ich habe noch nie über diese Frage nachgedacht.
Vielleicht kann man es mehr als Dankbarkeit sehen? Mehr als Vertrauen?
Vielleicht kann man sich darauf konzentrieren, dass er einfach ein Mensch ist, der hier ist, um einem zu helfen?
Vielleicht auch mit ihm darüber sprechen, was man tun kann, dass er nicht zu wichtig wird?

Ich für meinen Teil hab es einfach geschehen lassen. Ich habe es glaub ich einfach als etwas Natürliches aufgefasst.

Benutzeravatar

Thread-EröffnerIn
Sindy
Helferlein
Helferlein
weiblich/female, 20
Beiträge: 80

Beitrag Mo., 23.08.2021, 10:56

Danke für eure Antworten, ich denke, dann werden ich es tatsächlich erstmal so geschehen lassen und schauen was es mit mir macht.

Bevor ich die Theraphie begonnen habe, dachte ich immer man berichtet dort sehr rational und ohne Gefühle seine Situation und bekommt gute Ratschläge. Weil wenn man Gefühle zulässt, z.B. weint, dann habe ich das bisher immer als Rückschritt empfunden, weil man dann ja emotional in einem schlechteren Zustand als vorher ist und man möchte ja eigentlich gefestigt aus der Therapie rausgehen.

So wie ich euch verstehe, ist es aber absolut gewollt, sich seinen Emotionen hinzugeben um sich öffnen zu können. Und es eben nicht als Rückschritt gewertet wird.

Benutzeravatar

Montana
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 44
Beiträge: 3360

Beitrag Mo., 23.08.2021, 11:27

Grundsätzliche Frage: ist denn das Ziel der Therapie, keine Emotionen zu haben? Oder ist das Ziel der Therapie, ein reiches Gefühlsleben zu haben, das "in guten wie in schlechten Tagen" einem das Leben in einer sozialen Gemeinschaft ermöglicht, in der man sich (wirklich!!!) wohlfühlt? Ersteres wäre vermutlich leichter zu erreichen, aber man wäre gar kein richtiger Mensch mehr. Keiner, der lieben und geliebt werden kann, jedenfalls.

Benutzeravatar

Thread-EröffnerIn
Sindy
Helferlein
Helferlein
weiblich/female, 20
Beiträge: 80

Beitrag Mo., 23.08.2021, 11:33

Montana hat geschrieben: Mo., 23.08.2021, 11:27 Grundsätzliche Frage: ist denn das Ziel der Therapie, keine Emotionen zu haben?
Nein, das ist natürlich nicht das Ziel :-D
Aber ich verstehe deinen Punkt sehr gut.

Ich für mich, habe es bisher nur immer als "Schwäche" empfunden, wenn ich weine und meine Emotionen nicht im Griff habe. Deshalb wollte ich in der Theraphie nicht schwach werden, weil ich das als Rückschritt empfunden habe.

Das sind nur meine Gedanken, nicht die des Therapeuten. Der Therapeut meinte auch schonmal zu mir, dass ich ein breites Gefühlsspektrum als Gabe und nicht als Nachteil sehen sollte.

Benutzeravatar

Montana
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 44
Beiträge: 3360

Beitrag Mo., 23.08.2021, 11:53

Wie kann man aber denn seine Emotionen "im Griff" haben? Sie sind doch auch Reaktionen auf unsere Umwelt. Eine angemessene emotionale Reaktion macht dich für andere berechenbar und sympathisch. In der Gegenwart solcher Menschen fühlt man sich wohl. Und von solchen Menschen lernen Kinder, die eigenen Emotionen zu verstehen und mit ihren Mitmenschen vernünftig umzugehen. Das ist was Gutes. Es heißt nicht gleich, dass man bei Wut um sich schlägt, sondern, dass man sie spürt und andere das an Mimik und Tonfall erkennen (und sich entsprechend verhalten). Hast du alles "im Griff" und lässt es nicht sichtbar werden, dann werden sich andere niemals dir gegenüber angemessen verhalten (können).

Benutzeravatar

ExtraordinaryGirl
[nicht mehr wegzudenken]
[nicht mehr wegzudenken]
weiblich/female, 33
Beiträge: 4381

Beitrag Mo., 23.08.2021, 12:51

Ich persönlich bewerte Verliebtheit in einer Therapie mittlerweile sehr kritisch, weil ich jemandem, in den ich verliebt bin, gefallen will. Und wer gefallen will, redet ungern über seine Fehler.

Nun ist Therapie aber genau dafür da, die eigenen Probleme zu lösen.

Und wenn es mehr um die Beziehung zum Therapeuten geht (der die Gefühle vielleicht nicht erwidert) als um die eigenen Probleme, kommt es irgendwann zum Knall.

Die Lösung? Schwierig. Eine Mischung zwischen Bescheidenheit (also sich nicht mehr darauf versteifen, dass er einem doch lieben muss) und Ursachensuche (wieso verliebt man sich in jemanden, der die "Versorgerrolle" einnimmt, wenn man sich trifft?).
"Charakter zeigt sich in der Krise."

(Helmut Schmidt)

Benutzeravatar

Ungestümes Pferd
Helferlein
Helferlein
weiblich/female, 29
Beiträge: 102

Beitrag Mo., 23.08.2021, 13:44

Vielleicht fällt es deshalb Männern tendentiell schwerer, in Psychotherapie zu gehen?
Weil sie Gefühle zeigen/zulassen mehr mit Schwäche, Kontrollverlust assoziieren?
Das ist zumindest mein Eindruck.
ExtraordinaryGirl hat geschrieben: Mo., 23.08.2021, 12:51 Ich persönlich bewerte Verliebtheit in einer Therapie mittlerweile sehr kritisch, weil ich jemandem, in den ich verliebt bin, gefallen will. Und wer gefallen will, redet ungern über seine Fehler.
Ich kenne das schon auch, ja. Dennoch hab ich überwiegend das Gefühl, dass Therapeuten mich mit akzeptierenden Blick sehen. Ein wertender Therapeut ist kein guter Therapeut. Also eigentlich sollte man "seine Fehler" erzählen oder zeigen lernen, und dann die Erfahrung machen, dass der Therapeut einen trotzdem als wertvollen fähigen Menschen sieht.
Das ist dann sehr schön.

Ich habe auch mal von einem Therapeuten in einem Vortrag gehört, dass er gesagt hat, je mehr sich Patienten öffnen, und seine verletzlichen Gefühle und Seiten zeigen, desto sympathischer werden sie.
Mir geht das auch so.

Werbung

Antworten
  • Vergleichbare Themen
    Antworten
    Zugriffe
    Letzter Beitrag