Der Begriff des 'Täters'

Haben Sie bereits Erfahrungen mit Psychotherapie (von der es ja eine Vielzahl von Methoden gibt) gesammelt? Dieses Forum dient zum Austausch über die diversen Psychotherapieformen sowie Ihre Erfahrungen und Erlebnisse in der Therapie.
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isabe
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Der Begriff des "Täters"

Beitrag Mi., 13.06.2018, 08:11

Vielleicht ist es interessant, eine Diskussion aus einem Blog besser hier zu führen, weil es sich um allgemeine Aspekte handelt, die womöglich Stoff für eine Kontroverse liefern könnten...

Ich habe meine Beiträge mal kopiert, vielleicht mag sich wer anschließen oder es diskutieren. Mir ist es jedenfalls in der "Tat" (haha) ein Anliegen, wegzukommen vom Patienten als ausschließliches Opfer seiner Umwelt:


Ich behaupte, dass eine Psychotherapie nur dann wirken kann, wenn man an den Punkt kommt, an dem der Patient ein Täter wird (und werden darf!). Vielleicht ist das in Klammern Gesetzte sogar das Wesentliche dabei: Wer immer nur in Definitionen feststeckt, die besagen, dass ein Patient ein Opfer ist, wird sich nie wirklich befreien können.

Ein Mensch wird dann psychisch krank, wenn es ihm nicht gelingt, seine destruktiven Impulse ins Leben zu integrieren, wenn er sich also zum ängstlichen Häschen machen muss, damit die Welt ihm nichts tut. Das Ganze ist jedoch ein Weltbild, das auf einem riesige Besch... basiert, denn alle Menschen sind auch destruktiv, böse, verdorben, und so weiter. Wohin tut also der Patient seine niederen Triebe? Er legt sie in den Anderen: in die Außenwelt und in den Therapeuten: "Bitte erlöse mich von dem Bösen" - der Therapeut spielt das ein bisschen mit, damit der Patient nicht gleich panisch wegrennt, wenn er mit seiner dunklen Seite konfrontiert wird.

Aber wenn der Patient im Laufe einer langen Therapie immer nur der Gute ist, dem die Welt übel mitgespielt hat, dann kann man davon ausgehen, dass der Therapeut entweder selbst ein Angsthase ist oder nicht gerade der Hellste. Es gibt keine psychisch kranken Menschen, die nicht auch Täter am Therapeuten werden, weil die ihre negativen Anteile einfach loswerden müssen. Und weil ein Therapeut nicht reagieren darf wie ein "normaler Mensch". Er muss sich zum "Opfer" seines Patienten machen können, und er muss gleichzeitig auch Täter am Patienten werden können. Nur so kann sich das Innenleben entfalten und schwierige Dinge können bearbeitet werden.

Das setzt vieles voraus, aber es ist die einzige Möglichkeit für Befreiung. Wenn ich nicht irre, vertritt auch Kernberg dieses, und deshalb wird der von vielen Patienten auch gehasst - aber Recht hat er trotzdem. Es muss möglich sein in einer Therapie, die Konzepte von "gut" und "böse" zuzulassen und zu hinterfragen und Tabus ("der Patient ist immer nur bedürftig") zu brechen, sonst bleibt der Patient halt für immer jemand, der in seinen primitiven Abwehrmechanismen gefangen ist. Und wer weiß, wie sich ein solches Gefängnis anfühlt, der weiß auch, dass es sich lohnt, auszubrechen. Aber das geht niemals ohne Verletzungen.
Zuletzt geändert von isabe am Mi., 13.06.2018, 08:14, insgesamt 1-mal geändert.

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isabe
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 08:13

Antwort auf einen weiteren Beitrag:

So ist das eigentlich nicht gemeint mit dem "Täterwerdendürfen", sondern eher so, dass es sich zeigen dürfen muss. Ich glaube, es ist wichtig, das Wort "Täter" hier weder juristisch (das hat in einer Therapie eh nichts verloren) noch irgendwie "pädagogisch" zu verstehen (im Sinne von: "Lass die Kleine mal sich austoben"), sondern allein psychodynamisch: Das sind Prozesse, die sich - leider... - erst nach viel Arbeit wirklich erschließen, weil es eine einigermaßen entwickelte Selbstbeobachtungsfähigkeit voraussetzt. Man wird also nicht erst zum Täter, wenn man brüllt oder stalkt oder beleidigt, sondern Therapeuten sind - denke ich - sehr sensibel darin, auch subtilste Verletzungen, die der Patient gar nicht bewusst (!) vornimmt, zu spüren und zu verstehen, welches Szenario der Patient da aufbaut, wenn er eben nicht sagt: "Du Therapeut, ich hasse dich", sondern wenn er sagt: "Ich Arme, du magst mich jetzt bestimmt nicht mehr..." - Täterwerden in einer Therapie heißt glücklicherweise (sonst ist sie entgleist) nicht, dass Therapeut und Patient aufeinander losgehen und so agieren, dass ein gemeinsames Arbeiten nicht mehr möglich ist, sondern es heißt, dass tiefste Verletzungen und Entwertungen an die Oberfläche gespült werden und dort sichtbar und vor allem fühlbar werden. Und das ist auch für einen Therapeuten unter Umständen sehr verletzend und kränkend und belastend. Vielleicht noch mehr, wenn es nicht in direkten Worten ("Sie Ar...") kommuniziert wird, sondern subtil und damit wenig greifbar.

Vor allem aber müssen diese Dynamiken verstanden werden und in ihrer Wucht gefühlt werden dürfen. Anders kann keine Veränderung einsetzen - bzw. anders bleiben Veränderungen immer nur oberflächlich.

Erst wenn der Patient wirklich fühlt und versteht, was er tut, kann er es ändern, dann aber auch von innen heraus und freiwillig und nicht aus pädagogischen Motiven heraus; die machen genauso unfrei.

Und womit ich gar nicht übereinstimme: der Therapeut müssse zum Täter am Patienten werden können. Es sei denn, du meinst, er sollte es aushalten können, in den Übertragungen des Patienten zum Täter zu werden.
Das auch, aber nicht nur. Die Fachwelt ist sich wohl einig darin, dass psychodynamische Therapien mit schwer gestörten Patienten nur dann funktionieren, wenn es bestimmte "Verstrickungen" gibt. Und eine Verstrickung, die dann auch verstanden und so bearbeitet werden kann, entsteht nur, wenn der Therapeut auch "hassen" darf. Das ist natürlich Therapie-Sprech, das außerhalb von Therapie wenig nachvollzogen wird.

Ein Therapeut muss alle möglichen Phantasien dem Patienten gegenüber haben dürfen; das ist ganz wichtig. Denn sonst entstehen Tabus, und die machen Angst und führen ihrerseits zum Agieren. Auch hier gilt wieder: Das Tätersein des Therapeuten meint natürlich keine körperlichen oder seelischen Übergriffe, sondern es meint erstens das Wahrnehmen von z. B. sexuellen oder sadistischen Impulsen ("ich will den Patienten loswerden" o. ä.) und zweitens auch die Möglichkeit, Fehler zu machen; denn es begegnen sich Menschen. Auch Therapeuten sind manchmal gekränkt und "zickig" oder "kühl" usw., wenn sie noch nicht verstanden haben, was vorgeht. Das alles muss möglich sein, sonst ist die Beziehung rigide, und es kann sich nichts entwickeln. Und der Patient kann auch daran wachsen, es auszuhalten, einem Menschen mit Fehlern zu begegnen und selbst Fehler zu machen. Sonst wären es keine Begegnungen.

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Regenwurm
sporadischer Gast
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 09:16

Hallo,
ich bedanke mich für deinen Bericht. Es regt mich zum Nachdenken an. Ich hoffe ich habe es auch richtig verstanden. Manchmal verstehe ich es nämlich so, wie ich es verstehen möchte.
Genau das hat mir in meiner Therapie gefehlt. Mich auch als Täter zeigen zu dürfen.
ABER: Dafür hätte ich einen Therapeuten benötigt der sich die Zeit nimmt (obwohl genügend Zeit vorhanden war). Mir fehlte
die Möglichkeit ein leeres Blatt Papier während der Therapiestunde auf den Tisch zu legen und mit dem Therapeuten, wie in der Schule an der Tafel, Themen durch dieses Hilfsmittel durchzusprechen. Stück für Stück, Wort für Wort. Man hat sich schließlich nicht als Kind zu zeigen?!

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Gedankentanz
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 10:06

Braucht es für so eine Entwicklung, die wenn sie von beiden Seiten adäquat genutzt und verstanden wird, nicht viel mehr Zeit, als dass von der Krankenkasse bewilligte Kontingent?
Denn für so einen Prozess braucht es Vertrauen auf beider Seiten, eine stabile Beziehung. So dass keine "Gefahr" besteht, dass einer von beiden das Weite sucht und dadurch geschädigt wird.
Hierfür ist Offenheit beiderseits gefragt und eine sehr gutes Miteinander.
Nur wenn Beide wissen worum es geht und einander da vertrauen ist solch ein "heilsamer" Prozess möglich.
Gleichzeitig auch eine Gratwanderung...
Glaube ich....
Wenn sich meine tanzenden Gedanken zanken, gerate ich schon mal ins wanken, finde ich dann keinen Halt, lande ich unsanft auf die Planken ::?

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Philosophia
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 12:18

ich glaube nicht, dass es für so einen Prozess mehr als das bewilligte Kontingent braucht (kann aber natürlich im Einzelfall so sein), es braucht aber auf jeden Fall einen Führer, der sich dessen bewusst ist und bestenfalls den Weg ins eigene Dunkel bereits selbst gegangen ist.
"Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen." - Albert Schweitzer


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isabe
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 15:37

Ich glaube, dass man mit einem alleinigen Blick auf das Kontingent tatsächlich nicht unbedingt das erreicht, was möglich ist. Weder in die eine Richtung ("danach ist Schluss") - noch in die andere Richtung ("es ist bestimmt nötig, ganz lange Therapie zu machen"). Am meisten, denke ich, erreicht man, wenn man sich darauf besinnt, dass eine Therapie keine Lebensbegleitung darstellt, sondern eine Vorbereitung für ein Leben in Freiheit (soweit möglich).

Und ja, ohne Vertrauen geht Therapie eben auch nicht. Wobei Vertrauen m. E. kein absoluter Begriff ist, sondern etwas, was immer wieder Höhen und Tiefen hat und ausgehandelt werden kann bzw. muss.

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spirit-cologne
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 16:19

Ich finde das "Täter werden" gar nicht nötig - jedes Opfer (ich meine damit jemanden, der in der Opferposition verharrt, nicht jemand der zufällig einmalig das Opfer z.B. einer Straftat geworden ist) ist automatisch immer auch Täter. Es geht m.E. mehr darum, sich zu erlauben, hinzuschauen, das sehen zu dürfen und zu lernen, das in sein Selbstbild zu integrieren ohne sich deshalb "schlecht" zu fühlen. Die Opfer sind deshalb gleichzeitig Täter, weil die Opferrolle durchaus auch eine machtvolle ist: als Opfer bin ich automatisch der "gute", "moralisch überlegene", d.h. ich weise dem Täter die Rolle des "schlechten", "moralisch unterlegenen" zu und mache mich damit unangreifbar. Und solange ich das nicht begreife, dass ich einen Vorteil davon habe Opfer zu sein, kann ich auch nicht aus der Opferrolle aussteigen...
It is better to have tried in vain, than never tried at all...

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Philosophia
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 16:34

ja, das hast du gut geschrieben, danke! Für mich war das so wichtig, das zu erkennen, einer meiner Meilensteine für ein freieres und selbstbestimmtes Leben.
"Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen." - Albert Schweitzer


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isabe
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 16:38

als Opfer bin ich automatisch der "gute", "moralisch überlegene", d.h. ich weise dem Täter die Rolle des "schlechten", "moralisch unterlegenen" zu
Nicht nur dem (juristischen) Täter, sondern das Opfer macht alle anderen auch zum Täter, wenn sie sich nicht so verhalten, wie das Opfer das wünscht bzw. meint zu brauchen. Diese Mechanismen sind so verbreitet, aber selten wird darüber gesprochen, oft deshalb nicht, weil das Opfer sich bei einer Konfrontation z. B. häufig in psychosomatische Beschwerden stürzt, die besondere Rücksichtnahme erfordern. Gleichzeitig wird das gerne geleugnet ("nimm bitte keine Rücksicht, ich halte das gut aus"), aber der Andere spürt genau die ihm zugewiesene Rolle.

Ist alles irgendwie menschlich, aber Therapie heißt eben auch: ran an die eigene Angst!

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Philosophia
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 16:44

Ja, denn nur wenn man den Täter in sich kennt und auch das Opfer, dann kann man raus aus dem System und mich nicht noch andere mit reinziehen.
"Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen." - Albert Schweitzer


mio
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 16:57

Hat das nicht einfach was mit Bewusstmachung zu tun? Also was TUE ich (mir gegenüber/dem anderen gegenüber) und was lasse ich MIT MIR TUN... Solange keine körperliche Gewalt oder sonstige reale Macht im Spiel ist kann ja niemand was MIT MIR TUN was ich nicht auch zulasse.

Ein Therapeut lässt halt "bewusst mit sich tun" (sich also bewusst in den Gefühls-/Seelenraum des Patienten "reinziehen") um diesem dann mitzuteilen, was er dort gesehen und gespürt hat.

Inwieweit Therapeuten auch Täter sind nur weil sie ihre negativen Gefühle kommunizieren wenn sie es für angebracht halte? Finde ich nicht zu treffend. Wenn sie wirklich zu Tätern werden - also aufgrund ihrer Gefühle unkontrolliert dem Patienten gegenüber agieren, ihn also zum "eigenen Frustabbau" missbrauchen oder ähnliches - dann läuft ja definitiv was falsch in der Therapie. Und ne reine verbale Rückmeldung in einem vernünftigen Ton ist ja keine Tat im Sinne von "jemanden etwas antun" sondern einfach eine Selbstoffenbarung oder Rückmeldung.


mio
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 17:44

Und ich glaube mit dem "Therapeuten müssen auch zum Täter werden dürfen" ist eher der Gedanke gemeint, dass der Therapeut sich selbst in die Rolle des ehemaligen Täters reinbegeben muss (bzw. sie sich zuschreiben lassen/annehmen muss) damit das ehemalige Opfer aus der "Ohnmacht" rauskommt indem es dem "vermeintlichen Täter" (bzw. dessen therapeutischem Stellvertreter) "anders" begegnen kann. Eben selbst als Täter der TUT und nicht hilflos "ausgeliefert" ist. Würde der Therapeut die "Täterrolle" DIREKT zurückweisen - also zB. sagen: Jetzt hören Sie aber mal auf. Ich bin schließlich nicht ihr Vater/ihre Mutter etc." - dann hätte der Patient ja keine Möglichkeit die aufgestauten und abgespaltenen Gefühle mit in den Raum zu holen sondern sie würden vom Therapeuten "abgeblockt".

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Philosophia
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 17:53

so hatte ich das auch immer verstanden, nicht das hemmungslose Ausagieren des Impulses, wobei es ganz leicht sicher vorkommen kann, wenn die Übertragung nicht so fix geblickt wird (das geht gar nicht immer sofort)
"Das einzig Wichtige im Leben sind die Spuren der Liebe, die wir hinterlassen, wenn wir gehen." - Albert Schweitzer


mio
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Beitrag Mi., 13.06.2018, 18:01

Ja, dass es vorkommen kann denke ich auch und dann muss das vom Therapeuten entsprechend "reflektiert" und "bearbeitet" werden (also in Form von Supervision) und darf nicht "zuschiebend" im Raum bleiben. Aber GEDACHT und GEWOLLT kann das meiner Meinung nach nicht sein. Das wäre irgendwie "absurd".

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