Und wieder ist es passiert: die Serie an aufgeflogenen Fällen von Pädophilie während der letzten Wochen erschien wie ein Stich ins Wespennest, unweigerlich ertappte man sich bei der Frage: “..und was ist da alles noch nicht aufgedeckt?” Einzelne Theologen sehen sich veranlaßt, vor einer Gleichstellung von Zölibat mit Pädophilie bzw. Ephebophilie zu warnen, während andere zum Schrecken ihrer Kollegen einen direkten Zusammenhang zwischen beiden orten.
Einmal mehr scheint sich auch ein Konnex zwischen Berufen, in denen Erwachsene tagtäglich mit Kindern und Jugendlichen arbeiten und sexuellen Übergriffen auf diese zu zeigen. Wen das überrascht oder schockiert, der muß sich entgegenhalten lassen, daß wir seit Darwin, spätestens aber Freud eigentlich wissen sollten, daß wir Menschen – trotz eines enorm entwickelten Großhirnes – immer noch sehr stark sexuell gesteuerte Wesen sind. Und auch wenn sich die Gendermedizin dem heute nicht mehr so generalisierend anschließen würde: Abraham H. Maslow sah den Sexualtrieb neben Trinken, Essen und Schlafen als gleichrangig auf einer Stufe seiner “Bedürfnispyramide” stehend, und auch zahlreiche Studien – etwa über die Partnerwahl von Menschen – bestätigen, daß uns sexuelle Antriebe in unserem alltäglichen Tun wohl deutlich stärker steuern als sich dies viele von uns eingestehen mögen. Ebenso, wie es Teil der (nicht immer nur charmanten) Realität ist, daß an den allermeisten Arbeitsplätzen mitunter auch mal sexuelle Rituale und Signale ausgetauscht werden, muß damit gerechnet werden, daß derartige Spannungsfelder zumindest gelegentlich auch in jenen Berufen existieren, in denen Erwachsene mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Eine tragfähige und vor allem konstante bewußte Abgrenzung ist in diesen Berufen auch deshalb schwierig, da unser Unbewußtes das letztendlich ja künstlich definierte “Schutzalter” (in den meisten Ländern liegt diese Grenze zwischen 14 und 18 Jahren) kaum verarbeiten kann: gerade in jenen Ländern, in denen es vergleichsweise spät endet, wirken die laut Gesetz noch schützenswerten Jugendlichen körperlich häufig bereits “erwachsen”, zumeist agieren sie auch erwachsen, und nicht selten sind sie seit Jahren bereits auch sexuell aktiv – den “primitiven Es’s” der Umwelt wird sexuelle Reife signalisiert.
Wie ist aber mit der Problematik umzugehen, daß trotz dieser Umstände Jugendliche und insbesondere Kinder vor sexueller Ausbeutung (hier beziehe ich mich auf das bewußte Ausnutzen der emotionalen Unreife von Kindern und Jugendlichen durch Erwachsene mit der Absicht, sexuelle Ziele zu erreichen), vor vorzeitiger sexueller Initiation (hier beziehe ich mich auf erste sexuelle Erfahrungen in einem Stadium der körperlichen und psychischen Reifung, in dem ein Sexualakt mit einer anderen Person körperliche oder psychische Schäden nach sich ziehen kann) und nicht zuletzt vor einem körperlichen und emotionalen Übergriff – der Verletzung der Schutzbedürftigkeit und grundsätzlichster Elemente der Professionalität in einem pädagogischen, ärztlichen oder anderen vergleichbaren Umfeld mit “Machtgefälle” – geschützt werden müssten?
Ich bin davon überzeugt, daß mit sämtlichen Ansätzen, in denen von Menschen verlangt wird, ihren Sexualtrieb zu negieren oder gar abzuschalten, dieser Konflikt nicht zu lösen, und der Kampf gegen den Mißbrauch im institutionellen Kontext nicht zu gewinnen ist. Unsere inneren Konflikte und die Versuchungen des Lebens lassen sich nicht lösen, indem wir sie ausblenden oder negieren. Und die – zumindest gelegentlich – bei allen von uns aufkommenden Impulse körperlicher Lust lassen sich nicht besser kontrollieren, indem wir sie “wegdefinieren”: indem wir etwa sagen, daß “wir unsere Sexualität Gott schenkten” , wenn das an die Oberfläche dringende sogleich wegzensiert wird oder wenn über sexuelle Gedanken nicht einmal gesprochen werden kann, da dies sofort mit entrüsteten und funkelnden Blicken bestraft würde (etwas, das besonders häufig im – von Frauen dominierten – pädagogischen Bereich beobachtbar ist).
Konsequenterweise prognostiziere ich auch, daß solange Institutionen existieren, in denen Sexualität per definitionem nicht gelebt werden darf, sexuelle Übergriffe auch weiterhin stattfinden werden – trotz aller, sicherlich gut gemeinter, Absichtsbekundungen der jeweiligen “Chefs”. Solange ein Zölibat existiert, werden sich die sexuellen Triebkräfte – Geister, die zumindest gelegentlich ihren Weg auch in das beste Kloster finden – unweigerlich auf jene richten, die greifbar sind und bei denen ein gewisses (alters- oder hierarchisch bedingtes) Machtgefälle die Hoffnung zuläßt, daß nichts davon je bekannt werden wird. Ganz unabhängig von einem ebenfalls existierenden Kreis an Menschen, die sich ganz bewußt in Bereichen und Institutionen niederlassen, in denen Opfer verfügbar sind. Und will man wirklich ehrlich sein, kann man auch die Anziehungskraft nicht verleugnen, welche Institutionen, in denen ein vor herkömmlichen Ansprüchen an ein “geglücktes Leben” freier Raum existiert (wie etwa dem, eine sexuelle Beziehung zu einer erwachsenen Frau zu unterhalten) auf manche Menschen haben müssen. Man kann davon ausgehen, daß religiöse Institutionen deshalb eine gewisse Sogwirkung auf homosexuelle Männer und Frauen ausüben, ebenso auf Menschen, die entweder eine eigene Mißbrauchsvergangenheit haben und deshalb einst ein vor Sexualität geschütztes Umfeld suchten, aber auch solche, die Mißbrauchserfahrungen autoritärer Art machten und massive Selbstwertprobleme haben. Wer sich aber selbst als schwach erlebt oder tatsächlich eine schwache Persönlichkeit ist, in dem wächst leicht der Wunsch, auch einmal der Stärkere zu sein und dieses Gefühl in einer Weise auszuleben, in der er existierende Machtgefälle ausnützt. Noch einmal: all dies sind größtenteils völlig unbewußt ablaufende Prozesse und Emotionen, die gerade im Dunkel von Denkverboten und Tabus gut gedeihen.
Insofern scheint mir zusätzlich auch ein offenerer und weniger tabubestimmter Umgang mit Sexualität in den Institutionen, ja in der Gesellschaft an sich notwendig. Auch erotische Gefühle zwischen “Erwachsenen” und “Kindern” (die Anführungszeichen sollen die Schwierigkeiten der Grenzziehung unterstreichen) müssen sowohl in Berufen, in denen es “Helfer” und “Anvertraute” gibt, als auch in unserer Gesellschaft, artikulierbar werden. Es muß darüber gesprochen werden können, ohne, daß man sich “verdächtig” macht und einen die Berufslaufbahn gefährdenden Schlag mit der moralischen Keule riskiert. Denn erst wenn Menschen über ihre Gefühle ohne Einschränkung sprechen können und es keine der menschlichen Lebensrealität widersprechenden Dogmen mehr gibt, ist es möglich, sich über potenziell destruktive Gedanken offen auszutauschen. Erst dann kann man das, was einem auf der Seele liegt, ans Tageslicht lassen, wird man es wagen, sich Hilfe und Stärkung zu suchen. Ein Ja zum Menschen – das sich viele Religionen gerne auf die Fahne schreiben – das muß auch das Ja zu seiner Sexualität einschließen!
(Lesetipp zu den Kämpfen zwischen “Über-Ich”, dem bewußten “Ich” und dem “Es”: Sigmund Freud, “Das Ich und das Es“; Photo: Shutterstock)