Liebe Essstörung,
zuerst möchte ich mich bei dir bedanken. In meinem Leben gab es viele entsetzliche Zeiten, in denen ich ohne dich nicht überlebt hätte. Egal, ob ich verprügelt, missbraucht, gedemütigt, misshandelt wurde, danach hast Du mich getröstet. Mit süßem, fettem Essen umhüllt, umarmt, gewiegt, mich am Leben gehalten.
Und nicht nur das. Jahrzehntelang, schon als ganz kleines Mädchen, musste ich viel mehr tun, als ich konnte. Von mir wurden Dinge verlangt, für die ich noch viel zu klein war. Später, als Erwachsene, hatte ich das Maß verloren, für das, was eine leisten kann. Ich kannte nur die Überforderung, ich habe nie kennengelernt, was es heißt, auszuruhen, neue Kraft zu schöpfen, Pausen zu machen. Auch hier warst du meine Stütze, meine Krücke. Ohne dich hätte ich niemals geschafft, was ich schaffen musste. Als Kind wäre das tödlich gewesen, sie hätte ihre Drohung mich ganz totzuschlagen, wahr gemacht.
Ich bin dir wirklich dankbar. Ohne dich hätte ich es niemals geschafft, meinen Kindern das zu geben, was ich ihnen gegeben habe. Ohne dich hätte ich mich beruflich niemals da hinarbeiten können, wo ich heute bin. Ohne dich hätte ich den Psychoterror, die Misshandlungen, die mir meine "Liebsten" zufügten, nicht überlebt. Du warst meine Kraftquelle, meine wärmende Umhüllung, mein Trost, mein Freund.
Mein Engel hat einmal zu mir gesagt, ich hätte einen unzerstörbaren Kern. Ohne Dich, meine Essstörung, wäre dieser Kern sehr wohl zerstört worden. Du hast meinen Kern umhüllt, beschützt, unter einer ganz dicken Schicht Essen. Unter Unmengen an Fett um meinen Körper herum. Es war ein guter Schutz. Ich habe überlebt. Diejenigen, die meinen Kern, mein Innerstes zerstören wollten, haben es nicht geschafft. Schwer angeschlagen, oft fast kaputt am Boden, ja. Aber der Kern blieb. Ich habe ein schönes Wesen, einen guten, starken, schönen Kern. Dank dir, meine Essstörung, blieb er mir erhalten. Du hast meinen Kern ganz wunderbar beschützt. Dafür bin ich dir für immer dankbar.
Aber jetzt ist es gut, meine liebe Essstörung. Ich bin jetzt groß und stark. 10 Jahre Therapie. Ich habe sehr gut gelernt auf mich aufzupassen. Wenn es mir mal nicht gut geht, weil ich sehr viel arbeiten muss, wenn ich im Büro ganz schlimmes Heimweh habe, wenn irgendwelche dummen Arschlöcher mich blöd anmachen, dann komme ich zurecht.
Ich weiß jetzt , dass Gefühle keine Realitäten sind. Ich habe gelernt, dass ich böse, auch beängstigende Gefühle aushalten kann und danach ganz schnell los lassen. Schau, niemand hat 24 Stunden am Tag gute Gefühle. Wenn es 50/50 sind, ist es o. k. Und ich kann jetzt wirklich sehr gut auf mich aufpassen. Ich schwöre dir, ich habe tausendprozentig gelernt, niemals mehr einen Menschen zu lieben, der meiner Seele nicht gut tut. der Freude daran hat mich zu quälen. Nie mehr. Du kannst Dich darauf verlassen.
Deshalb bitte ich dich jetzt, meine liebe Essstörung, lass mich los. Ich habe gestern, nach diesem Essanfall gelitten. Mir war übel, ich hatte Magenschmerzen, Sodbrennen, konnte lange nicht einschlafen und als dann doch, schlimme Albträume. Und weißt du, ich wünsche mir so sehr, leichter zu werden. Die letzten beiden Sommer waren quälend. Die Hitze und mein Gewicht dazu, unerträglich. Jeder Schritt, jede Bewegung viel zu anstrengend. Ergo hab ich mich kaum noch bewegt und wurde wieder schwerer. Ich kann das nicht mehr aushalten. Ich fürchte mich vor dem nächsten Sommer. Ich bin jetzt zu alt für dieses Gewicht, kann mich nicht mehr tragen.
Bitte liebe Essstörung, lass mich jetzt los. Lass mich mich -voller Anerkennung, Dankbarkeit, Bewunderung für deinen Schutz, von dir verabschieden. Ich brauche dich nicht mehr. Ich kann das jetzt allein.
Ich kann mir jetzt -ohne Essen- Wohlbefinden schenken.
Ich kann jetzt -ohne Essen- Scheizgefühle aushalten und danach loslassen.
Ich kann jetzt -ohne Essen- meine Seele vor den Arschlöchern dieser Welt beschützen.
Ich kann jetzt -ohne Essen- und nicht perfekt, mich abgrenzen von meinen Lieben, opfere mich nicht mehr für sie auf.
Du, meine liebe Essstörung kannst dich jetzt ausruhen. Du bist jetzt schon mindestens 50 Jahre alt, du darfst jetzt in Rente gehen
Nochmal: Danke für alles.
Nochmal: Bitte, lass mich jetzt los.
Brief an meine Essstörung
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Hallo Bergkristall,
ich kannte mal zwei Jungen, die haben hin und wieder (zum Spaß) miteinander gekämpft. Wenn einer den anderen im Schwitzkasten am Boden hielt, ließ er ihn erst frei, wenn er den "Sieger" lobte und ihm sagte, wie toll und stark usw. er sei (das war die Regel). Dann gingen sie auseinander, bis zum nächsten Kampf (immer mit unterschiedlichem Ausgang).
Dein Brief hat mich an diese Art des Kräftemessen erinnert. Klar, bei dir ist der "Kampf" weniger spaßig - aber warum es nicht auch als ein Kräftemessen und damit eher sportlich nehmen? Inzwischen bist du ja doch so weit, wie du schreibst, dass du meist die Oberhand (in dir selbst) hast und es auf einen Kampf gar nicht mehr ankommen lassen musst bzw. auf diese Weise den Sieg davon trägst. Wenn es aber doch hin und wieder dazu kommt, dass die "Essstörung" einen Tagessieg davon trägt - ein Verlieren muss dann nicht tragisch sein. Du bist ja nicht mehr abhängig von deinen Essstörungen. Das Spiel beginnt eben von neuem.
ich kannte mal zwei Jungen, die haben hin und wieder (zum Spaß) miteinander gekämpft. Wenn einer den anderen im Schwitzkasten am Boden hielt, ließ er ihn erst frei, wenn er den "Sieger" lobte und ihm sagte, wie toll und stark usw. er sei (das war die Regel). Dann gingen sie auseinander, bis zum nächsten Kampf (immer mit unterschiedlichem Ausgang).
Dein Brief hat mich an diese Art des Kräftemessen erinnert. Klar, bei dir ist der "Kampf" weniger spaßig - aber warum es nicht auch als ein Kräftemessen und damit eher sportlich nehmen? Inzwischen bist du ja doch so weit, wie du schreibst, dass du meist die Oberhand (in dir selbst) hast und es auf einen Kampf gar nicht mehr ankommen lassen musst bzw. auf diese Weise den Sieg davon trägst. Wenn es aber doch hin und wieder dazu kommt, dass die "Essstörung" einen Tagessieg davon trägt - ein Verlieren muss dann nicht tragisch sein. Du bist ja nicht mehr abhängig von deinen Essstörungen. Das Spiel beginnt eben von neuem.
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Thread-EröffnerIn - Forums-Insider
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danke Hannah, für Deine freundlichen Worte. Ich bewundere Menschen, die ein Bewusstsein dafür haben, dass das Leben -auch- spielerisch gelebt werden kann. Ich wäre sooooooo gerne auch so, werde es aber in diesem Leben nicht mehr sein.
Ich will nicht mehr gegen die Essstörung kämpfen, das habe ich jahrzehntelang, ohne Erfolg. Es mussten erst die Ursachen der Essstörung behandelt werden. So bescheuert sich das jetzt anhört, aber die Essstörung hat mir viel Gutes im Leben ermöglicht, primär das Überleben. Ich will sie jetzt nicht bekämpfen, sie soll einfach wissen, dass sie nicht mehr gebraucht wird.
Gestern war Tag 1 an dem mir das bewusst wurde. Ich habe es auch bewusst in das Forum geschrieben. Manches, was man sich erarbeitet hat, wird erst durch einen Zeugen wirklich. Deshalb bin ich auch denen sehr dankbar, die meinen Brief gelesen haben. Danke.
Liebe Grüße
Bergkristall
Ich will nicht mehr gegen die Essstörung kämpfen, das habe ich jahrzehntelang, ohne Erfolg. Es mussten erst die Ursachen der Essstörung behandelt werden. So bescheuert sich das jetzt anhört, aber die Essstörung hat mir viel Gutes im Leben ermöglicht, primär das Überleben. Ich will sie jetzt nicht bekämpfen, sie soll einfach wissen, dass sie nicht mehr gebraucht wird.
Gestern war Tag 1 an dem mir das bewusst wurde. Ich habe es auch bewusst in das Forum geschrieben. Manches, was man sich erarbeitet hat, wird erst durch einen Zeugen wirklich. Deshalb bin ich auch denen sehr dankbar, die meinen Brief gelesen haben. Danke.
Liebe Grüße
Bergkristall
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- Helferlein
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Ich bin ehrlich beeindruckt von deiner Persönlichkeit. Es braucht Mut sich Schmerz zu stellen. Der eigene Schmerz kann so intensiv sein, dass das Gehirn eher eine Störung entwickelt als totalen Zusammenbruch zu riskieren. Meiner Ansicht nach sind psychische Störungen normal, denn sie dienen der Selbsterhaltung. Der Kern des Selbst sind Gefühle, das Denken ist optional wenn Überleben im Vordergrund steht. Aber anstatt diese menschliche Normalität anzunehmen ist es für viele erschreckend auf eine Störung zu treffen. Das menschliche Bewusstsein trübt sich selbst unbewusst. Als guter Zeuge seiner Selbst ist es am Wichtigsten dies zu bemerken.
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Und wo kommt der Zeuge her? Verstehe ich nicht. Steht der außerhalb des menschlichen Bewusstseins?HarleyQuinn hat geschrieben:Das menschliche Bewusstsein trübt sich selbst unbewusst. Als guter Zeuge seiner Selbst ist es am Wichtigsten dies zu bemerken.
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- Helferlein
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